April 9, 2022
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Autonomie | Selbstermächtigung | Kommunismus
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Solidarität als Ideologie: Die „freie Welt“ gegen „Putins Russland“

Solidarität als Ideologie: Die „freie Welt“ gegen „Putins Russland“

Thu, 31 Mar 2022 15:06:54 +0000

Solidarität als Ideologie: Die „freie Welt“ gegen „Putins Russland“

Emanuel Kapfinger, Berlin

Am 24. Februar wachte Europa mit einer Nachricht auf, die kaum jemand für möglich gehalten hatte: Es gebe „erstmals“ seit 1945 wieder Krieg auf europäischem Boden. Entsetzen ergriff die Menschen angesichts der Bilder des Schreckens: Durch die Ukraine rollende Panzerbataillone, zerbombte Wohnhäuser, in U-Bahn-Schächten ausharrende Menschen. Sie entfachten eine Welle der Empathie, die eine überwältigende Hilfsbereitschaft in der europäischen Bevölkerung hervorrief.

Am selben Tag noch sprangen aber auch die ideologischen Apparate an und speisten das Entsetzen, die Empathie und die Solidarität in eine Ideologie der „freien Welt“ ein. Es waren „wir“, die mit der Ukraine angegriffen wurden. Binnen weniger Stunden konstituierte sich eine dichte, von der Realität entrückte Ideologie-Blase, die mit harten moralischen Bandagen eine militärische Antwort der NATO einforderte. Bald kamen die ersten Stimmen auf, die die Wiederaufrüstung Deutschlands forderten, die am darauffolgenden Sonntag von der Regierung beschlossen und vom Parlament bejubelt wurde. Wer nun noch auf friedenspolitisch informiertem, bedachtsamem Handeln bestand oder gar die imperialistischen Bestrebungen des Westens kritisierte, den traf die Verurteilung, Unterstützer Putins zu sein und den Krieg mitentfacht zu haben.

Ein Angriff auf uns alle

Russlands Angriff auf die Ukraine wird von der Öffentlichkeit der europäischen Staaten als Angriff auf „uns“ empfunden und als Angriff auf die „freie Welt“ verurteilt. Obwohl die Ukraine zuvor eigentlich als einer dieser kaputten, postsowjetischen Staaten am östlichen Rande Europas galt, von dem unklar war, inwiefern er zum Westen gehört, empfinden seit dem Angriff die überwiegenden Teile der europäischen Bevölkerung die Ukraine als Teil der „freien Welt“.

Auf der anderen Seite wird nicht Russland, sondern Putin als der eigentliche Aggressor dargestellt: Putin marschiere in der Ukraine ein, Putin bombardiere ukrainische Wohnhäuser, Putin sei das Leben der ukrainischen Bevölkerung egal, Putin hasse und zerstöre eine „Demokratie“. Für das staatliche Handeln Russlands steht stellvertretend der „verrückte“ Autokrat Putin, der sein Volk in einen Krieg ziehe, den es gar nicht wolle.

Diese prowestliche und antirussische Ideologie mobilisiert seither große Teile der europäischen Bevölkerung zu einer doppelten ideologischen Praxis: zur Solidarität mit dem ukrainischen Staat, der gar nicht von seiner Bevölkerung unterschieden wird, und damit verkoppelt zur Verurteilung Russlands, oder eigentlich Putins, und dann doch wieder ganz Russlands.

Die Freiheit in der Ukraine verteidigen

Die Solidarität ist einesteils symbolisch: Sie wird auf Massendemonstrationen, im Hissen der ukrainischen Flagge auf öffentlichen Gebäuden und ihrer Darstellung in Facebook-Profilen, im Teilen des Hashtags #StandWithUkraine – sogar auf U-Bahn-Fahrplänen – bekundet. Zahlreiche Institutionen und Unternehmen äußern öffentlich, dass sie den Kampf der Ukraine „für Freiheit, Demokratie und Unabhängigkeit“ unterstützen. Die Solidarität ist aber auch materiell: In großer Anzahl engagieren sich Menschen in Spendenkampagnen, besorgen Medikamentenlieferungen, organisieren Flüchtlingstransporte.

Diese Solidarität hilft in ehrlicher Empathie den Menschen und ist zentral, um das Kriegsleid zu lindern. Zugleich ist sie etwas ganz anderes, denn sie ist nicht einfach nur durch die Empathie für das Leiden der Menschen motiviert, sondern weil die Ukrainer*innen zu „uns“ gehören, weil Europa, und damit in gewisser Weise auch „wir selbst“, angegriffen werden. Es sind ja diesmal „echte Flüchtlinge“ (Marc Felix Serrao in der NZZ), anders als zum Beispiel bei den Tausenden, die bei der Flucht übers Mittelmeer ertrinken.

„Wir“ sind mit der Ukraine solidarisch, weil „die Freiheit“ bedroht ist. Die Solidarität mit den konkreten Menschen hebt sich von sich selbst ab und wird zu ihrem Gegenteil, zur Solidarität mit den abstrakten Ideen der Freiheit und der ukrainischen Nation, gleichgültig, wie es den Menschen dabei geht. Dadurch ist die Solidarität zugleich sehr selektiv: Sie richtet sich nur an als „echte“ Ukrainer*innen geltende Menschen, nicht an Migrant*innen in der Ukraine und schon gar nicht an Muslima und people of color. Diese Willkommenskultur ist reale Solidarität, ist aber als solche zugleich eine Willkommensideologie.

Zwar fängt diese Ideologie damit an, mit dem Leid der Menschen in der Ukraine zu empfinden. Aber daraus zieht sie den eigenartigen Schluss, dass „die Freiheit“ in der Ukraine angegriffen wird und „wir“ mithelfen müssen, um sie zu verteidigen. Sie lädt das Leid der Ukrainer*innen mit der abstrakten Idee der Freiheit auf. Die Solidarität mit den Ukrainer*innen ist daher zynisch: Es geht um die betroffenen Menschen nur insofern, als es um „die Freiheit“ geht. Dabei ist diese „Freiheit“ nur das freundliche Antlitz der kapitalistischen Klassenherrschaft im Westen und der imperialistischen Vorherrschaft des Westens über den Rest der Welt.

Diese Zweischneidigkeit zeigt sich auch daran, dass man zur Empathie verpflichtet wird. So hat Gregor Gysi Sahra Wagenknecht ihre Empathielosigkeit vorgeworfen. Wem man keine Empathie ansieht, der wird als empathielos verurteilt. Die Empathie wird damit aber eine zur Schau gestellte Betroffenheit, die wiederum etwas anderes bedeutet, nämlich, dass die Europäer*innen sich wechselseitig ihrer Sensibilität und ihres moralischen Edelmuts versichern. Wer moralisch integer ist, der spürt Empathie – was tatsächlich heißt: der stellt Empathie öffentlich aus, gleich, was daraus folgt und wem sie wirklich hilft, und gleich, ob er sie wirklich spürt oder nicht.

Solidarität heißt Waffenlieferungen

Den militärischen Beistand hat die europäische Öffentlichkeit lange mit Nachdruck gefordert, bevor die Regierungen ihn in substanziellem Ausmaß beschlossen haben. Nun kann man mit vielen guten Argumenten gegen den militärischen Beistand sein, da er unter anderem die Gefahr eines Atomkriegs steigert. Doch diesen Argumenten wird mit Fragen begegnet: Du bist gegen Waffenlieferungen? Willst du also den Menschen nicht helfen? Willst du die Leute in der Ukraine sterben lassen? Soll es Schule machen, dass man sein Nachbarland überfallen kann, wenn einem die dortige Regierung nicht gefällt?

Es sind rhetorische Fragen, die keine Alternative zulassen. Man kann ja nicht antworten: Ja, ich will, dass die Leute sterben. Diese Fragen lassen nur eine einzige Antwort zu und sind daher vorweg schon entschieden: Solidarität heißt, Waffen zu liefern, eine Flugverbotszone einzurichten und die Ukraine in EU und NATO aufzunehmen. Die Ideologie setzt Solidarität also mit militärischem Beistand gleich und duldet keine Alternativen dazu.

Was aber, wenn die Waffenlieferungen gar keine Menschenleben retten, sondern nur das ukrainische Militär dazu befähigen, die militärische Auseinandersetzung gegen die russische Übermacht in die Länge zu ziehen? Um der Unabhängigkeit der ukrainischen Nation willen – eines ideologischen Konstrukts – und um der Souveränität des ukrainischen Staats willen – eines seit 2014 Krieg führenden, repressiven Herrschaftsapparats mit einer rechtsliberalen und sich offen faschistischer Kräfte bedienenden Regierung – ist diese merkwürdige Solidarität bereit, zig Menschenleben zu opfern. Man kann, wenn man eine Beziehung zu Waffenlieferungen an progressive Akteure herstellt – wie an die kurdische Autonomiebewegung – diskutieren, ob es staatsunabhängige Milizen gibt, an die Waffenlieferungen gehen, oder, inwieweit gezielte Waffenlieferungen an bestimmte gesellschaftliche Gruppen Leben oder Infrastruktur schützen könnten, auch, inwiefern unter gegenwärtigen Bedingungen solche Lieferungen am ukrainischen Staat vorbei überhaupt möglich sind. Aber um solche Feinheiten geht es dieser ideologischen Solidarität gar nicht, eben weil es ihr um Staat und Nation geht. Wer gegen den militärischen Beistand ist, dem wird sogleich vorgeworfen, ein Helfershelfer Putins zu sein und den Krieg mit zu ermöglichen.

Durch nichts zu rechtfertigen“

Russland sei nämlich auf Gedeih und Verderb zu verurteilen. Nicht für den Angriff, sondern überhaupt. Das wird seither auf breiter Ebene praktisch durch Beziehungsabbrüche und Russenhass auch getan. Eine Vielzahl von Konzernen und zivilgesellschaftlichen Institutionen hat ihre Kooperationen mit russischen Akteuren abgebrochen. Aus der Bevölkerung heraus werden Russ*innen körperlich angegriffen, russische Waren boykottiert, die Behandlung russischer Patient*innen abgelehnt. Unternehmen, Zivilgesellschaft und Bevölkerung werden hier also kollektiv politisch aktiv und meinen, so an den Sanktionen gegen Russland teilzunehmen. Dass sich diese „Sanktionen“ gar nicht gegen den russischen Staat richten, sondern die russische Gesellschaft treffen, die man andererseits als „russisches Volk im Widerstand gegen den Autokraten Putin“ glorifiziert, dieser Widerspruch kümmert da nicht weiter. Was diese „Sanktionen“ daher tatsächlich vollbringen können, sind eher antiwestliche Ressentiments in Russland und ein Zusammenrücken des „Volkes“ mit der Staatsführung als ein Einlenken derselben in der Kriegsfrage.

Weil der Abbruch solcher Kooperationen offensichtlich kaum eine solche Wirkung auf die Kriegsfrage zeitigen wird, kann diese nur ein vordergründiges Motiv darstellen. Eigentlich geht es um Moral: Es gehört sich nun mal nicht, bei Russen zu kaufen oder mit Russen zu tun zu haben. Die Wucht dieser Moral bekommt zurzeit auch der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder zu spüren. Man muss diesen Menschen, der den ersten Krieg der Bundeswehr und Hartz IV zu verantworten hat, nicht mögen. Aber es lag sicher nicht in seiner Absicht, dass Russland in der Ukraine einmarschiert. Eigentlich geht es in der Kampagne gegen ihn (unter anderem ein mittlerweile angestrengtes Parteiordnungsverfahren) um Kontaktschuld: Gerhard Schröder gehört zu den Bösen, weil er mit ihnen befreundet ist. Dass Millionen deutsche Haushalte weiterhin mit russischem Gas heizen, scheint da nicht weiter aufzufallen.

Versucht man, Russland nicht einfach zu verurteilen, sondern sein Handeln aus seinen Interessen heraus zu erklären – und verweist dabei auch auf das vorherige Handeln der NATO, durch das sich Russland bedroht sah –, so wird man als „Putin-Versteher“ zur Rechenschaft gezogen. Man rechtfertige Putins „durch nichts zu rechtfertigenden“ Angriffskrieg. Das Anliegen, in friedenspolitischer Absicht nach einer Erklärung zu suchen, wird nicht als Erklärung, sondern als Rechtfertigung wahrgenommen – und damit als unverzeihlicher moralischer Lapsus.

Warum kann diese Erklärung nur durch die moralische Brille wahrgenommen werden? Weil in ihr das Handeln der NATO zu den Vorbedingungen des russischen Angriffs gerechnet wird. Doch die NATO ist innerhalb der aktuellen Ideologie per definitionem das Verteidigungsbündnis der freien Welt. Sie habe in ihr keine imperialistischen Interessen, sondern verteidige die Menschenrechte und die Freiheit. „Die NATO hat Putin nie bedroht“, sagte Friedrich Merz im Bundestag. Es ist der Kern „unserer“ kollektiven Identität, dass der Westen und damit die NATO eben nicht imperialistisch, sondern nur im Namen der Freiheit und des Friedens agiere. Ausgerechnet den Linken und den friedenspolitisch Aktiven wird hier die Mitschuld für den Krieg aufgeladen, und nicht denjenigen Hetzern im Westen, die die NATO unbedingt bis auf die Ukraine ausdehnen wollen und schon seit Monaten gegen Russland ideologisch mobil gemacht haben.

Ein neuer Burgfrieden?

Empathie und Solidarität wurden nach Kriegsbeginn nicht nur mit ihrem Gegenteil aufgeladen, sondern bald auch tatsächlich etwas anderes, nämlich ein Instrument für die ideologische Mobilisierung für die Aufrüstung Deutschlands und die Einstimmung auf mögliche zukünftige Kriege der NATO mit Russland. Am 27. Februar, nur drei Tage nach dem Angriff, hatte die Bundesregierung die erhebliche Aufrüstung der Bundeswehr beschlossen, durch die sie das drittstärkste Militär der Welt werden wird.

Es sind wieder rhetorische Fragen, durch die das alles legitimiert wurde: Du willst der Ukraine wirksam helfen? Also musst du sie militärisch supporten. Das können wir im Augenblick aber nicht. Du willst Deutschland und die Freiheit in Deutschland verteidigen? Auch das können wir nicht. Also müssen wir uns wehrfähig machen und aufrüsten.

Unmittelbar nach Kriegsbeginn hat sich in Deutschland ein politischer Wille entwickelt, der durch alle politischen Lager (außer vielleicht der Linkspartei) hindurchging und die Parteien sofort über ihre politischen Differenzen hinwegsehen ließ. Die größte Oppositionspartei CDU hat sofort erklärt, die Regierung bei dem gigantischen Aufrüstungsprogramm von 100 Mrd. €, einem zusätzlichen militärischen Sonderetat, zu unterstützen. Ihr Vorsitzender Friedrich Merz erklärte, er werde da „nicht im Kleinen herummäkeln“.

