November 25, 2020
Von Antifra
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Bom­ben­dro­hung: Fast erwar­tungs­ge­mäß muss­te am ers­ten Pro­zess­tag des Ver­fah­rens gegen André M. am 21. April das Gerichts­ge­bäu­de für eine Stun­de geräumt wer­den. Foto: Burschel

Mord, schwe­re Kör­per­ver­let­zung und das Her­bei­füh­ren von Spreng­stoff­ex­plo­sio­nen — es sind schwe­re Ver­bre­chen, für deren Andro­hung André M. sich vor Gericht ver­ant­wor­ten muss. In mehr als hun­dert Droh­mails an Per­so­nen des öffent­li­chen Lebens und Behör­den soll M. sei­ner Wut auf die Welt Luft gemacht haben. Von dem Plan, die in den Droh­bot­schaf­ten beschrie­be­nen Ver­bre­chen auch in die Tat umzu­set­zen, ist auf­grund der Sach­la­ge aus­zu­ge­hen. Aus­ge­sagt dazu hat  M. bis­her nicht, der Ange­klag­te strei­tet alle Vor­wür­fe ab.

Seit Ende April kann man im Land­ge­richt Ber­lin in Moa­bit das Auf­rol­len der Ermitt­lungs­er­geb­nis­se in der Straf­sa­che mit­ver­fol­gen und sich selbst ein Bild machen von einer, von natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ideo­lo­gien befeu­er­ten, kran­ken See­le.  Ende Juni gibt es zum ers­ten Mal auch einen pri­va­ten Ein­blick in das Gedan­ken­le­ben von André M.: An zwei Ver­hand­lungs­ta­gen wer­den zahl­lo­se ver­stö­ren­de Sprach­nach­rich­ten von ihm an eine Chat­part­ne­rin abgespielt.

Der 32-jäh­ri­ge spricht über sei­nen Medi­ka­men­ten­miss­brauch, Tötungs­phan­ta­sien, die Beschaf­fung von Waf­fen. Belast­ba­re Aus­sa­gen, bei denen man sich unwei­ger­lich fragt, wie­so er sie über die ver­gleich­bar unsi­che­re Chat­platt­form Whats­App ver­sand­te. Das bis­he­ri­ge Ver­fah­ren hat gezeigt, dass sich M. durch­aus mit Ver­schlüs­se­lungs­tech­no­lo­gien aus­kennt, die es der Poli­zei schwer machen auf bestimm­te Daten zuzu­grei­fen. Die Droh­mails ver­sen­de­te er ver­mut­lich über einen soge­nann­ten Tor-Brow­ser, über den sich der Absen­der nicht direkt zurück­ver­fol­gen lässt. Mit sei­ner Chat­part­ne­rin sprach er über Whats­App im Novem­ber 2018 jedoch recht frei her­aus. War er ein­fach nur unvor­sich­tig oder war es ihm schlicht egal, dass sol­che Infor­ma­tio­nen ans Licht kom­men könn­ten? Oder lag es dar­an, dass sei­ner „Gesprächs­part­ne­rin“ schlicht kein ande­res Medi­um zur Ver­fü­gung stand?

Sie wer­den sich noch wün­schen, sie hät­ten therapiert“

Vor Gericht lauscht der Ange­klag­te sei­ner eige­nen Stim­me mit nord­deut­schem Dia­lekt kon­zen­triert. An eini­gen weni­gen Stel­len muss er lächeln. Wit­ze, die schein­bar nur er ver­steht. Es ent­steht das Pro­fil eines Men­schen mit psy­cho­pa­thi­schen Zügen. Wenn ande­ren Leid zuge­fügt wer­de, dann sei ihm das egal, sagt M.. In meh­re­ren Nach­rich­ten spricht er auch über sei­ne mani­pu­la­ti­ven Fähig­kei­ten. Er berich­tet stolz, wie er die Ärzt*innen im Maß­re­gel­voll­zug, in dem er meh­re­re Jah­re ein­saß, bewusst getäuscht habe, um ent­las­sen zu wer­den. „Die kann man rich­tig ein­fach ver­ar­schen“, sagt er, obwohl sie doch eigent­lich geschult sein müss­ten, „sol­che Leu­te“ wie ihn zu erkennen.

Der dür­re Mann im schwar­zen Kapu­zen-Pul­li ist ein „Lonely Wolf“. Ein als Kind dia­gnos­ti­zier­ter Herz­feh­ler — ein­her­ge­hend mit lan­gen Kran­ken­haus­auf­ent­hal­ten und star­ken Ein­schrän­kun­gen einer Lebens­qua­li­tät — hät­ten die bei ihm dia­gnos­ti­zier­te „schwe­re Per­sön­lich­keits­pa­tho­lo­gie“ aus­ge­löst, sagt er. Die letz­ten Jah­re leb­te er ohne vie­le zwi­schen­mensch­li­che Kon­tak­te in einem mit Nazi-Fah­nen tape­zier­ten Zim­mer bei sei­nen Eltern. Der mehr­fach vor­be­straf­te Mann ver­ließ das Haus so gut wie nie und flüch­te­te sich statt­des­sen in die tie­fen Abgrün­de des Inter­nets. Auch besag­te Adres­sa­tin der Sprach­nach­rich­ten, mit der sich im Jahr vor sei­ner jüngs­ten Ver­haf­tung inten­siv über sozia­le Medi­en aus­tausch­te, hat­te er übers Netz ken­nen­ge­lernt, in einer Face­book-Grup­pe für Men­schen mit psy­chi­schen Erkrankungen.

