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Es ergab sich das Gespräch mit einem älteren Genossen, der wohl die 60 schon überschritten hatte. Ich war interessiert an der Geschichte des westdeutschen Kontextes, in welchem er aktiv war. Spannend zu hören, dass phasenweise wirklich tausende Jugendliche und junge Erwachsene in den 70er, 80er Jahren auf die Straße gegangen sind, um Räume zu erkämpfen, von denen heute nur noch einige für Bewegungen und einige andere als subkulturelle Orte existieren. Dabei wollten sie nicht vor allem oder hauptsächlich derartige Freiräume, aber dies schien offenbar die konkrete, machbare und verbindende Forderung zu sein, welche für welche „die Bewegung“ eintreten und die sie letztendlich auch erkämpfen konnte.
Das rebellische Gefühl ging weit darüber hinaus. So organisierten Leute in diesen Zeiten ohne jedes Rechtfertigungsbedürfnis „Demos gegen alles“. Das Zusammenkommen in Zeiten ohne social media schien Anlass genug, um der allgemeinen Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Die Flyer der Antiautoritären, Autonomen und Anarchist*innen waren dabei durchaus kreativ gestaltet und erschienen phasenweise mehrmals in der Woche. Ganz anders als die im Blocksatz gesetzten gesetzten, akkuraten Flugblätter in Schreibmaschinenschrift, welche K-Gruppen vor den Fabriktoren verteilten, um die Arbeiter*innenklasse zu agitieren.
Die „Autonomen“ – so beschrieb es der Genosse – schienen dabei dem zu ähneln, was heute organisierte „Antifas“ sind – zwar waren sie ernsthaft und strategisch in ihrem Denken, aber eine Einbettung ihrer Aktivitäten in eine umfassende Gesellschaftsanalyse, -kritik oder gar der Ausarbeitung konkret-utopischer Alternativen lag ihnen fern. Alkohol spielte auch eine starke Rolle als sozialer Kitt. Mann nahm es nicht so ernst mit politischer Korrektheit. Das Aufkommen feministischer Debatten und Ansprüche in den 80er und 90er Jahren führte zu starken Verwerfungen. Viele Punks und andere Männers wussten nichts mit Selbstreflexion anzufangen und nahmen Kritik an ihrem Verhalten persönlich.
Darüber hinaus, wäre der Begriff „Radikalität“ in diesen Zeiten auch ganz anders besetzt gewesen. Während heute harmlose Aktionen des zivilen Ungehorsams gleich als „extremistisch“ bezeichnet werden – konnte man damals relativ selbstbewusst damit umgehen, sich als „radikal“ zu verstehen. Denn auch die bürgerliche Presse schrieb – trotz ihrer klaren Grenzziehung – von den Aktionen und Bestrebungen „der“ Radikalen. Extremisten waren hingegen die RAF – die wiederum nichts mit dem Anarchismus zu tun hatten.
Zumindest einen Grundrespekt vor abweichenden politischen Einstellungen, sollte daher heute wiedergewonnen werden. Dabei ist es augenscheinlich etwas völlig anderes, wenn sich ein Fascho menschenverachtend äußert und nach konkret einen Systemumsturz anstrebt, als wenn Linksradikale oder Anarchist*innen Kritik formulieren, für ihre Überzeugungen eintreten und dabei auch zur Debatte stellen, was als „legitim“ gilt. In diesem Sinne wäre es schön, die alte Radikalität neu zu entdecken und sich nicht vom Sprachgebrauch der Politiker*innen und der Idiotenpresse dumm machen zu lassen.
Quelle: Paradox-a.de