Das erinnert unselig an Kaiser Wilhelms II. „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Es ist in gewisser Hinsicht ein solcher politischer Burgfrieden. Allerdings stimmt die historische Analogie nur ungefähr: Der Burgfrieden betraf damals ja vor allem die SPD in der Opposition, die zuvor internationalistisch und auf Überwindung des Kapitalismus und damit auch der kaiserlichen Herrschaft ausgerichtet war. Von der CDU war dagegen eher nicht zu erwarten, dass sie sich gegen Aufrüstung einsetzen werde. Darüber hinaus ging es beim Burgfrieden um den Kriegspatriotismus Deutschlands, in der jetzigen Ideologie geht es um den militärischen Beitrag der europäischen Staaten zur NATO, sie ähnelt daher eher der Ideologie des Kalten Kriegs und der Ideologie des „Clash of Civilizations“ zwischen Islam und Abendland: hier die moralisch erhabene freie Welt, dort der dämonische Widersacher Russland.

Doch gerade diese Aufrüstung dreht an der Rüstungsspirale und steigert die Kriegsgefahr ungemein; sie ist ein Spiel mit dem Feuer. Die Hochkonjunktur der prowestlichen Ideologie liefert dieser brandgefährlichen Politik eine von rechts bis links reichende lärmende Massenbasis. Auch wenn dieses Spektakel so laut tönt, so dicht ist, dass mäßigende, warnende Stimmen gegen den Krieg schon jetzt nur mehr schwer dagegen ankommen, ist nichts wichtiger, als sich antimilitaristisch und revolutionär zu organisieren, um das trotzdem zu schaffen!

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Das Attentat auf Airey Neave

Das Attentat auf Airey Neave

Tue, 29 Mar 2022 18:05:35 +0000

Das Attentat auf Airey Neave

In der Neujahrserklärung der Irish National Liberation Army (INLA) von 1979 hieß es trotzig: „Die Strategie der INLA wird darauf ausgerichtet sein, dass der Imperialismus und seine Agenten die Vergeblichkeit ihrer Politik, unserem Volk großes menschliches Elend zuzufügen, erkennen“. Die 1974 von Seamus Costello gegründete republikanisch-sozialistische Organisation enttäuschte nicht.

Am 30. März 1979 führte die INLA eine der spektakulärsten Militäroperationen des noch nicht beendeten Kampfes für nationale Befreiung und Sozialismus durch. Noch beeindruckender ist, dass diese Operation im Herzen der imperialistischen Bestie, im Palace of Westminster in London, durchgeführt wurde.

Zielscheibe des INLA-Spektakels war der Falke der Konservativen Partei, Airey Neave MP, Schattenminister für die besetzten sechs Grafschaften und enger Berater von Tory-Chefin Margaret Thatcher. Als ehemaliger Angehöriger der britischen Armee und Tory-Sprecher für Irland vertrat Neave seit langem die Auffassung, dass der irische Republikanismus nur durch einen totalen Krieg besiegt werden könne.

Als am 28. März 1979 ein Misstrauensvotum die britische Labour-Regierung zu Fall brachte, wurde weithin erwartet, dass die Tories an die Macht kommen würden und Neave infolgedessen höchstwahrscheinlich britischer Außenminister in den besetzten sechs Grafschaften werden und seine Politik des totalen Krieges gegen die irische Revolution umsetzen könnte.

Die INLA beschloss zu handeln. Am 30. März 1979 verschafften sich INLA-Volunteers Zugang zur Tiefgarage des House of Commons. Versteckt in einem Werkzeugkasten trugen die Volunteers eine 16-Unzen-Bombe mit einem Quecksilber-Kippschalter bei sich. Diese wurde an der Bodenplatte unter dem Fahrersitz von Neaves Auto befestigt. Die ausgeklügelte Konstruktion der Bombe ermöglichte es, dass sie explodierte, wenn sich das Quecksilber aus der waagerechten Position bewegte. Nachdem die Volunteers den Sprengstoff erfolgreich angebracht hatten, machten sie sich auf die Flucht.

Kurz vor 15 Uhr kehrte Neave zu seinem Auto zurück. Als er die Rampe des Parkplatzes des Unterhauses hinauffuhr, löste die Schräglage die Bombe aus und sie explodierte mit verheerender Wirkung. Ein hochrangiger britischer imperialistischer Scharfmacher war von republikanischen Sozialisten außer Gefecht gesetzt worden.

Das Attentat auf Neave war ein großer Propagandaschub für die INLA und den gesamten Krieg für nationale Befreiung und Sozialismus. Die Operation sorgte für internationale Schlagzeilen und setzte die fortwährende koloniale Rolle Großbritanniens in Irland fest auf die Tagesordnung. Die Operation zeigte auch, dass die obersten britischen Imperialisten nirgendwo sicher waren. Solange sie Irland besetzt hielten.

Im August 1979 gab die INLA gegenüber dem Starry Plough Newspaper, dem Organ der Irish Republican Socialist Party, eine Erklärung ab, in der die Bedeutung der Operation treffend beschrieben wurde. Darin heißt es: „Im März bekam der pensionierte Terrorist und Befürworter der Todesstrafe, Airey Neave, eine Kostprobe seiner eigenen Medizin, als eine INLA-Einheit die Operation des Jahrzehnts durchführte und ihn im ‚uneinnehmbaren‘ Palace of Westminster in die Luft sprengte. Die widerliche Margaret Thatcher schluchzte im Fernsehen, er sei ein ‚unkalkulierbarer Verlust‘ – und das war er auch – für die britische herrschende Klasse.“


Der Artikel ist zuerst auf Englisch in der Ausgabe #4 des sozialistischen Magazins An Spréach erschienen und wurde mit freundlicher Genehmigung der irisch-republikanischen Gruppe Lasair Dhearg übersetzt und veröffentlicht.

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Die Moralismus-Falle

Die Moralismus-Falle

Sun, 13 Mar 2022 18:11:25 +0000

Die Moralismus-Falle

Von Vidar Lindström

Linke Politik hängt in der Moralismus-Falle fest. Die Ursachen dafür sind struktureller Natur; aufschlüsseln lässt sich dies sehr gut an den Beispielen Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg.

Ginge es nach zahlreichen Akteuren – wie der „Friedensbewegung“, die keine ist – hätte bereits vor Jahren jede Beziehung zu Russland eingestellt und viel härter auf dessen Krieg reagiert werden müssen. So in etwa propagiert das Fridays For Future Deutschland. Dabei scheinen die Moralisten vergessen zu haben, was wirklich Frieden schafft. Waffenlieferungen jedenfalls nicht, sie ziehen den Krieg nur in die Länge. Frieden wird vor allem durch ökonomische, politische und kulturelle Kooperation geschaffen und gefördert. Zu denken, dass Deutschland – als imperialistische Nation – durch eine aggressive Politik Frieden herstellen könne, ist ein Irrglaube und historisch nur allzu oft widerlegt worden. Ein Land kann nur aus sich heraus demokratischer werden, nicht durch Zwang von außen. Diesen Zwang von außen scheinen viele sich jetzt zu wünschen und für die einzige erfolgversprechende Option zu halten. Im Endergebnis fördert eine solche Politik vor allem den nationalen Chauvinismus.

Auch Russland ging einst den Weg der Demokratisierung. Die aggressive außenpolitische Strategie der USA, die korrupten Machtcliquen und die kaum konkurrenzfähige russische Wirtschaft, die regelmäßig in die Krise gerät, haben die autoritären Kräfte jedoch gestärkt und diesen Prozess beendet. Im Westen gibt es ebenfalls eine reaktionäre Trendwende, wie der immer krisenhafter und zugleich immer autoritärer werdende Neoliberalismus beweist. Lediglich sind hier die Nationalökonomien – zumindest in den imperialistischen Zentren – allerdings noch stark genug, um derartige Krisen sozial abfangen zu können, so dass Menschen zumindest überleben können, ohne Aufstände wie in Griechenland oder Frankreich anzufangen. Die Moralisten jedenfalls schlagen jetzt in dieselbe Kerbe wie manche NATO-Strategen und sind überzeugt, dass nur noch Zwang hilft – selbst wenn das gesamte russische Volk in den Ruin getrieben oder der Ukraine ein langwieriger Krieg aufgedrängt wird.

Während der Corona-Pandemie konnten wir sehen, wozu der zu politischer Analyse unfähige Moralismus führt. Durch moralischen Druck wird eine feindselige Atmosphäre geschaffen, um all diejenigen, die von den Wertvorstellungen des Bürgertums – und dieser Mist ist vor allem im Bürgertum beliebt – abweichen und sich deren Kontrolle entziehen, zu sanktionieren. Die gesamte Linke, bis auf die wenigen, immer gleichen Ausnahmen, ist in ein derart aggressives Verhalten verfallen, dass über einen langen Zeitraum hinweg jede abweichende Meinung von der Staatspropaganda (und das RKI als Staatsinstitut gehört dazu) mit unaufhörlichen Angriffen überzogen wurde. Wo man selbst die Wissenschaftsfeindlichkeit beispielsweise der Querdenker angegriffen hat, ist man selbst oft in einer ideologisierten Vorstellung von Wissenschaftlichkeit verblieben. Die Linke hat einmal mehr bewiesen, dass sie nicht auf der Seite der einfachen Menschen steht. Im ersten Jahr der Pandemie wurde so jede ernsthafte Opposition von links verhindert. Die notorische Ratlosigkeit der Linken gegenüber Krisen und der plötzliche Gehorsam gegenüber den Herrschenden haben ein Übriges dazu getan.

Dieses aggressive Grundmuster der Moralisten entspringt dem Bedürfnis, Geschehnisse zu kontrollieren, denen sie ohnmächtig gegenüberstehen. Man täuscht sich selbst Handlungsfähigkeit vor, und Störungen dieser Fake-Realität ärgern sie, weil es ihre mühsam hergestellte Ordnung durcheinanderbringt. Aus Grundgesetz-Ultras wurden Drosten-Ultras und jetzt Baerbock-Ultras. Irgendeiner muss stets die Meinung vorgeben, der sich unwidersprochen zu unterwerfen ist. Diese Angst vor der Realität konnte auch 2015 beobachtet werden, als Versuche, die Ursachen für Flucht und Vertreibung im globalen Kontext imperialistischer Ökonomie als Angriffspunkt gegen die herrschende Politik zu formulieren, mit dem Verweis auf das Leid der Flüchtenden abgetan wurde. Es muss geholfen werden, alles andere ist nebensächlich. Diese Fixierung auf einen Aktivismus ohne grundlegende Kritik hat dazu geführt, dass den deutschen Verantwortlichen für dieses Leid der Rücken gestärkt wurde. Zudem konnten diese staatliche Aufgaben an Ehrenamtliche delegieren, die den neoliberal schlanken Sozialstaat in ihrer Freizeit unentgeltlich kompensieren. Zynischerweise hat man sich nicht lumpen lassen, dies als „Sommer der Migration“ zu labeln.

Das aktivistischen Milieu liebt derartige Phrasen, weil man sich in einem um sich selbst drehenden Aktivismus alle paar Monate mit irgendeinem neuen Thema wichtig fühlen kann. Irgendwas muss der eigenen belanglosen Existenz immer wieder eine neue Bedeutung geben. Da macht sich gar bei Linken die eigene christliche Sozialisation bemerkbar, von der sie glauben, sich ihr entzogen zu haben. In solcherart Aktivismus muss niemand wirklich Konsequenzen auf sich nehmen oder auf dem Boden der Tatsachen agieren. Wer keinen Bock mehr hat, geht, und mit der eigenen Lebensrealität hat das meist auch nicht viel zu tun, warum also für irgendetwas Substanzielles kämpfen?

Den Klassiker kennen wir alle, mit 30 sind die meisten raus. Nach einer ach so rebellischen Adoleszenzphase, grüßt der Ernst des Lebens; Lohnarbeit und familiäre Verantwortung warten. Zumeist ist dies heutzutage eine Phase, in der postmoderne und idealistische Ideologien in die Linke getragen und linke Positionen verwässert werden. Selten wird etwas Nachhaltiges aufgebaut, etwas, das perspektivisch und strategisch gedacht wird. Strukturelle Ungerechtigkeiten sind meistens nur Themen, die andere betreffen, nie einen selbst. Dass dies nur allzu selten stimmt, zeigt der Blick in die Lebensrealität vieler Linker. Weil man da aber „eh nichts tun kann“, beschäftigt man sich wieder mit der Lebensrealität und den Ungerechtigkeiten, denen andere ausgesetzt sind. Das hat selten etwas mit Empathie oder Solidarität zu tun, dafür meistens etwas mit Ablenkung von der eigenen Ohnmacht und der moralischen Selbstvergewisserung, auf der richtigen Seite zu stehen.

So kommt es, dass Moralisten in ihrem Drang nach Ordnung regelmäßig den Staat anflehen, doch bitte endlich was zu unternehmen, gegen diese elendige Unordnung, gegen diese Verbrechen. Dabei ist offensichtlich, dass dies ein Ruf nach Führung und Härte, nach Autorität ist. Man weiß natürlich, dass die Polizei ein strukturell rassistischer Verein ist, der am liebsten auf Linke draufhaut, aber die sollen doch jetzt endlich mal diesen Querdenkern eine überziehen. Bei Liberalen wird diese Widersprüchlichkeit ganz offen ausgelebt, ohne je irgendetwas davon hinterfragt zu haben, unabhängig davon, wie offensichtlich der Widerspruch auch sein mag. Linksradikale Moralisten sind da meistens bedachter und pflegen ihre klammheimliche Freude am Unrecht, dass jetzt endlich mal anderen angetan wird. Ebenso will man nichts davon wissen, dass Deutschland, wie jede imperialistische Nation, zur Großmacht strebt, obwohl dies im historischen Gedächtnis seinen Platz hat. Was soll einen also davon abhalten, auf die Straße zu gehen und Flugverbotszonen oder militärischen Expansionismus, zumeist gekleidet in dieselben humanitären Phrasen, die insbesondere die NATO für ihre Kriegsverbrechen kultiviert hat, zu fordern, um die Ukrainer vor Russlands Krieg zu beschützen? Irgendjemand muss ja für Ruhe und Ordnung sorgen und das historische Gedächtnis ist besonders bei Liberalen ohnehin nur Verhandlungssache. Opportunismus wie eh und je.