Im locke­ren Small-Talk-Ton berich­tet er sei­ner Ver­trau­ten via Voice­mes­sa­ge von sei­nen bis­he­ri­gen Straf­ta­ten, sei­nem aggres­si­ven Ver­hal­ten als Kind und von sei­nen Gewalt­phan­ta­sien. Ein Selbst­mord­at­ten­tat mit mög­lichst vie­len Opfern sei auf jeden Fall eine Opti­on für die Zukunft, sagt M. und deu­tet an, dass er nicht mehr lan­ge war­ten kön­ne, bis zum „gro­ßen Fina­le“. Eine kla­re Bot­schaft, die den Schluss erlaubt, dass das Land mit M.s Ver­haf­tung haar­scharf an einer wei­te­ren blu­ti­gen Tat aus der Sze­ne einer dif­fu­sen ter­ror-affi­nen Rech­ten vor­bei­ge­schlit­tert ist.

Eben kein „ver­wirr­ter Einzeltäter“

Vor allem unter dem Namen „Natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Offen­si­ve“ soll der Ange­klag­te sei­ne gewalt­vol­len Droh­bot­schaf­ten an Poli­zei, Politiker*innen, lin­ke Akteur*innen und „Reprä­sen­tan­ten des Kapi­ta­lis­mus“ ver­sen­det haben. Doch auch Mit­tä­ter­schaft für Nach­rich­ten eines noch unbe­kann­ten, unter dem Pseud­onym „Wehr­macht“ agie­ren­den Droh­brief­schrei­bers wer­den ihm zur Last gelegt. Ana­ly­sen von M.s Com­pu­ter durch Polizeispezialist*innen hat­ten erge­ben, dass der Ange­klag­te sich über das soge­nann­te Darknet mit „Wehr­macht“ und ande­ren Per­so­nen sei­ner Gesin­nung ver­brü­der­te. Der Fall macht damit auf­merk­sam auf eine Welt von Men­schen abseits der ein­schlä­gi­gen Nazi-Sze­ne, die in den gehei­men Foren des Inter­nets eine Platt­form für ihre rech­ten Ideo­lo­gien und bedroh­li­chen Trie­be fin­den. Ein nicht min­der gefähr­li­cher Aus­wuchs einer Sze­ne, die immer wie­der auch durch bru­ta­le Taten bis hin zu Anschlä­gen und Mor­den für Angst und Schre­cken sorgt. Zuletzt gezeigt hat­te das auch der ras­sis­ti­sche Mas­sen­mord in Hanau im Febru­ar, wo sich der Täter eben­falls über das Inter­net radikalisierte.

Dar­auf macht auch die LIN­KE-Poli­ti­ke­rin Mar­ti­na Ren­ner auf­merk­sam, die in dem Pro­zess die <span title="Glossary: Nebenklage" data-tooltip="Der Anklage gegen die NSU-Terroristen haben sich mehr als 70 Angehörige der Mordopfer und Geschädigte der Sprengstoffanschläge als Nebenklägerinnen und Nebenkläger angeschlossen. Sie werden von ca. 50 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten vertreten. Nähere Informationen und Dokumentation aus Sicht der Nebenklage http://www.nsu-nebenklage.de

 ” class=”glossaryLink “>Neben­kla­ge inne­hat. Gegen­über kon­kret sagt sie: „Ich möch­te, dass klar wird, dass sol­che Dro­hun­gen nicht harm­los, die Täter digi­tal ver­netzt und teil­wei­se seit Jah­ren aktiv sind. Wir müs­sen von Struk­tu­ren und von Zugang zu Waf­fen und Spreng­stoff aus­ge­hen. Es soll­te dar­über gespro­chen wer­den, und nicht zuerst über den psy­chi­schen Knacks des Ange­klag­ten.“ Mit­te Juni macht auch Ren­ner eine Aus­sa­ge vor Gericht. Sie berich­tet von den vie­len bru­ta­len Mord­dro­hun­gen, die sie in ihrer Funk­ti­on als Per­son des öffent­li­chen Lebens im Bereich der anti­fa­schis­ti­schen Arbeit seit Jah­ren errei­chen. Dar­un­ter auch sol­che von M..

Die Ver­tei­di­gung M.s bringt eine Lis­te von wei­te­ren Sprach­nach­rich­ten ein, die im Gericht gehört wer­den sol­len. Dar­in tau­schen sich M. und sei­ne Netz-Freun­din unter ande­rem für­sorg­lich über den Hund des Ange­klag­ten aus und die Chat­part­ne­rin spricht über ihre eige­nen psy­chi­schen Stö­run­gen.  Ein fast ver­zwei­fel­ter Ver­such, die Schwe­re der Aus­sa­gen zu rela­ti­vie­ren, deren gan­zer Umfang hier auf­zu­zäh­len noch meh­re­re Sei­ten fül­len könnte.

Das Gericht ist bis Mit­te Juli in Som­mer­pau­se, danach sind noch wei­te­re 16 Ver­hand­lungs­ta­ge bis zur geplan­ten Urteils­ver­kün­dung Anfang Okto­ber ange­setzt. Das Anhö­ren von wei­te­ren Sprach­nach­rich­ten ist geplant. ange­setz­te Ter­mi­ne: 17.07., 20.07., 21.07., 23.07., 11.08., 13.08., 18.08., 20.08., 25.08., 27.08., 01.09., 03.09., 04.09., 28.09., 29.09., 01.10., jeweils um 09:15 im Land­ge­richt Ber­lin in der Turm­stra­ße in Moabit.




Quelle: Antifra.blog.rosalux.de