Linke und Liberale verschmelzen, wie es schon bei den Antideutschen und den Anhängern der postmodernen Ideologien der Fall war, erneut zu einem Einheitsbrei, dessen Forderungen oftmals weitaus aggressiver sind, als das, was sich die deutsche Bourgeoise selbst als machbare Option ausdenkt. Wer diesen Weg geht, muss logischerweise auch seinen Counterpart bekämpfen. Antiimperialistische Linke, die seit eh und je vor diesen Konflikten warnen, stehen im Dauerfeuer der Kritik. Von der Historie solcher Konflikte will der Moralist nichts wissen, ebenso wenig vom Imperialismus überhaupt. Dennoch ist kaum verwunderlich, dass diejenigen, die seit Jahrzehnten antiimperialistische Position attackieren, plötzlich wieder von Imperialismus reden, weil Imperialismus hier plötzlich als starkes Schlagwort der Zurechtlegung der eigenen Ideologie dienlich ist, der Imperialismus ja „woanders“ auftritt und den Feind im Osten markiert. Den „Antiimps“ dichtet man kollektiv eine Russland-Nähe an, um eine grundlegende Kritik am Weltgefüge von vornherein zu diskreditieren. Dass Russland imperialistische Ambitionen hat, ist für die meisten Antiimperialisten so wenig überraschend wie die Nicht-Existenz des Weihnachtsmanns. Da Moralisten aber unfähig sind, irgend etwas außer einer Gut/Böse-Dichotomie zu erkennen, soll von der NATO nicht mehr als imperialistischem Akteur geredet werden. Wer es dennoch wagt, dem wird mit dem Vorwurf des „Whataboutism“ begegnet, welcher zum ideologischen Kampfbegriff für all diejenigen geworden ist, die nichts mehr begreifen wollen. Die Rolle des Guten muss eben auch besetzt werden, und wenngleich Linke zumeist noch nicht so weit gehen, jetzt offen die NATO in diese Position zu setzen (Ausnahmen dürften aktuell Beiträge der Rosa-Luxemburg-Stiftung sein, Teile von Fridays For Future und einige ehemalige antideutsche Gruppen), so tun sie es eben doch indirekt. Nicht umsonst wird jetzt von Deutschland genau der aggressive Kurs gegenüber Russland gefordert, den US-Präsident Biden bereits seit 2014 proklamiert. Waffenlieferungen und Wirtschaftssanktionen sind plötzlich vielleicht doch nicht so schlecht – dass das nur die imperialistischen Ambitionen Deutschlands stärkt, drauf geschissen. Im Angesicht des Unrechts ist alles erlaubt.

Eine aktive Politik gegen die Aufrüstung und die Großmacht-Ambitionen ist also nicht zu erwarten. Denn wie wir in letzter Zeit lesen können, ist das ganze Gerede vom Hauptfeind, der im eigenen Land steht, einfach altbacken. Wem nützt solch eine Behauptung eigentlich, wenn nicht den Herrschenden in Deutschland, die für die ständige Ablenkung des Protestpotenzials von der eigenen Hemisphäre sicherlich dankbar sind. Glaubt wirklich wer, dass man auf das Geschehen in anderen Ländern real Einfluss nehmen kann? Wie eigentlich, durch Tweets und Instagram-Stories? Viel Spaß bei dieser Aktivismus-Simulation innerhalb der Medien des Klassenfeinds. Diese Art des Aktivismus hat mit dem der Moralisten gemein, dass sie handlungsunfähig ist und dem tatsächlichen Geschehen fern bleibt. Dass Moralisten und Social-Media-Helden oft deckungsgleich sind, ist wohl kaum Zufall.

Veränderung braucht ein handelndes Subjekt, und so, wie es in den letzten Jahrzehnten nur die Arbeiterklasse hätte sein können, die soziale Verbesserungen erkämpft, können es jetzt auch primär nur die Ukrainer und Russen sein, die den Frieden erkämpfen. (Die friedensfördernde Rolle des Internationalismus lassen wir hier mal außen vor.) Das Dilemma moralistischer Kleinbürger ist, dass sie selten selbst zu eben dem Subjekt gehören, dass tatsächlich handlungsfähig werden kann. In der Konsequenz wird Handlungsfähigkeit an den Staat delegiert oder auf die eigentlich handlungsfähigen Subjekte projiziert. Die sollen dann tun, was man selber gerne möchte, ohne jedoch zu berücksichtigen, was deren eigene Interessen sind. Aufrufe an selbige verschallen in der Regel im Nichts. Zugegeben, nicht nur der moralistische Teil der Linken steckt in diesem Dilemma. Diese Kontaktunfähigkeit ist weit verbreitet und verwandelt sich meistens in einen mehr oder weniger offenen (Metropolen-)Chauvinismus der moralischen Saubermänner und -frauen: Diese dummen Proleten, warum machen die nicht, was von ihnen verlangt wird? Insofern man bereit ist, sich im aktivistischen Milieu die eigene Ohnmacht einzugestehen, folgt diesem Eingeständnis oft ein Zynismus, der jegliche politische Analyse mangels Ansprechpartnern einstellt und direkt dazu übergeht, nur noch das soziale Gewissen des Systems zu mimen und erschaffenes Leid durch Hilfsangebote abzufedern. Dadurch werden sie selbst zum Frühwarnsystem der Herrschenden. Dabei wissen wir durch mehr als 150 Jahre Klassenkampf, dass Hilfe ohne eigenständige Analyse der strukturellen Ursachen und ohne strategisch gedachten Kampf dagegen zu eben jenem Daueraktivismus ohne Konsequenzen, dafür aber mit Burnout-Garantie führt.

Für die Herrschenden sind diese Umstände erfreulich. Sie müssen nicht mehr selbst die Verbrechen fordern, diese werden ihnen von den liberalen Moralisten regelrecht aufgezwungen; weist dann jemand auf entstandenes Unrecht hin, kann getrost auf das soziale Gewissen der Nation rückverwiesen werden, dessen Rolle linke Moralisten freiwillig übernommen haben. Ob gewollt oder nicht, schließlich stehen sie, das System schützend, an der Seite der Herrschenden. Demokratie und Meinungspluralismus sind eben doch die überlegenen Systeme. Wir handeln hier im Westen aus moralischer Überlegenheit und nennen das dann wertebasierte Politik.

Doch was soll man machen? Den Moralismus bekämpft man nicht, in dem man die Moralisten bekämpft, sondern dadurch, dass man eine Alternative zur Ohnmacht schafft. Das ist zwar ein eher frustrierender und meist langwieriger Weg, in dem die kleinen Siegesmomente noch rarer sind als beim Daueraktivismus, aber es gibt dazu keine Alternative. Die letzten Jahre haben all die gesellschaftlichen Konfliktfelder, den sich verschärfende Klassenkampf von oben, die Kriegshetze, den patriarchalen und rassistischen Rollback, die Klimakrise, die Wohnungsmisere, das alles vor uns ausgespuckt, so dass es nicht mehr ignoriert werden kann. Wir müssen mit eigener Kraft da rein gehen. In Anbetracht der ideologischen Angriffe auf uns ist ein zentraler Moment, der nicht außer Acht gelassen werden darf, die politische Bildung. Dazu bedarf es Institutionen und Medien jenseits der bürgerlichen, die selbst zu schaffen sind. Nur wer ein klares Verständnis der gegenwärtigen Situation hat, kann ein Programm und eine Strategie entwickeln, die wirkmächtig werden können. Grundlegende Veränderung braucht kluge und geduldige Strategien, die an den realen Belangen der Menschen ansetzen. Der Turn zur Postmoderne in der Linken, mit seinen immer kleiner abgegrenzten Subjektivitäten, weist leider grade in die entgegengesetzte Richtung. Wer Veränderung will, muss die Arbeiterklasse als einziges zur Veränderung fähiges politisches Subjekt stärken und organisieren. Ohne sie siegen Zynismus, Chauvinismus und Ohnmacht.

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Helena Molony: eine Vergessene Frau des Republikanismus

Helena Molony: eine Vergessene Frau des Republikanismus

Mon, 07 Mar 2022 16:39:27 +0000

Helena Molony: eine Vergessene Frau des Republikanismus

Übersetzung Vidar Lindström

Geboren 1883 und früh im Leben zu Waisen geworden, war Molony eine Radikale, die sich der intersektionalen Sache des Feminismus, der Arbeiterbewegung und der nationalen Befreiung verschrieben hat. Ihr politisches Erwachen begann mit neunzehn: „Ich war ein junges Mädchen und träumte von Irland, als ich Maud Gonne eines Abends im August 1903, beim Custom House in Dublin sah und sprechen hörte … Sie hat mich elektrifiziert und mich mit etwas von ihrer Hoffnung erfüllt.“

Von da an schloss sie sich Inghinidhe na hÉireann (Töchter Irlands) an, einer radikalen republikanischen Frauenorganisation die von Maud Gonne geführt wurde, was für deren Anti-Rekrutierungs-Kampagnen gegen die Britische Armee sehr förderlich war.

1908 hat sie Irlands erste nationalistisch-feministische Zeitschrift gegründet, welche Bean na hÉireann (Irische Frau) ein monatlich erscheinendes Magazin herausgab, das ‚Militanz, Separatismus und Feminismus‘ vertrat. Es war beabsichtigt den gälischen Stolz wiederzubeleben, eindringende koloniale Werte zu kontern und Themen wie Mode, Arbeit, Gesellschaft, Kochen, Literatur, Poesie und natürlich Politik zu behandeln. Bean na hÉireann war „das erste Frauenblatt, das alle jungen Männer kaufen“ und wurde als das progressivste Blatt seiner Zeit angesehen.

Helena Molony und Maud Gonne in den 1940ern.

Molony ist verantwortlich dafür viele in die Bewegung gebracht zu haben, besonders Constance Markievicz und Dr. Kathleen Lynn. Es war sogar bei Molony Zuhause, in der Lower Camden Street in Dublin, wo Na Fianna Éireann, der Kadettenverband der Irish Volunteers, am 16. August 1909 von Konstance Markievicz gegründet wurde.

Nachdem sie 1911 ein Gemälde von Georg V während seines Besuchs in Irland verunstaltete, verdiente sie eine Auszeichnung dafür, die erste irische politische Gefangene ihrer Generation zu sein. Sie wurde freigekauft, war jedoch überglücklich, als sie wieder verhaftet wurde, weil sie den König einen Schurken nannte. „Das war fabelhaft, ich fühlte mich in der selben Gesellschaft wie Wolfe Tone“, sagte sie später über ihre kurze Inhaftierung.

Als bekannte Teilnehmerin des Dublin Lockout von 19131, arbeitete sie in der Küche von Liberty Hall2 und nahm an Streikversammlungen teil. Von Beruf Schauspielerin, nutzte sie ihre Theatererfahrung, um die staatlichen Kräfte zu überlisten. Einmal hat sie Jim Larkin als Geistlichen verkleidet, um seinen berühmten Auftritt auf dem Balkon des Imperial Hotel zu ermöglichen. Für Molony hat der Lockout „das ganze Land zutiefst beeinflusst“ und schuf eine „soziale und intellektuelle Revolution“. Im November 1915 ernannte Connolly sie zur Sekretärin der Irish Women Workers‘ Union (irischen Frauengewerkschaft), welche während des Lockouts, beim Streik in der Jacob’s Buscuit Factory, gegründet wurde. Molony hatte den Vorsitz über die Hemdenfabrik der Gewerkschaft in Liberty Hall, die gegründet wurde um Arbeitern, die aus der Arbeit gedrängt und nach dem Streik auf schwarze Listen gesetzt wurden, Arbeit zu geben.

Molony beteiligte sich ebenso engagiert am Osteraufstand von 1916. Während der ersten Monate des Jahres wurde Helena nach London geschickt, um Waffen zurück nach Irland zu schmuggeln. Diese sollten in ihrem Koffer transportiert und dann mit der Fähre nach Hause gebracht werden. Mit dem Abbey Theater ist sie als Schauspielerin mehrere Male nach London gereist und war zuversichtlich, dass sie der Aufgabe gewachsen war. Auf dem Weg zur Euston Station traf sie einen jungen Army-Rekrut, der ihr anbot ihren Koffer für sie zu tragen. Natürlich ließ sie ihn und der Britische Rekrut trug unbeabsichtigt die Waffen den ganzen Weg bis zum Zug.

Wochen vor dem Aufstand beschützte Molony gemeinsam mit James Connolly die Druckerei der Arbeiterkooperative, die nahe der Liberty Hall lag, vor einem RIC3 Überfallkommando.

Der Drucker Chritopher Brady hielt damals fest: „Connolly kam schnell herunter, lief leise zum Schalter mit einer Waffe in seiner Hand. Ein paar Fuß entfernt hat Fräulein Molony die Polizei bereits mit ihrer Automatischen erfasst. Connolly blickte eindringlich zur Polizei und gab ihnen den Befehl: ‚Lasst die Papiere fallen oder ich lass euch umfallen‘ … Daraufhin zogen sie sich schnell zurück.“

Von da an bis zum Aufstand wurde die Arbeiterkooperative zu ihrem Zuhause, sie schlief im Büro auf einem Stapel Mäntel, mit einem Revolver unter ihrem Kopfkissen. Helena Molony wurde die Bewachung der fertigen Proklamationen anvertraut, sobald sie gedruckt waren.

Bevor sie in der City Hall gefangen genommen und in den Baracken in der Ship Street inhaftiert wurde, war sie während des Aufstands selbst an einem gewagten Überfall auf Dublin Castle beteiligt. Sie wurde ins Kilmainham Gefängnis gebracht, wo sie durch die Exekutionen der Anführer des Aufstands, und besonders durch Connollys Exekution, traumatisiert wurde. Nach einem tapferen aber fehlgeschlagenen Versuch sich ihren Weg mit einem Löffel rauszugraben, wurde sie eine von nur fünf Frauen, die gemeinsam mit 2500 ihrer männlichen Kameraden, in ein heruntergekommenes Gefängnis nach England überstellt wurden.

Während des Unabhängigkeitskriegs arbeitete Molony mit Constance Makievicz im Arbeitsministerium. Neben ihres Dienstes als Bezirksrichterin in den republikanischen Gerichten in Rathmines, half sie ebenfalls Michael Collins und Liam Mellows. Getreu der Vision des Aufstands von 1916, verblieb sie im republikanischen Lager und stellte sich während des Bürgerkriegs, gegen den Anglo-Irischen Vertrag4.

Molony kämpfte noch jahrelang gegen den repressiven 26-County Staat, und war während der 1930er aktiv in der Women’s Prisoner’s Defence League und der People’s Rights Association. Im Jahr 1931 gründete sie, zusammen mit Frank Ryan, Saor Éire (Freies Irland), eine radikale sozialistisch-republikanische Organisation, die von den mächtigen Geistlichen massiv bekämpft und später von Fianna Fáil5 verboten wurde. 1937 wurde sie zur Vorsitzenden des Irish Trade Union Congress gewählt und wurde erst die zweite Frau, die das Amt inne hatte.

Helena Molony starb am 26. Januar 1967 an einer Lungenentzündung in Dublin. Sie wurde in der republikanischen Grabstelle auf dem Glasnevin Friedhof beigesetzt.


Der Artikel ist zuerst auf Englisch in der Ausgabe #2 des sozialistischen Magazins An Spréach erschienen und wurde mit freundlicher Genehmigung der irisch-republikanischen Gruppe Lasair Dhearg übersetzt und veröffentlicht.


1„Der Dublin Lockout im Jahr 1913 war die schwerwiegendste soziale Auseinandersetzung in der Geschichte Irlands – eine Aussperrung (lockout) von Arbeitern in Dublin, um die Ausbreitung der Gewerkschaftsbewegung zu verhindern.“ Wikipedia

2Gewerkschaftshaus in Dublin

3Royal Irish Constabulary, britische Kolonialpolizei in Irland.

4„Friedensvertrag“ des Irischen Unabhängigkeitskriegs, der die Spaltung Irlands anerkannte und von vielen Republikanern deshalb abgelehnt wurde.

5Die konservative Regierungspartei.

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Die russische „Bedrohung für Freiheit und Demokratie“

Die russische „Bedrohung für Freiheit und Demokratie“

Sun, 06 Mar 2022 23:25:38 +0000

Die russische „Bedrohung für Freiheit und Demokratie“

Von Alexander Gallus

Alexander Gallus wirft einen genaueren Blick auf die Entwicklungen, die zu den dramatischen Ereignissen letzter Woche geführt haben und bietet einige Erklärungen für ihre Entstehung an. Der Text wurde im Original beim US-amerikanischen Cosmonaut Magazine auf Englisch veröffentlicht und von uns mit freundlicher Genehmigung des Autors übersetzt. Weitere Briefe und Reaktionen auf diesen Text, findet ihr auf der Seite der GenossInnen.


Die jüngste russische Militäroperation gegen die Ukraine hat die Welt kaum überrascht. In den vergangenen Monaten und Wochen wurden wir Zeugen historischer Ereignisse, Momente, die das wahre Wesen der gewaltigen Herausforderungen und der Realität, mit der wir konfrontiert sind, nicht nur im Bereich der internationalen Politik, sondern auch hier bei uns, radikal offenlegen. Seit Monaten wird uns gesagt, es gebe „eine wachsende und unbestreitbare Flut von Beweisen, dass Putin bereit ist, die größte Militäroperation zu starten, die die Welt seit 1945 gesehen hat“. Mit einer in der Tat evidenzfreien Einstimmigkeit und Gleichschaltung der Berichterstattung zur Untermauerung solch haarsträubender Behauptungen haben die gewinnorientierten amerikanischen Mainstream-Medien die totale Degeneration des kritischen Journalismus demonstriert: seinen stetigen Absturz in Übertreibung und die bloße Stenografie für Geheimdienststrategen und den Militärstaat. In einer unglaublichen Aussetzung jeglicher Logik, des gesunden Menschenverstands und der kritischen Analyse wird uns immer wieder gesagt, dass wir einfach nicht wissen können, was „in Putins Kopf vorgeht“, und das trotz der wiederholten lautstarken Bekundungen russischer Sicherheitsbedenken und Forderungen, die in den Verhandlungen während dieser Krise geäußert wurden, sowie den ausführlichen Äußerungen des Kremls1 zu seinen Überlegungen. Letztlich sind es die historischen imperialen und ökonomischen Ambitionen der US-Regierung und der NATO, die militärische Expansion, der nationale Chauvinismus und die zwangsläufige „Andersartigmachung“ ganzer Völker, die zur Rechtfertigung der Fortexistenz der NATO den Kern der letzten acht Jahre offener Spannungen und des Krieges zwischen Russland und der Ukraine bilden.

Während man sich in der Vergangenheit bei anderen ausländischen Akteuren und Staaten wie dem Iran oder sogar dem IS mit der Frage beschäftigte, ob sie „rationale Akteure“ seien oder nicht, wurde diese Frage im letzten Jahrzehnt systematisch vermieden, wenn es darum ging, die Motive der Russischen Föderation zu verstehen. Es wird einfach behauptet, dass man Putin, wenn er den Mund aufmacht, nicht trauen könne, denn, wie wir alle wissen, können Kriminelle niemals legitime Anliegen haben, sondern gehören bestraft. Wie kann man „Mad Vlad“ verstehen? Keiner weiß es! In der Tat bedeutet, im gegenwärtigen politischen Klima diese Frage zu stellen, bereits, ein „Russland-Apologet“ oder Schlimmeres zu sein.

Es wird uns vorgegaukelt, dass der „russische Bär“ einfach nur auf fremde Eroberung aus sei, auf die Wiederauferstehung des Zarenreichs oder sogar der Sowjetunion. Solche Behauptungen werden, trotz der offenkundig konservativ-kapitalistischen Einstellung der regierenden Partei „Einiges Russland“, in einem Vakuum aufgestellt, das die sich verschlechternden historischen Beziehungen zwischen der NATO und dem sich in einer prekären Position befindlichen kapitalistischen Staat Russland im Verhältnis zu seinen westlichen „Partnern“ in den letzten Jahrzehnten leugnet. Putins stolz verkündeter Niedergang des „historischen Russlands“ ist eine objektive Realität angesichts des Zusammenbruchs der Sowjetunion, der Massenprivatisierung und Korruption, der drastischen, wiederholten Wirtschaftskrisen infolge geopolitischer Herausforderungen, der NATO-Erweiterung in Osteuropa, der Stationierung offensiver militärischer Systeme und der Politik der „nuklearen Teilhabe“, der routinemäßigen Testflüge von NATO-Atombombern an der russischen Grenze, der von den USA verhängten Sanktionen gegen Russland usw.

Der Ausstieg der USA aus dem Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen (ABM-Vertrag) im Jahr 2000 hat in den letzten Jahrzehnten erheblich zur Entwicklung der Spannungen und der Aufrüstung beigetragen. Der Thinktank Carnegie Endowment for International Peace sagt dazu: „2018 stellte der russische Präsident Wladimir Putin freudig eine Reihe neuer nuklearer Trägersysteme vor – einen interkontinentalen Hyperschallgleiter, einen nuklear angetriebenen Marschflugkörper und einen nuklear angetriebenen Torpedo – , die er als Reaktion auf den Wegfall des ABM-Vertrags bezeichnete. Die Geschichte scheint ihm recht zu geben.“ Man beachte, dass selbst dieser seriöse Bericht das Bedürfnis aufweist, die scheinbar wahnsinnige, „freudige“ Haltung des russischen Präsidenten zu beschreiben. Trotzdem und ungeachtet der Behauptungen, dass es in Russland keine legitimen Beschwerden gebe, sieht die Realität einfach anders aus. Schon bei den Verhandlungen zwischen dem Westen und der Sowjetunion während des Zusammenbruchs der DDR wurde der sowjetischen und der russischen Regierung wiederholt „kategorisch zugesichert“, dass die NATO „keinen Zentimeter nach Osten“ vorrücken werde.

Offensichtlich geschah dies nicht. Im Gegensatz zu diesen „eisernen“ Zusicherungen, die, wie der Spiegel berichtet, jedem russischen Staatschef seit Gorbatschow gegeben wurden, hat die NATO seither 17 weitere Mitglieder aufgenommen, fast jedes einzelne ehemalige Mitglied des Warschauer Pakts und jede ehemalige Sowjetrepublik in Europa, mit Ausnahme von Belarus, der Ukraine und Russland selbst. Ironischerweise hat auch die Russische Föderation im Jahr 2000 bei Bill Clinton um den Beitritt zur NATO gebeten, wurde aber abgewiesen. Welchen Nutzen hätte ein europäisches Militärbündnis mit nuklearer Abschreckung, abgesehen davon, dass es gelegentlich Kleindiktatoren aus der Dritten Welt stürzen könnte, wenn es nicht einen „Feind“ gäbe, der die Bündnispartner disziplinieren und sein jährliches Militärbudget von mehr als 1,2 Billionen Dollar rechtfertigen würde? Dies ist in der Tat ein Dilemma für das von den USA dominierte nordatlantische Bündnis, insbesondere nach seinen historischen politischen und militärischen Niederlagen im Irak und in Afghanistan.

Die formale Stärke des globalen Hegemons USA hat sich jedoch durch erhöhte US-Militärausgaben und erstaunlich erfolgreiche Propagandakampagnen, mit denen die amerikanische Öffentlichkeit und die Welt davon überzeugt werden sollten, dass Donald Trump durch russische Aggressionen und „Einmischungen“ gewählt wurde – trotz aller kritischen politischen Analysen und gegenteiligen Beweise – stetig fortgesetzt. Noam Chomsky und Edward Herman fassen die amerikanische Haltung in dieser Hinsicht in ihrem Buch Manufacturing Consent treffend zusammen: „Wenn es keine stichhaltigen Beweise gibt, dann deshalb, weil die Sowjets absolute Profis sind, die ihre Spuren verwischen und eine ‚plausible Bestreitbarkeit‘ aufrechterhalten“ (Herman/Chomsky, S. 147). Ohne jeglichem Bezug zur Realität haben diese nützlichen Mythen, die von den bürgerlichen Medien mit erstaunlicher Effektivität verbreitet werden, dazu beigetragen, Russland „andersartig“ zu machen und wurden zur Legitimation für den Beginn der westlichen Sanktionen und der eskalierenden Aggression gegen das russische Volk.

Sanktionen, Übergriffe und die ständige militärische Einkreisung Russlands sind eine Bedrohung für den Weltfrieden und werden in ganz Russland als ernste Gefahr empfunden. Im Übrigen stellt Bidens eigener CIA-Direktor William J. Burns in seinen Memoiren fest, dass die Besorgnis über und der Widerstand gegen die NATO-Erweiterung „quer durch das gesamte politische Spektrum“ gehe, und deutet an, dass eine weitere Expansion keine gute Strategie für einen Regimewechsel in Russland sei. Das nationale Gedächtnis und die historischen Traumata der ausländischen Invasionen und der Neokolonisierung Russlands in den 1990er Jahren sind in Russland tief verwurzelt. Noch wichtiger ist jedoch, was Burns in seiner Eigenschaft als Botschafter der Vereinigten Staaten in Russland 2008 in ein Telegramm schrieb, das von Wikileaks veröffentlicht wurde:

Die Bemühungen der Ukraine und Georgiens um einen NATO-Beitritt treffen nicht nur einen wunden Punkt in Russland, sondern rufen auch ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Folgen für die Stabilität in der Region hervor. Russland nimmt nicht nur eine Einkreisung und Bestrebungen zur Untergrabung des russischen Einflusses in der Region wahr, sondern befürchtet auch unvorhersehbare und unkontrollierte Folgen, die die russischen Sicherheitsinteressen ernsthaft beeinträchtigen könnten. Experten zufolge ist Russland besonders besorgt darüber, dass die starken Meinungsverschiedenheiten in der Ukraine über die NATO-Mitgliedschaft, bei denen ein Großteil der ethnisch-russischen Gemeinschaft gegen die Mitgliedschaft ist, zu einer größeren Spaltung führen könnten, die Gewalt oder schlimmstenfalls einen Bürgerkrieg zur Folge hätte. In diesem Fall müsste Russland entscheiden, ob es interveniert – eine Entscheidung, die es nicht treffen möchte“.

Äußerungen wie die der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, einer Deutschen, vom 24. Februar entlarven jedoch die historisch ignorante und chauvinistische Haltung unserer Machthaber gegenüber dem russischen Volk: „Präsident Putin versucht, die Uhr zurückzudrehen in die Zeiten des russischen Zarenreichs. Doch damit setzt er die Zukunft des russischen Volkes aufs Spiel“. Diese äußerst reaktionäre und arrogante Haltung der Vereinigten Staaten und ihrer Juniorpartner hat nur dazu geführt, dass die „stärksten“ Verteidiger Russlands und folglich seine Reaktionäre gestärkt wurden.

Der auf der Krim geborene ehemalige ukrainische Sowjetdissident Konstantin Pleshakov erklärt in seinem Buch The Crimean Nexus: Putin’s War and the Clash of Civilizations, wie das amerikanische diplomatische Korps und die Berater, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Moskau kamen, den Russen paternalistisch beibringen wollten, wie man „Demokratie“ praktiziert, und immer wieder entsetzlich chauvinistische Haltungen an den Tag legten – nicht nur gegenüber ihren Partnern in der russischen Oligarchie, sondern auch gegenüber dem russischen Volk. Bei seiner Ankunft in Moskau 2012 stellte sich der Botschafter von Präsident Obama in Moskau, Michael McFaul, fröhlich als Spezialist für „Demokratie und Revolution“ vor. Pleshakov erklärt: „Der Kreml hat nicht gezögert, seinen Unmut deutlich zu machen. Belästigt von Fernsehteams der Regierung, die den Zeitplan des Botschafters besser zu kennen schienen als seine Assistenten und jeden seiner Schritte verfolgten, verlor McFaul schließlich die Fassung, nannte Russland öffentlich ein ‚barbarisches, unzivilisiertes Land‘ und reichte im Februar 2014 wütend seinen Rücktritt ein“ (Pleshakov, S. 34).

Wie schon oft zitiert, folgte auf Putins Aussage, der Zusammenbruch der Sowjetunion sei die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts, die in Russland weit verbreitete Meinung, der Zusammenbruch der Sowjetunion und die daraus resultierende Massenprivatisierung seien eine „echte Tragödie“ für das russische Volk. Nach seiner recht hurrapatriotischen Auffassung war der Zusammenbruch der Sowjetunion vor allem deshalb eine Tragödie, weil sich Millionen von Russen über Nacht außerhalb der Grenzen Russlands wiederfanden. In Anbetracht der komplexen Geschichte und der ethnischen Zerrissenheit der Region, insbesondere der Ukraine, ist es jedoch eine Tatsache, dass dies zutraf. Ethnische Spannungen, die während der gesamten Zeit des Bestehens der Sowjetunion eingefroren waren, wurden erst nach deren Zusammenbruch deutlich. Hochmütige westliche Beteuerungen, die „nationale Souveränität“ in der Ukraine zu respektieren, lassen die komplexe Geschichte und die ethnischen Spannungen, die durch die ukrainische nationalistische Politik der letzten Jahre verschärft wurden, völlig außer Acht.

Seit acht Jahren wird das Minsker Abkommen von Kiew systematisch als Fehlschlag betrachtet, da es sich dafür entschieden hat, einen ständigen Krieg mit den Separatisten zu führen und Gespräche mit diesen „Terroristen“ zu verweigern. Anstatt der russischen Forderung nachzugeben, groß angelegte intensive Verhandlungen über die europäische Sicherheit aufzunehmen, die länger als einen Tag in bestehenden Foren wie dem Normandie-Forum usw. dauern, haben die Mitglieder der westlichen Allianz die unbegründeten ukrainischen nationalistischen Bestrebungen unterstützt, die russischen Truppen aus „ihren“ Gebieten auf der Krim und im Südosten der „modernen Ukraine“ zu vertreiben, die von russischer ethnischer oder sprachlicher Mehrheit bewohnt werden. Trotz wiederholter Ankündigungen und nachdrücklicher Forderungen des Kremls, echte Verhandlungen über seine Sicherheitsbedenken aufzunehmen – in Bezug auf die NATO-Erweiterung und offensive Militäranlagen an seinen Grenzen, neue Anlagen, die Moskau in wenigen Minuten von der Ukraine aus erreichen könnten, wenn sie der NATO beiträte, so dass keine Zeit für einen Gegenangriff bliebe –, wurden diese Forderungen über Monate und Jahre hinweg abgewiegelt. Obwohl klar ist, dass die Ukraine aufgrund ihrer andauernden territorialen Streitigkeiten und aus anderen Gründen nicht für einen NATO-Beitritt in Frage kommt, haben sich die Vereinigten Staaten aufgrund ihrer Außenpolitik außerstande gesehen, Russland verbindliche Zusicherungen zu geben, dass die Ukraine in der Tat nicht beitrittsfähig ist. Stattdessen wurde die Ukraine zu einem „Partner mit verbesserten Möglichkeiten“ der NATO erklärt und mit „todbringenden Hilfen“ überhäuft.

Auch hier ist es das Bedürfnis des westlichen Bündnisses nach einem Feind, das dem Anschein nach diesem völlig irrationalen, unverantwortlichen und destruktiven Ansatz zugrunde liegt. Sogar die Washington Post kommt auf die Idee, dass es vielleicht besser wäre, einen ebenbürtigen nuklear bewaffneten Staat wie Russland mit mehr diplomatischem Takt zu behandeln. Die Wahrheit ist, dass es seit langem ein erklärtes Ziel von US-Außenpolitik-Experten ist, die Ukraine von Russland zu trennen, um dessen Verteidigung militärisch auszuschalten und die Stellung des russischen Staats in der imperialistischen Staatenhierarchie und auf dem Weltmarkt weiter zu schwächen. Beim American Foreign Service heißt es dazu: „In seinem 1997 erschienenen Buch The Grand Chessboard bezeichnete der ehemalige Nationale Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski die Ukraine als ‚geopolitischen Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiges Land [bedeute], dass Russland aufhört, ein eurasisches Imperium zu sein‘. Auch wenn dies von offizieller Seite nicht oft öffentlich geäußert wird, um Russland nicht zu verärgern, ist diese strategische Erkenntnis bis heute die Grundlage für einen Großteil der US-Politik“.

Als die jahrelangen Investitionen von fünf Milliarden Dollar in die ukrainische „Demokratie“ Früchte trugen und peinlicherweise aufgedeckt wurde, dass Victoria Nuland die Wahlen in der Ukraine 2014 beeinflusst hatte, kamen die Vereinigten Staaten diesem strategischen Ziel gewiss näher. Wenn diese Strategie die Unterstützung von Nationalisten aller Couleur oder die Bewaffnung offener Neonazis erforderte, dann „ist das eine gute Sache“. Victoria Nuland, die als Assistentin des Vize-Außenministers Strobe Talbott die demokratische Erneuerung und wirtschaftliche Umstrukturierung des postsowjetischen Russlands beaufsichtigte, kommentierte damals gutmütig: „Das passiert, wenn man versucht, die Russen dazu zu bringen, ihren Spinat zu essen. Je mehr man ihnen sagt, dass er gut für sie ist, desto mehr würgen sie“. Wie Talbott in seinen Memoiren festhält, wurde dieser Satz, „die Russen dazu zu bringen, ihren Spinat zu essen“, zum Schlagwort für ihre Mission und ihre Aktivitäten in Russland (Pleshakov, S. 35). Es ist also keine Überraschung, dass das russische Volk auf diese protestantische Evangelisierung der „Demokratie“ und die damit verbundene wirtschaftliche Zerstörung mit einem erdrutschartigen Sieg des starken Manns Wladimir Putin reagierte.

Unserer allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung Russlands liegt eine jahrelange, unerbittliche Medienkampagne zugrunde, die Russland als den aggressiven „Anderen“ darstellen will, der selbstverständlich militärisch bekämpft und eingekreist werden muss. Dieses Narrativ stellt dabei die Realität auf den Kopf: Darin ist es nicht das „streng defensive“ Bündnis der NATO, das jemals der Aggression bezichtigt werden kann; alles, was die Vereinigten Staaten und ihr Militärbündnis tun, ist schlicht und einfach defensiver Natur. Doch diese Gnade wird Russland selbstredend nicht zuteil, denn es ist seinem Wesen nach nicht defensiv, sondern wahlweise das aufstrebende Zarenreich oder das Sowjetimperium. Auch wenn es sicherlich reaktionäre Traditionen und patriotische Anspielungen auf „Großrussland“ gibt, die vom Kreml genutzt werden, so ändert dies nichts an der grundlegenden Realität der Dynamik der jüngsten historischen Entwicklungen und der Versuche Russlands, das Minsker Abkommen umzusetzen. Ein Blick auf die Erfolgsbilanz der NATO, sei es im Irak, in Somalia, Libyen, Jemen usw. oder bei der Anerkennung des Kosovo als unabhängigem Staat, verdeutlicht, dass die Vereinigten Staaten und die NATO an vorderster Front gegen alle bisherigen Normen des Völkerrechts verstoßen und zerstörerische Präzedenzfälle geschaffen haben, die nun im Krieg Russlands gegen die Ukraine für die Welt sichtbar werden.

Konstantin Pleshakov fasst treffend zusammen, wie die Beziehungen zwischen den USA und Russland beschaffen sind:

Was bei Putins Außenpolitik oft übersehen wird, ist, dass sie weitgehend reaktiv ist. Moskau hält das amerikanische Engagement in der Ukraine für inakzeptabel.(…) Die Leichtigkeit, mit der die Vereinigten Staaten nun einen demokratisch gewählten Präsidenten, Janukowitsch, fallen ließen und den Aufständischen in Kiew uneingeschränkte Anerkennung zollten, erzürnte den Kreml. Zum zweiten Mal innerhalb von zehn Jahren hatte Amerika einen Regimewechsel in Russlands „Schwesterland“ unterstützt, wenn nicht sogar inszeniert. War ein Putsch in Moskau der nächste? Die NATO-Erweiterung und das politische Engineering der USA im nahen Ausland waren zwei Faktoren, die die starke russische Reaktion auf den Regimewechsel in Kiew [2014] auslösten“ (Pleshakov, S. 58).

Außerdem bekräftigt er, dass das Vorgehen der NATO im gesamten politischen Spektrum Russlands als Bedrohung wahrgenommen werde, sehr zum Leidwesen der amerikanischen Diplomaten in den letzten Jahren. Eine weitere Runde von Sanktionen durch die US-Regierung und ihre Verbündeten wird nur zu einer weiteren Konfrontation zwischen der NATO und Russland führen, eine Logik, die nur in einer Katastrophe enden kann. Natürlich greifen viele Kommentatoren in diesem Moment immer noch verzweifelt nach dem bewährten westlichen Drehbuch, Sanktionen und Regimewechsel in Russland, während das Weiße Haus eine neue Sanktionsrunde und die Entsendung von US-Truppen nach Osteuropa ankündigt.

Aber wie wir im Irak, im Iran und anderswo gesehen haben, führen kollektive Bestrafungen ganzer Völker durch lähmende Sanktionen nicht von selbst zu einem imperialistischen Regimewechsel, sondern dienen nur dazu, ihre Regierungen weiter in einer defensiven Haltung zu verankern und den Krieg zu verstärken. Russland ist trotz seines unverhältnismäßig kleineren jährlichen Militärbudgets von 61 Milliarden Dollar im Vergleich zu den 1,2 Billionen Dollar der NATO kein Irak, Iran oder Libyen, sondern ein gleichwertiger, nuklear bewaffneter Staat. Erst recht nach dem Einmarsch Russlands besteht der einzige Ausweg aus dieser Krise, abgesehen von Arbeitermassenparteien und Revolutionen, darin, dass die Vereinigten Staaten die Sicherheitsbedenken Russlands endlich ernst nehmen, dass sie die kollektiven Sanktionen gegen das russische Volk nicht erhöhen und dass sie intensive europäische Sicherheitsverhandlungen aufnehmen, die den Frieden garantieren. Darüber hinaus sollten wir erkennen, dass die globale Hegemonialstrategie unserer US-Regierung und der NATO eine aggressive Strategie ist, die den Frieden und die Zusammenarbeit zwischen den Völkern systematisch bedroht und allein in diesem Jahrhundert hunderttausende Menschen getötet hat. Wir sollten uns dafür einsetzen, die überholte NATO aufzulösen. Für uns steht der Hauptfeind immer noch im eigenen Land!


Edward Herman, Noam Chomsky: Manufacturing Consent: the Political Economy of the Mass Media; Pantheon Books 1995

Constantine Pleshakov: The Crimean Nexus: Putin’s War and the Clash of Civilizations, Yale University Press 2017


1 Die Seite des Kreml ist derzeit nicht mehr aufrufbar.

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Zum Krieg um die Ukraine

Zum Krieg um die Ukraine

Zum Krieg um die Ukraine

Tue, 01 Mar 2022 17:34:54 +0000

Zum Krieg um die Ukraine

von Raoul Hamlet

Allenthalben ist nun zu hören: Wir stehen mit der Ukraine, wir verurteilen den Krieg Russlands.

Es erstaunt, dies von Menschen zu hören, die sich ansonsten recht wenig für das Weltgeschehen interessieren, geschweige denn, sich mit dessen Hintergründen auseinandersetzen.

Zunächst müssen wir feststellen: Es handelt sich mitnichten um den ersten Angriffskrieg in Europa seit 1945. Den hat die NATO bereits 1999 gegen Jugoslawien geführt. Und der jetzige Krieg in der Ukraine begann auch nicht 2022, er begann 2014.

2014 (Stichwort: Maidan) fand ein Putsch in der Ukraine statt, unter starker Beteiligung faschistischer Kräfte (Stichwort: Asow-Bataillon). In der Folge wurde am 2.5.14 in Odessa ein faschistisches Massaker verübt (über 40 Tote).

Im Verlauf des sich anschließenden ukrainischen Bürgerkrieges (mit bisher 14.000 Toten in der Ostukraine) wurden die abtrünnigen Gebiete (Donezk und Lugansk) immer wieder von ukrainischer Seite beschossen und dabei auch Wohngebiete getroffen, ein Kriegsverbrechen.

Die Ukraine ist demzufolge auch kein freies Land, dessen Demokratie nun von außen, von Russland zerstört wird.

Was gerade stattfindet, ist nicht der Beginn eines Krieges, sondern dessen Ausdehnung durch einen russischen Einmarsch in den Rest der Ukraine (nach der Besetzung der Krim 2014 sowie der Unterstützung der „Volksrepubliken“), was den Charakter dieses Krieges verändert und zweifellos einen Angriffskrieg darstellt.

Man kann, ja, man muss diesen Einmarsch verurteilen.

Aber genauso musste man die vergangenen Kriege der westlichen Länder, allen voran der USA, verurteilen.

Als da wären (nur seit 1989): Panama 1989, Irak 1991, Somalia 1992, Sudan 1998, Jugoslawien/Serbien 1999, Afghanistan 2001, Irak 2003, Libyen 2011 …

Mitgezählt sind dabei noch nicht die zahllosen Drohneneinsätze, Counter-Insurgency-Programme der Geheimdienste, Regime-Change-Versuche und unterstützte Putsche , wirtschaftliche Destabilisierung usw., wie etwa in Ländern Süd- und Mittelamerikas. Hinzu kommen die Verschleppungen ausländischer Staatsbürger und willkürliche Inhaftierungen in Foltergefängnissen und -lagern, die die USA weltweit unterhalten haben oder noch unterhalten, deren bekanntestes Guantanamo ist.

Des Weiteren erlebten wir seit 2011 den syrischen Bürgerkrieg. In diesen sind sowohl die USA als auch Russland involviert. In gewisser Weise lässt sich hier von einem Stellvertreterkrieg sprechen.

Seit dem Epochenumbruch von 1989 hat sich die NATO immer weiter nach Osten ausgedehnt, und dies, obwohl gegenteilige Zusagen gemacht wurden. Seit 1990 sind nach Ostdeutschland mit Lettland, Litauen, Estland, Polen, Bulgarien Rumänien, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Ungarn, Albanien, Kroatien, Montenegro und Nordmazedonien 14 weitere Länder zur NATO übergetreten, die zuvor mehr oder weniger im sowjetischen Einflussbereich lagen. Geblieben ist nur noch Belarus als Verbündeter Russlands in Europa. Die Türkei an der russischen Südflanke, die im eigenen Land, im Irak und in Syrien Krieg gegen die kurdische Bevölkerung führt, ist ohnehin bereits NATO-Mitglied.

Die NATO führt in Osteuropa beständig Manöver durch, zuletzt Defender 2020, 2021 und 2022. Geübt wurde dabei u.a. die Einnahme bzw. Zerstörung der Kaliningrader Oblast. „Während der Schwerpunkt von Defender Europe 2020 auf dem Baltikum und Polen lag, verschob sich der Fokus bei Defender 2021 auf des Schwarze Meer. Dabei wurden unter anderem Landungen in feindlicher Umgebung und Nachtangriffe, aber auch verschiedene maritime Szenarien geübt, die keineswegs rein defensiv waren, sondern auch einen offensiven Charakter hatten“1. Die NATO-Ostflanke wird seit 2016 massiv aufgerüstet. Es sind NATO-Truppen in diesen Ländern stationiert, u.a. befindet sich die Bundeswehr seit 2017 in Litauen. Allein die USA unterhalten mehr als 800 Militärbasen weltweit. Wie viele russische und chinesische Militärstützpunkte gibt es?

Die Ukraine aus dem Machtbereich Russlands herauszubrechen ist zudem ein strategisches Ziel, dass die Eliten Deutschlands seit mindestens einem Jahrhundert verfolgen. Es kann bereits in den militärpolitischen Konzeptionen zum Ersten und Zweiten Weltkrieg nachgelesen werden. Ebenfalls bekannt ist, spätestens seit den 1990er Jahren (Stichwort: Brzeziński), dass es sich dabei auch um eine us-amerikanische Strategie handelt, um Russland zu schwächen – und eine eurasische Macht zu verhindern. Es ist auch Fakt, dass sich die außenpolitischen Vorstellungen der letzten US-Präsidenten gegenüber Russland nur unwesentlich unterscheiden; Sanktionen gegen China und Russland (Stichwort: Trump) existieren seit Jahren.

Habt ihr das alles vergessen?

Die manipulative und einseitige mediale Berichterstattung gegen Russland hat hierzulande seit Jahren ein unerträgliches Maß angenommen. Jahrelang wurde ein entsprechendes Feindbild aufgebaut. Nun, wo Russland dieses zu bestätigen scheint, wird diese Hetze in der Bevölkerung wirksam. Dass dann noch die russische Sicht durch Verbannung des Senders RT unterdrückt wird, ist nichts als eine abzulehnende Zensurmaßnahme.

Um es klarzustellen: Wir wissen von russischen Genoss*innen, wie hart die Zustände dort sind. Dort wie hier ist nicht die Regierung unser Bezugspunkt, sondern die Klasse der Arbeiter*innen, und wir freuen uns über die angesichts starker Repression mutigen russischen Anti-Kriegs-Proteste.

Etwas, das ebenfalls oft in Vergessenheit gerät, ist die Tatsache, dass es sich bei den westlichen Ländern auf der einen und Russland und China auf der anderen Seite zwar um rivalisierende Mächte, aber eben um solche handelt, die auf derselben, ihnen gemeinsamen Grundlage, einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung, stehen. Überbetont werden hingegen die Unterschiede, die im jeweiligen politischen System liegen.

Es handelt sich beim Ukraine-Konflikt um einen zwischenimperialistischen Konflikt wie aus dem Lehrbuch. Die imperialistische Entwicklung drängt zur Expansion nach außen, die gleichzeitige Konkurrenz sorgt für das Konfliktpotenzial zu anderen imperialistischen Mächten.

Souveränität und Eigenständigkeit kleinerer Länder gibt es in dieser von imperialistischen Interessen gestalteten Welt nicht auf Dauer, sie lässt sich nur gegen dieses System durchsetzen. Und Sicherheit in der Welt wird nicht gegen Russland und China zu haben sein. Auf diese Weise rückt lediglich ein neuer Weltkrieg in greifbare Nähe.

Neu daran ist, dass mit Russland erstmals seit Langem wieder ein Land außerhalb des NATO-Blocks einen Angriffskrieg führt. Dafür, dass der Westen sein Monopol auf Kriegsverbrechen einbüßt, wird Russland nun so gehasst.

Neu ist auch, das mit China und Russland zwei nicht-westliche kapitalistische Länder auf den Plan treten, die eine Stärke erreicht haben, die es ihnen erlaubt, selbst imperialistisch zu werden. Der Westen will diese Konkurrenz nicht dulden.

Wir sollten aus der Geschichte gelernt haben, dass wir in zwischenimperialistischen Konflikten nichts zu gewinnen haben.

Mit Waffenlieferungen und Wirtschaftskrieg wird auch Deutschland zur Kriegspartei. Schon jetzt zeitigt der Krieg neben dem menschlichen Leid für die direkt Betroffenen auch hierzulande reaktionäre Folgen nationalistische Ressentiments, Forderungen nach einer Dienstpflicht fürs Vaterland, die potenzielle Rückkehr der Atomenergie, US-Fracking-Gas statt Nord-Stream-Pipelin sowie Kosten, die die arbeitende Klasse aufbringen muss: enorm erhöhte Militärbudgets2, steigende Getreide- und Energiepreise usw. Hinzu kommt die Nahrungsmittelknappheit durch Exportausfälle in anderen Erdteilen.

Man muss also diesen Krieg Russlands verurteilen.

Aber es nicht nur geschichtsvergessen, sondern auch verlogen und heuchlerisch, wenn man die Kriege und Aggressionen der NATO-Länder nicht gleichzeitig auch verurteilt.

Es ist auch politisch überaus gefährlich. Denn dann übernimmt man die Seite einer der beiden Konfliktparteien und steht genau an dem Platz, den die Mächtigen für die Bevölkerung vorgesehen hat, bedient damit deren Interessen, statt die eigenen wahrzunehmen. Eine einseitige Verurteilung Russlands kommt der Burgfriedenspolitik der Sozialdemokratie von 1914 gleich: mit den eigenen Eliten gegen einen äußeren Feind (der nicht erst seit seinem Einmarsch der Feind ist).

Eine verantwortungsvolle und fortschrittliche Sichtweise kann nur aufzeigen, dass es sich um den Konflikt zweier imperialistischer Machtblöcke handelt, eine ebensolche Politik nur darin bestehen, stattdessen das kapitalistische System, das seit Jahren von Krise zu Krise stolpert, das Imperialismus und Krieg (neben Umweltzerstörung, Armut und Ausbeutung – und eben dem gigantischen Reichtum eines kleinen Teils der Weltbevölkerung, der auch an diesem Krieg wieder verdienen wird) immer wieder neu hervorbringt, als Ganzes abzulehnen.

Für eine Antikriegsbewegung, die diesen Namen verdient!

Bekämpfen wir Kriege mitsamt ihren Ursachen!

Eine andere Welt ist immer noch möglich!


1 Informationsstelle Militarisierung, https://www.imi-online.de/2022/02/15/saebelrasseln-gegen-russland/

2 Bereits vor der aktuellen Erhöhung stieg der Bundeswehr-Etat von weniger als 23 Mrd. (2003) über 32,5 Mrd. (2014) auf 46,9 Mrd. € (2021). Vergleichswerte für 2020 (in $): Deuschland 52,8 Mrd. (= 45,2 Mrd. €), USA: 778 Mrd., NATO insgesamt: 1.107 Mrd. / Russland: 61,2 Mrd.

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https://www.autonomie-magazin.org/2022/03/zum-krieg-um-die-ukraine/feed/
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1991: IRA-Mörser landen in der Downing Street

1991: IRA-Mörser landen in der Downing Street

Tue, 08 Feb 2022 21:36:02 +0000

1991: IRA-Mörser landen in der Downing Street

Übersetzung Vidar Lindström

Gegen 10 Uhr am Morgen des 7. Februar 1991, als der britische Premierminister John Major mit seinem Kriegskabinett im Kabinettssaal der Downing Street Nr. 10 saß, parkte ein weißer Ford Transit Transporter über 200 Meter entfernt an der Kreuzung Horse Guards Avenue und Whitehall vor dem britischen Verteidigungsministerium.

Ein großes Loch klaffte im Dach, die Fahrertür öffnete sich und ein Freiwilliger der Irisch-Republikanischen Armee stieg aus, ging seelenruhig zu einem wartenden Motorrad, das von einem anderen Freiwilligen der IRA Active Service Unit gefahren wurde und machte sich sofort aus dem Staub.

Im Inneren des Lieferwagens befanden sich mehrere improvisierte Metallmörserrohre, die am Boden des Wagens befestigt waren. Sie enthielten von der provisorischen IRA entwickelte Mark 10 Mörsergeschosse, die jeweils mit einem Kurzzeitzünder versehen und mit Sprengköpfen bestückt waren, die 40 Pfund hochgradigen Semtex-Plastiksprengstoff enthielten.

Die Operation war wie viele andere, die von der IRA durchgeführt wurden. Die von ihr entwickelten Mörser wurden erstmals 1979 von der South Armagh Brigade der IRA im Kampf eingesetzt und bei Angriffen auf Kasernen der britischen Armee in großem Umfang verwendet. Diese und spätere Varianten veranlassten die britische Armee, ihre Taktik und Strategie erheblich anzupassen und eine beträchtliche Anzahl ihrer Stützpunkte mindestens eine Meile von der von ihr auferlegten Grenze in Irland weg zu verlegen, so groß waren die technischen Möglichkeiten der IRA.

Diese Operation war aber auch ganz anders. Sie musste in unbekanntem Gebiet durchgeführt werden. Außerdem gab es keine direkte Sichtverbindung zwischen dem Abschussort und dem vorgesehenen Ziel. Die Freiwilligen der IRA mussten akribisch vorgehen und mathematisch genau ausrechnen, von welcher Stelle aus die Mörser abgefeuert werden sollten, um ihr Ziel zu treffen. Waren sie zu nah, konnten sie ihr Ziel verfehlen. Waren sie zu weit entfernt, konnten sie ihr Ziel nicht erreichen.

Außerdem war die Zielrichtung der Mörser das größte Problem: nur ein paar Grad nach links oder rechts, und sie würden Gebäude auf beiden Seiten des Ziels zerstören.

Der Van musste perfekt geparkt sein. Als acht Minuten später ein uniformierter Beamter der Londoner Metropolitan Police zu der verlassenen Waffenstation ging, wurde der darin befindliche Zündmechanismus ausgelöst und der Lieferwagen schlingerte rückwärts.

Die mit einem schnell brennenden Treibsatz aus Unkrautvernichter und Zucker abgefeuerten Geschosse wurden in zwei Salven abgefeuert: zunächst paarweise, um den Rückstoß auszugleichen, dann eine einzelne in der Mitte. Die Flugbahn ließ sie in einem Bogen über die Dächer der Horse Guards-Gebäude auf Whitehall fliegen, wobei zwei in Mountbatten Green hinter dem Außenministerium in der Downing Street landeten. Der dritte Mörser landete im hinteren Garten von Downing Street 10, nur wenige Meter vom britischen Kriegskabinett entfernt.

Das massive Gebäude bebte heftig und die bombensicheren Fensterscheiben des Kabinettssaals wölbten sich nach innen, während der Premierminister und sein Kriegskabinett wie Ratten unter ihrem massiven Tisch Schutz suchten.

Die Schäden an den Gebäuden Downing Street 10 und 11 – den offiziellen Wohnsitzen des Premierministers und des Finanzministers – waren erheblich. Der Volltreffer hinterließ an der Einschlagstelle einen mehrere Meter tiefen Krater.

Sofort versammelte sich das britische Sicherheitspersonal in der Hauptstadt, um alle Regierungsgebäude aus Angst vor drohenden Anschlägen zu sichern. Hunderte von Beamten riegelten das gesamte Gebiet im Zentrum Londons rund um die wichtigsten britischen Regierungsgebäude ab, vom House of Parliament bis zum Trafalgar Square, und ließen Whitehall fast menschenleer zurück, als ein zweiter Sprengsatz, der sich in dem Lieferwagen befand, zündete, wodurch das Fahrzeug in Flammen aufging und alle britischen Versuche einer forensischen Untersuchung sowohl des Fahrzeugs als auch der Waffen stark eingeschränkt wurden.

Noch größer war der Schaden, der der britischen Kriegs- und Propagandamaschine zugefügt wurde, da die IRA ihre ständig wachsende Fähigkeit unter Beweis stellte, das Herz der britischen Regierung zu treffen und den Krieg Großbritanniens in Irland in die Hauptstadt des zerfallenden Empire zu tragen.

„Wie alle Kolonisten“, sagte P. O’Neill, nom de guerre, Mitglied des Armeerats der IRA, „wollen die Mitglieder des britischen Establishments nicht, dass das Ergebnis ihrer Besatzung vor ihrer Vorder- oder Hintertür landet … Sind die Mitglieder des britischen Kabinetts bereit, ihr Leben zu geben, um eine Kolonie zu behalten? Sie sollten verstehen, dass die Kosten hoch sein werden, solange Großbritannien in Irland bleibt … Die britische Regierung sollte verstehen, dass das britische Kabinett gezwungen sein wird, in Bunkern zu tagen, solange die nationalistische Bevölkerung in den Six Counties gezwungen ist, unter britischer Herrschaft zu leben“.


Der Artikel ist zuerst auf Englisch in der Ausgabe #3 des sozialistischen Magazins An Spréach erschienen und wurde mit freundlicher Genehmigung der irisch-republikanischen Gruppe Lasair Dhearg übersetzt und veröffentlicht.

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Die Hungerstreiks

Die Hungerstreiks

Tue, 18 Jan 2022 15:29:57 +0000

Die Hungerstreiks

Schlüsselmomente der Geschichte

Von Pádraic Mac Coitir

Übersetzung Vidar Lindström

Als ich aufwuchs ermutigten mich meine Eltern Bücher zu lesen und als ich ungefähr neun oder zehm Jahre alt war, wurde ich Mitglied der örtlichen Bibliothek in Andersonstown. Einige der Bücher, die im Haus waren, begeisterten mich nicht, obwohl ich ein gewisses Interesse an Geschichtsbüchern hatte. Hungerstreiks haben mich immer fasziniert, und ich ahnte nicht, dass ich als ich älter wurde, einige Männer kennenlernen würde, die 1981 im Hungerstreik sterben würden.

Mein Vater, Pat McCotter, sprach nicht viel über seine Zeit im Gefängnis, aber ich erinnere mich, dass er mir von den 45 Tagen erzählte, die er im Crumlin Road-Gefängnis in Belfast im Hungerstreik war. Hungerstreiks waren eine Waffe des Widerstands, die von irisch-republikanischen Gefangenen in früheren Kampagnen eingesetzt wurde, als sie für ihren politischen Status kämpften. Die Briten versuchten stets unseren Kampf zu kriminalisieren und wenn Männer und Frauen inhaftiert wurden, gab es verschiedene Formen des Protests – entweder durch die Weigerung Gefängnisarbeit zu leisten oder Gefängniskleidung zu tragen. Der erste Gefangene, der den höchsten Preis zahlen musste, war Thomas Ashe, der im September 1917 nach einer Zwangsernährung starb. Seine Beerdigung in Dublin war die größte seit der Beerdigung von O’Donovan Rossa im August 1915 und sie war ein Wendepunkt in der Mobilisierung der Irish Volunteers und vor allem der IRB [Irish Republican Brotherhood, Anm.d.Ü.], die immer noch entschlossen waren, den Kampf zur Befreiung Irlands vom britischen Imperium fortzusetzen.

In den 1920er Jahren starben weitere Männer im Hungerstreik, einige von ihnen, während sie von den Free Staters inhaftiert waren. (Michael Fitzgerald, Terence McSwiney, Joseph Murphy, Joe Witty, Dennis Barry, Andy O’Sullivan).

Mein Vater war ein Kamerad von Seán McCaughey, der mit ihm im Arbor Hill Gefängnis in Dublin inhaftiert war. Nach ihrer Freilassung meldeten sie sich bei der IRA zurück und hielten regelmäßig Kontakt. Das letzte Mal trafen sie sich 1940, kurz vor der Gefangennahme meines Vaters in South Armagh. McCaughey selbst wurde 1941 gefangen genommen, nachdem der Informant Stephen Hayes, vor der IRA zu einer örtlichen Garda-Station in Ballsbridge, Dublin, geflohen war. Hayes war der Stabschef der IRA, aber einige seiner Kameraden verdächtigten ihn, ein Informant zu sein und nahmen ihn fest. Nach einigen Wochen gelang ihm die Flucht und als die als „Broy Harriers“ bekannte Spezialeinheit zu dem Haus kam, kam es zu einem Feuergefecht, bei dem mehrere Männer erschossen und festgenommen wurden. Sie kamen vor ein Militärgericht und wurden zu lebenslanger Haft verurteilt. In Portlaoise weigerten sie sich Gefängnisarbeit zu leisten oder eine Uniform zu tragen und begannen einen Blanket-Protest. McCaughey trat in einen Hunger- und Durststreik und starb im Mai 1946 nach 23 Tagen. Mein Vater erzählte mir, dass die Moral im Crumlin Road-Gefängnis so niedrig war wie bei der Hinrichtung von Tom Williams im September 1942. Andere die in den 1940er Jahren starben, waren Tony Darcy und Jack McNeela.

Als ich älter wurde, nahm ich an vielen Demonstrationen teil, von denen einige zur Unterstützung von Hungerstreikenden hier und in England stattfanden. Eine dieser Demonstrationen, die mich sehr beeindruckt hat, fand in Andersonstown statt, wo einige Leute auf dem Bahnsteig eine Nachstellung der Zwangsernährung zeigten. Dies geschah als Reaktion auf die Zwangsernährung von Gefangenen, die im Hungerstreik waren und ihre Verlegung in Gefängnisse in Irland forderten. Einer dieser Gefangenen, Michael Gaughan, starb im März 1974 im Gefängnis von Parkhurst. Sein Kamerad und Mitstreiter aus Mayo, Frank Stagg, starb im Februar 1976 im Gefängnis von Wakefield. Später im selben Jahr wurde ich in der Crumlin Road inhaftiert und lernte dort Bobby Sands, Raymond McCreesh und Joe McDonnell kennen. Im darauffolgenden Jahr nahmen wir am Blanket-Protest teil und sahen uns jeden Sonntag bei der Messe. Wie andere Generationen politischer Gefangener protestierten wir, weil wir niemals akzeptieren wollten wie Kriminelle behandelt zu werden.

Die Bedingungen waren sehr schlecht und sie sollten sich noch verschlimmern, als wir mit dem Protest gegen das Waschen begannen. Ein Ende war nicht in Sicht und es war unvermeidlich, dass der nächste Schritt ein Hungerstreik sein würde.

Kurz vor meiner Entlassung im Juli 1979 wurden wir von der Lagerleitung aufgefordert, unser weiteres Vorgehen zu besprechen. Es war sehr schwierig für mich, meine Meinung zu äußern, da ich wusste, dass ich entlassen werden würde, bevor irgendeine Entscheidung der Männer in Kraft treten würde. Deshalb habe ich mich an der Entscheidung in den Hungerstreik zu treten, nicht beteiligt, weil ich wusste, dass ich nicht dabei sein würde.

Als ich draußen war, begann im Oktober 1980 ein Hungerstreik. Ich kannte einige der Männer, die sich daran beteiligten und jedes Mal, wenn ich an Protesten teilnahm, wurde ich gebeten, öffentlich zu sprechen, was ich jedoch nur ungern tat, da ich nicht die Aufmerksamkeit auf mich lenken wollte. Der Hungerstreik endete nach 53 Tagen und als wir die Nachricht erhielten, waren wir begeistert, weil wir glaubten, dass der Protest gelöst worden war. Doch innerhalb weniger Tage erfuhren wir, dass die britische Regierung sich nicht an eine Vereinbarung gehalten hatte.

Im darauffolgenden März trat Bobby Sands erneut in den Hungerstreik und leider starb er am 5. Mai. Weitere neun starben in den H-Blocks: Francis Hughes, Raymond McCreesh, Patsy O’Hara, Joe McDonnell, Martin Hurson, Kevin Lynch, Kieran Doherty, Tom McIlwee und Micky Devine. Es ist viel über diese turbulenten Tage geschrieben worden und darüber, wie sehr sie den Kampf beeinflusst haben. Zweifellos war dies eines der wichtigsten Ereignisse in unserer langen Geschichte des Kampfes gegen den britischen Imperialismus. Es führte dazu, dass sich viele Menschen politisch engagierten und ich würde behaupten, dass es den Lauf der Geschichte veränderte. Der Republikanismus war so stark wie seit Generationen nicht mehr und meiner Meinung nach waren wir einer sozialistischen Republik nie so nahe gekommen.


Der Artikel ist zuerst auf Englisch in der Ausgabe #5 des sozialistischen Magazins An Spréach erschienen und wurde mit freundlicher Genehmigung der irisch-republikanischen Gruppe Lasair Dhearg übersetzt und veröffentlicht.

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40 Jahre irisch-republikanischer Hungerstreik: Der Krieg beginnt

40 Jahre irisch-republikanischer Hungerstreik: Der Krieg beginnt

40 Jahre irisch-republikanischer Hungerstreik: Der Krieg beginnt

Tue, 11 Jan 2022 14:12:12 +0000

40 Jahre irisch-republikanischer Hungerstreik: Der Krieg beginnt

Von: Swissfenian

Am 1. März 1981 begann Bobby Sands, als erster einer Reihe inhaftierter republikanischer Gefangener, einen Hungerstreik in den berühmten H-Blocks. Das Maze Prison, so der offizielle Name, bildete für die republikanische Bewegung sowohl eine Lebensschule als auch ein immer wiederkehrender Ort, um die Massen zu mobilisieren und rekrutieren.

Die Reihe „40 Jahre irisch-republikanischer Hungerstreik“ erzählt die Geschichte des Hungerstreiks, mit all seinen Vorbedingungen in der ruhelosen Geschichte des irischen Befreiungskampfes.


Der Ausbruch der Troubles leitete die Spaltung der republikanischen Bewegung und damit auch der IRA ein. Bereits kurz nach den heftigen Unruhen, welche den Norden überschatteten, versammelten sich in Belfast am 24. August wichtige Persönlichkeiten zu einem geheimen Treffen. Am Treffen nahmen mehrheitlich Traditionalisten und verdiente Veteranen der republikanischen Bewegung teil. Unter ihnen befanden sich auch Aktivisten, welche heute Legendenstatus genießen. Dabei sei insbesondere Billy McKee erwähnt, der noch in seinen späten 90ern den bewaffneten Kampf befürwortete und noch heute für seine kompromisslose Haltung in den unterschiedlichsten Kreisen geschätzt wird. Weitere bekannte Teilnehmer waren unter anderem Joe Cahill, Seamus Twomey, Daithi O’Connell und Jimmy Drumm. Dieser Personenkreis einte die Ablehnung gegenüber dem bisherigen Führungsstil der IRA, sowohl in Belfast, als auch in seiner Gesamtheit durch die Führungskader aus dem Süden.

Zwei Frauen der Provisional IRA auf Patrouille

Daher wurde entschieden, die Kommandoebene aus Belfast mit der Kritik handfest zu konfrontieren. Dies führte zu einer Teilung innerhalb der IRA Kommandoebene im Norden Irlands, welche zum damaligen Zeitpunkt mehrheitlich in Belfast stationiert war. Die Führung aus dem Süden Irlands übersah die Konflikte im Norden relativ gekonnt und arbeitete weiter an ihrem weitgehend ausschließlich politischen Programm. Dabei wurde auch der Vorschlag unterbreitet, die bisherige Politik, gewählte Mandate nicht wahr zu nehmen, aufzugeben. Dieser geplante Bruch mit der bisherigen Tradition beschleunigte die Trennung zusätzlich. Innerhalb der höchsten IRA-Führungsebene löste dieser Vorschlag die endgültige Trennung der beiden Fraktionen aus. Am 18. Dezember 1969 wurde innerhalb dieser Kritiker*innen eine neue Armee-Struktur aufgebaut und gewählt. Dabei wurde Séan MacStiofáin als Stabschef der neuen IRA-Führung gewählt. Der politische Arm in Form der Partei Sinn Féin folgte diesem Schritt im Januar. Fortan existierten zwei bewaffnete Organisationen, nämlich die Official IRA und die Provisional IRA.

Official IRA, auch mit sozialen Forderungen.

Die Trennung zur Zeit des Ausbruchs des Konflikts hatte sich schon länger abgezeichnet. Ihre Ursache lag tief verwurzelt. In zahlreichen Publikationen über die Teilung der IRA gehen die Traditionalisten rund um die Provisional IRA sehr rasch und deutlich als Sieger aus der Spaltung hervor. Dies auch aufgrund der Deutungshoheit einzelner PIRA-Kader, die sie mittels Autobiografien usw erlangten. Das Narrativ der einzigen, kämpfenden Gruppe wurde schon seit der Gründung bemüht und bis zum „Ende“ der Rivalität weiter bedient.

Der Split innerhalb der Bewegung konnte den aufkommenden Widerstand jedoch nicht bremsen. Im Gegenteil die Jahre nach dem Ausbruch der Troubles bis 1973 waren die ereignisreichsten in den gesamten 40 Jahren des Konflikts. Nur schon ein Blick auf das in Belfast sehr bekannte „The Troubles Magazin“, ein empfehlenswertes Heft(chen), das von lokalen, historisch Interessierten Personen herausgebracht wird, spricht (wort)wörtlich Bände. Die Publikation sammelte mittels Zeitungsberichten und anderen Quellen alle Ereignisse der Troubles für die einzelnen Jahre. Die Jahre 70-72 brachte die breiteste Dichte an Ereignissen zu Tage. Das blutigste Jahr 1972 kommt sogar mit einem Heft pro Monat daher. Auf einer Seite finden sich beispielsweise im Jahr 1970 folgende Meldungen: So gewann die Bürgerrechtlerin Bernadette Devlin als Parlamentsmitglied 1970 die Umfrage vom Sunday Independent zur Frau/Mann des Jahres Irlands. Gefolgt von Riot Meldungen in Derry am selben Tag. Aber auch Séan MacStiofáin darf sich am 12. Januar soweit äußern, dass die Trennung von Sinn Féin die Aktionsfähigkeit der IRA nicht betreffen würde. Und auch hier findet sich das Narrativ zur Trennung. Die IRA-Leute aus dem Norden seien sauer gewesen, dass die Führung aus dem Süden keine Waffen zur Verteidigung liefern konnte. Und sogleich folgen dann die Meldungen über Waffenraube und Versuche ebensolcher. Die Dichte an Kurzmeldungen in kürzester Zeit ist bemerkenswert.1 Brian Hanley und Scott Millar erwähnen in ihrem lesenswerten Buch über die Offical IRA und die Workers Party, dass die Legende von IRA= „I Ran Away“ nach dem Beginn der Troubles einzig und allein aus Joe Cahills Mund und Schriften kam. Es hätten sich keine Bilder oder Zeugen eines solchen Spruches auf Wänden in Belfast gefunden. Diese These ist schwierig zu widerlegen und gehört wohl zur Rubrik: Die Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben.

The Troubles, Juli 1972

Der Beginn der 70er Jahre bringt einen rasanten Wechsel der Politik mit sich. Die republikanische Seite versuchte auch in Form der Provos zu Anbeginn nur eine Defensive Haltung einzunehmen. Die britischen Soldaten, welche ab 1969 im Norden stationiert wurden, waren zu Anfangszeiten keine Feinde. Im Gegenteil, die Bevölkerung in den katholischen Ghettos sahen die Soldaten als Beschützer der Viertel an. Soldaten wurden mit Tee und Biskuits hofiert und die IRA hütete sich davor die wenigen Waffen auf sie zu richten. Im Hintergrund wurden Wege und Möglichkeiten gesucht das Arsenal an Waffen möglichst schnell und effektiv aufzustocken. Dies gelang, insbesondere auch durch traditionell gute Verbindungen in die USA. Durch diese Kontakte wurden zu Beginn der PIRA diverse Waffen nach Irland geschmuggelt. Die ländlichen IRA-Einheiten verhielten sich, im Gegensatz zu den städtischen Pendants, weniger klar nach Linie. Die ländlichen Einheiten orientierten sich häufig an der bestmöglichen Waffenquelle. Doch auch hier sollte sich, wenn auch teils deutlich später, eine klare Dominanz der Provos durchsetzen.

Joe Cahill beschreibt die Anfänge der Provos so: „Defence was the main reasons fort he Army’s existence at the time and there was little obvious evidence of an offensive against the British. Soon, however, some provoactive operations were carried out by the IRA, although it was not generally known that they were carried out by republicans.“

Die Urheberschaft dieser Aktionen wäre den meisten der IRA-Freiwilligen und der Öffentlichkeit unbekannt geblieben, wäre Michael Kane (New Lodge) nicht an einer vorzeitigen Bombenexplosion verstorben. Kane wird allgemein als der erste IRA-Volunteer welcher im aktiven Dienst getötet wurde angesehen.

Cahill erwähnte in seiner Autobiographie Pläne von Waffenlieferungen konservativer irischer Politiker*innen an die IRA. Diese aber nur in klarer Abgrenzung zur marxistischen Official IRA. Zu diesen kam es jedoch nie und noch heute schämen sich Parteinachkommen aufgrund solcher Pläne.

Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich der Norden Irlands von einer Konflikt- zu einer Kriegszone. Bereits im April 1970 kamen die berühmten Armalite Sturmgewehre (AR15 und AR18) aus der USA in Irland an. Auch hier wurde auf die Unterstützung alter Veteranen zurückgegriffen So beteiligten sich IRA-Volunteers aus den 20er Jahren wie z.B. Michael Flannery, Jack Magowan und Jack McCarthy an der Organisation und Planung dieser Schmuggelaktionen. Im Norden Irlands wurden zur gleichen Zeit strengere Ankündigungsvorschriften für Demonstrationen und Märsche verordnet. Diese konnten weder unionistische Paraden noch Riots in Armagh, Derry oder Lurgan verhindern. In Belfast kam es nach dreitägigen Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten zu den ersten Angriffen auf britische Soldaten. Nationalisten aus West-Belfast griffen die Soldaten mit Molotowcocktails an. Die Soldaten antworten mit CS-Gas. Innerhalb der Provos kam es zu intensiven Debatten über die Mittel und die Ziele möglicher Angriffe. Billy McKee war der Meinung die britischen Soldaten müssten direkt mit Waffen angegriffen werden. Andere Provos konnten ihn zu diesem Zeitpunkt noch stoppen. Fra McCann, heute Sinn Féin Abgeordneter im Westen von Belfast beschrieb die Situation folgendermassen:

A lot of people were under the fals impression, and the Church played a big part in it, saying that the British were in to protect the nationalists. But if anybody looks back on it now, the British were here to uphold the state that they had imposed on the nationalist population. The RUC were stretched to the full limit. They were almost near breaking point. And if it went on any longer, the whole thing would have collapsed. So the British cam over to prop up that state.“

Diese Beschreibung folgt sicherlich einer gewissen politischen Erfahrung und Einstellung. Eine weitere, unabhängigere Quelle äusserste sich folgendermaßen:

„…It was an interesting situation because we had been at war with the police. That’s what it came down to. And then these guys arrived and suddenly the cops are pulled right out of it and not allowed to do anything unless they’re accompanied by the Brits and whoever else in charge. We had seemed to win a victory, and the Brits saying we’re in this.“

Die zweite Beschreibung endet in einer nüchternen Erklärung, wieso die Person nach dem weiteren Handeln der Briten, der IRA beitritt. Gemäss eigenen Aussagen diverser Führungspersönlichkeiten, treten junge Menschen in Massen der IRA bei. Damals können noch beide Fraktionen von diesem Zulauf profitieren. Dies sollte sich in Zukunft jedoch ändern. In den grösseren Städten existierten in der Regel jeweils zwei Fraktionen der IRA und von Sinn Féin. In den ländlichen Regionen behält die Official IRA für kurze Zeit die Oberhand, verschwand danach aber praktisch vollständig. Diese Trendwende ergibt sich nicht durch die Trennung einzelner Ortssektionen, sondern durch Fraktionswechsel ganzer Gruppen.

Innerhalb der Provisonal IRA vollzog sich zunehmend ein Wandel. Von defensiven Aktionen sah man zusehends ab und wagte stattdessen den Angriff. Der Paradigmenwechsel wurde durch entsprechende Repressionsaktionen der britischen Armee zunehmend verstärkt. Insgesamt fielen in diesen Zeiten aber auch viele Zivilisten dem Konflikt zum Opfer. Schon früh wurde klar, wie sich die britische Armee verhalten würde. Nach diversen Riots wurde von der Armee verlautbart, dass Petrol Bombers (Molotowcocktail-Werfer*innen) mit scharfer Munition beschossen werden. Nach Riots zwischen Unionisten/Loyalisten und Republikanern/Nationalisten erfolgte am 3. Juli 1970 ein Einsatz der britischen Truppen in den Lower Falls (West-Belfast). Hierbei kam es zu massiven Riots innerhalb der Gegend. Auf einen Schusswechsel folgte massiver CS-Gas Einsatz durch die Armee. Hierbei wurden im Verlaufe von 36 Stunden 2 Bewohner und ein freier Fotograf erschossen. Ein weiterer Anwohner wurde von einem gepanzerten Fahrzeug überfahren. Bei den sogenannten «Falls Curfew» kamen schlussendlich 5 Zivilisten ums Leben. Rund 300 Republikaner*innen werden verhaftet. Frauen aus dem republikanischen Viertel Andersonstown gelingt es schliesslich,die Umlagerung nach drei Tagen zu durchbrechen.

Wandbild in Erinnerung an die Repression in Lower Falls.

Beim oben erwähnten Vorfall handelt es sich um ein Viertel, in welchem die OIRA traditionell stark verankert war und es teilweise bis heute noch ist. Dass Frauen aus dem traditionell starken PIRA Viertel Andersonstown die Blockade der Viertel beenden, spricht Bände. Die damaligen Trennlinien sind teilweise noch fliessend. Es hat sich noch keine der beiden Organisationen durchgesetzt. Im Laufe des Jahres zeichnete sich eine Vorherrschaft ab. Weitaus schlimmer, so wurden die Waffen vermehrt auch gegeneinander erhoben. Dabei kam es zu massiven Brüchen innerhalb von Familien, Freunden, Genoss*innen und so weiter. Die dabei gezogenen Trennlinien wurden mehrheitlich sehr konsequent durchgezogen. Dabei spielten die Zugänge zu neuen Waffen oder auch Waffendepots im Allgemeinen, immer wieder eine wichtige Rolle. Auch kam es zu Angriffen vor Pub’s oder Lokalitäten, welche einer der Parteien zugeschrieben wurde.

Trotz aller Feindseligkeiten gingen die beiden IRA Gruppen aktiv in die Offensive. Diese Offensive wird im nächsten Teil erläutert.


1Vgl. The Troubles: January – June 1970

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Volksaufstand und Klassenkampf in Kasachstan

Volksaufstand und Klassenkampf in Kasachstan

Volksaufstand und Klassenkampf in Kasachstan

Thu, 06 Jan 2022 14:59:36 +0000

Volksaufstand und Klassenkampf in Kasachstan

Im Folgenden dokumentieren wir zwei Artikel der Sozialistischen Bewegung Kasachstans zum derzeitigen Volksaufstand, der maßgeblich von der Arbeiterklasse initiert wurde. Einer allgemeinen Erklärung zum Aufstand der SBK folgt ein Bericht über Streiks und Demonstrationen, beide gebe Einblick in den Hintergrund und die Beweggründe der Proteste in Kasachstan. Zur Orientierung haben wir eine Karte Kasachstans mit den Regionen und Städten eingefügt.

Wie der Westen versucht die Proteste geopolitisch für sich zu nutzen ist noch unklar, die OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit) hat russische Truppen zur „Friedenssicherung“ entsandt. Russland hat Angst um den Machtverlust seiner Verbündenten in Kasachstan, gleichzeitig sind Teile des kasachischen Militärs und der Polizei offen solidarisch mit den Protesten.


Erklärung der Sozialistischen Bewegung Kasachstans zur Lage im Land

In Kasachstan gibt es jetzt einen echten Volksaufstand und die Proteste waren von Anfang an sozialer und klassenbezogener Natur, denn die Verdoppelung des Flüssiggaspreises an der Börse war nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Schließlich begannen die Demonstrationen gerade in Zhanaozen, auf Initiative der Ölarbeiter, das zu einer Art politischer Zentrale der gesamten Protestbewegung wurde.

Und die Dynamik dieser Bewegung ist bezeichnend, denn sie begann als sozialer Protest, weitete sich dann aus, und die Arbeiterkollektive nutzten die Kundgebungen, um ihre eigenen Forderungen nach einer 100-prozentigen Lohnerhöhung, der Annullierung von Optimierungsergebnissen (es könnten die neoliberalen Maßnahmen gemeint sein, Anm.d.Ü), der Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Freiheit der Gewerkschaftsarbeit vorzubringen. Daraufhin wurde am 3. Januar die gesamte Region Mangistau von einem Generalstreik erfasst, der auch auf die benachbarte Region Atyrau übergriff.

Es ist bemerkenswert, dass bereits am 4. Januar die Ölarbeiter von Tengizchevroil, wo die Beteiligung amerikanischer Unternehmen 75 Prozent erreicht, in den Streik getreten sind. Dort wurden im vergangenen Dezember 40.000 Beschäftigte entlassen, und eine neue Runde von Entlassungen war geplant. Später am Tag wurden sie von Ölarbeitern aus den Regionen Aktobe, Westkasachstan und Kyzylorda unterstützt.

Außerdem begannen am Abend desselben Tages die Streiks der Bergleute von ArcelorMittal Temirtau in der Region Karaganda und der Kupferhütten und Bergleute des Unternehmens Kazakhmys, was bereits als Generalstreik in der gesamten mineralgewinnenden Industrie des Landes angesehen werden kann. Außerdem wurden höhere Löhne, ein niedrigeres Rentenalter, das Recht auf Gewerkschaften und das Streikrecht gefordert.

Am Dienstag begannen unbefristete Kundgebungen in Atyrau, Uralsk, Aktobe, Kyzyl-Orda, Taraz, Taldykorgan, Turkestan, Shymkent, Ekibastuz, Städten in der Region Almaty und in Almaty selbst, wo die Straßensperrungen bereits in der Nacht vom 4. auf den 5. Januar zu offenen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei eskaliert waren, die zu einer vorübergehenden Besetzung des Akimat der Stadt führten. Dies war für Kassym-Jomart Tokajew Anlass, den Ausnahmezustand auszurufen.

Es sei darauf hingewiesen, dass an diesen Demonstrationen in Almaty bereits hauptsächlich arbeitslose Jugendliche und Binnenmigranten teilnahmen, die in den Vororten der Metropole leben und in befristeten oder schlecht bezahlten Jobs arbeiten. Und die Versuche, sie mit dem Versprechen zu beschwichtigen, den Gaspreis auf 50 Tenge (0,1 Euro, Anm.d.Ü.) zu senken, getrennt für die Oblast Mangistau und Almaty, haben niemanden zufrieden gestellt.

Auch die Entscheidung von Kassym-Jomart Tokajew, die Regierung zu entlassen und anschließend Nursultan Nasarbajew als Vorsitzenden des Sicherheitsrates abzusetzen, konnte die Proteste nicht aufhalten, denn bereits am 5. Januar begannen Massenkundgebungen in den regionalen Zentren Nord- und Ostkasachstans, wo es zuvor keine gegeben hatte – in Petropawlowsk, Pawlodar, Ust-Kamenogorsk, Semipalatinsk. Gleichzeitig wurden in Aktobe, Taldykorgan, Shymkent und Almaty Versuche unternommen, die Gebäude der regionalen Akimaten zu stürmen.

In Zhanaozen selbst formulierten die Arbeiter auf ihrer unbefristeten Kundgebung neue Forderungen – den Rücktritt des derzeitigen Präsidenten und aller Nasarbajew-Beamten, die Wiederherstellung der Verfassung von 1993 und der damit verbundenen Freiheit, Parteien und Gewerkschaften zu gründen, die Freilassung der politischen Gefangenen und die Beendigung der Unterdrückung. Der Rat der Aksakals (eine Art Ältestenrat, Anm.d.Ü.) wurde daraufhin als informelles Machtorgan eingerichtet.

Auf diese Weise wurden Forderungen und Slogans auf die gesamte Bewegung übertragen, die nun in verschiedenen Städten und Regionen verwendet werden und der Kampf erhielt einen politischen Inhalt. Es wurde auch versucht, auf lokaler Ebene Ausschüsse und Räte zur Koordinierung des Kampfes zu bilden.

Während in der Provinz Mangistau alles friedlich verlief und die Soldaten sich weigerten, die Demonstranten zu vertreiben, kam es in der südlichen Hauptstadt zu Scharmützeln und in der Nacht vom 5. auf den 6. Januar wurden Spezialdivisionen herangeführt, um mit der Räumung des Flughafens und der von den Rebellen besetzten Blocks zu beginnen. Verschiedenen Berichten zufolge gibt es bereits Dutzende von Toten auf der Seite der Demonstranten.

In dieser Situation besteht die Gefahr der gewaltsamen Niederschlagung aller Aufstände und Streiks, und hier ist es notwendig, das Land mit einem Generalstreik vollständig lahmzulegen. Es ist daher dringend notwendig, einheitliche Aktionskomitees entlang territorialer und industrieller Grenzen zu bilden, um organisierten Widerstand gegen den militärisch-polizeilichen Terror zu leisten.

In diesem Zusammenhang ist auch die Unterstützung der gesamten internationalen Arbeiter- und kommunistischen Bewegung und linker Vereinigungen erforderlich, um eine große Kampagne in der Welt zu organisieren.

Die Sozialistische Bewegung von Kasachstan fordert:

Eine sofortige Einstellung der Feindseligkeiten gegen die Bevölkerung und den Rückzug der Truppen aus den Städten!

Sofortige Rücktritt aller Nasarbajew-Beamten, einschließlich Präsident Tokajew!

Freilassung aller politischen Gefangenen und Inhaftierten!

Gewährleistung des Rechts, eigene Gewerkschaften und politische Parteien zu gründen, zu streiken und Versammlungen abzuhalten!

Legalisierung der Aktivitäten der verbotenen Kommunistischen Partei Kasachstans und der Sozialistischen Bewegung Kasachstans!

Wir rufen alle Arbeiter und Werktätigen des Landes auf, die Forderung der getöteten Ölarbeiter von Zhanaozen in die Praxis umzusetzen – die Verstaatlichung der gesamten mineralgewinnenden und großindustriellen Industrie des Landes unter der Kontrolle der Arbeiterkollektive!

http://socialismkz.info/


Streiks und Kundgebungen in fast allen Regionen Kasachstans

5. Januar 2022

Nach dem Beginn eines Streiks bei Tengizchevroil in der Region Atyrau organisierten die Beschäftigten eine unbefristete Kundgebung im regionalen Zentrum Atyrau selbst. Die Kundgebungen weiteten sich dann auf viele Regionen des Landes aus, wobei sich auch Bergleute in der Region Karaganda und Kazakhmys in Zhezkazgan und Satpayev dem Streik anschlossen.

In Atyrau begann die Kundgebung jedoch mit einem Handgemenge, als die Polizei und die SOBR versuchten, die Arbeiterkolonne daran zu hindern. Daraufhin wurde die Kundgebung fortgesetzt und von den Teilnehmern für unbefristet erklärt. In Aktau versuchten die Behörden unterdessen, die Streikenden und Demonstranten zu besänftigen, indem sie ankündigten, dass sie beschlossen hätten, den Preis für Flüssiggas für die Bewohner der Region Mangistau auf 50 Tenge zu senken.

Doch kaum hatten der stellvertretende Premierminister Eraly Tugzhanov und der Energieminister Magzum Mirzagaliyev diese Entscheidung auf dem Yntymak-Platz in Aktau verkündet, wurden sie von Demonstranten von der Plattform und aus der Kundgebung selbst gejagt und dabei fast verprügelt. Und Nurlan Nogaev, Akim der Region, der versuchte, aus dem regionalen Zentrum wegzufliegen, wurde von den streikenden Ölarbeitern, die alle Zufahrten zum Flughafen blockierten, einfach nicht eingelassen.

Es scheint, dass dieses Zugeständnis zu spät kam, denn die Arbeiter forderten höhere Löhne, den Bau neuer Unternehmen, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der radikalste Teil der jungen Arbeiter forderte den Rücktritt des Präsidenten und der Regierung.

Am selben Tag begannen Arbeiter und Einwohner von Aktobe, Uralsk, Kyzyl-Orda, Turkestan, Shymkent, Kokshetau, Kostanai, Taldykorgan, Ekibastuz, der Region Almaty, Taraz und anderen Städten und Regionen Kasachstans auf die Straße zu gehen. In Astana gab es eine Kundgebung mit Straßensperren. Lastwagenfahrer blockierten einen Teil der Straßen in Shymkent.

Am Abend und in der Nacht des 4. Januar streikten die Bergarbeiter in der Region Karaganda und die Bergarbeiter der Kazakhmys Corporation in der ehemaligen Region Zhezkazgan und streikende Ölarbeiter blockierten die Eisenbahn und die Autobahn am Tengiz-Feld.

Streik und Straßenblockade in Tengiz

Anschließend versuchten die Behörden, Kundgebungen in Astana, Taraz, Taldykorgan, Ekibastuz, Kokshetau und Uralsk aufzulösen. Die Polizei setzte Betäubungsgranaten, Schlagstöcke und besondere Mittel ein. In Taraz wurden die Mütter vieler Kinder, die zu einer friedlichen Kundgebung gekommen waren, und alle Journalisten massenhaft festgenommen.

Zu den größten Zusammenstößen und Massenprotesten kam es jedoch in Almaty, wo zunächst Autofahrer die Straßen blockierten und sich dann zu Fuß aus verschiedenen Richtungen in Richtung der Stadt Akimat bewegten, wo sie versuchten, das Verwaltungsgebäude zu besetzen. Die Polizei setzte auch Blendgranaten, Tränengas, Schlagstöcke und Gummigeschosse ein.

Die Jugendlichen zogen sich jedoch nicht zurück und drängten die Polizei sogar in einigen zentralen Straßen zurück. Die Behörden haben die Internet- und Mobilfunkverbindungen blockiert und eine Reihe von elektronischen Medien gesperrt, um die Demonstranten an der Koordinierung ihrer Bemühungen zu hindern. In der Zwischenzeit hat Präsident Kassym-Zhomart Tokajew den Ausnahmezustand in Almaty und der Region Mangistau für die Zeit vom 5. Januar um 1.30 Uhr bis zum 19. Januar 2022 um 0.00 Uhr ausgerufen.

Er sagte auch, dass er am 5. Januar eine Regierungssitzung zu allen dringenden sozialen Fragen einberufen werde. Doch dann verbreiteten regierungsnahe Blogger das Gerücht, dass das gesamte Kabinett, das angeblich den Anweisungen des Präsidenten nicht nachgekommen war, an diesem Tag entlassen werden würde. Die Regierung des Präsidenten und Nursultan Nasarbajew, der ständige Vorsitzende des Sicherheitsrates, wollen die Spannungen in der Gesellschaft abbauen.

Streik und Demonstration der Bergarbeiter in der Region Karaganda

Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass dies gelingt, da die Proteste mit unbefristeten Protesten in Kyzylorda, Atyrau und einer Reihe von Städten sowie mit anhaltenden Streiks in den Oblasten Mangistau, Atyrau und Karaganda weit verbreitet sind. Trotz der Versuche, die Kundgebungen in Aktau und Zhanaozen gewaltsam aufzulösen, gehen die Proteste dort weiter.

Am Mittwoch wird sich zeigen, wie und wo sich die Massenbewegung weiterentwickeln wird und ob es am 4. Januar zu ähnlichen Großkundgebungen kommen wird. Eines ist den Menschen klar: Niemand glaubt mehr den Worten des Präsidenten und der Regierung, und wenn die Welle des Volkszorns abebbt, muss man mit Verhaftungen, Repressionen und Folter rechnen, wie nach der Erschießung der Ölarbeiter im Jahr 2011.

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Quelle: Autonomie-magazin.org