Polen hat schon jetzt eines der strengsten Anti-Abtreibungsgesetze. Die Abtreibung ist zugelassen, wenn eine schwere Behinderung des Fötus diagnostiziert wurde, wenn die Gesundheit oder das Leben der werdenden Mutter gefĂ€hrdet ist oder wenn die Schwangerschaft das Ergebnis einer Straftat ist (Vergewaltigung, Inzest). Am 22.10.2020 erklĂ€rte das Verfassungsgericht das bislang geltende Abtreibungsgesetz mit dem Recht auf Abtreibung wegen schwerer und irreversibler fetaler Defekte fĂŒr verfassungswidrig. Seither regt sich heftiger Widerstand.
In der Praxis ist mit dem Urteil keine legale Abtreibung mehr möglich. Es passierte somit genau das, was 2016 JarosĆaw KaczyĆski sagte: âWir werden uns bemĂŒhen, sicherzustellen, dass die FĂ€lle sehr schwieriger Schwangerschaften, in denen das Kind zum Tode verurteilt wird oder stark deformiert, mit der Geburt enden, damit das Kind getauft und begraben werden kann. â
Die Hölle fĂŒr Frauen
Die regierende national-konservative Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i SprawiedliwoĆÄ, PiS) und die mit ihr Hand in Hand gehende katholische Kirche bezeichnen es als âSchutz das ungeborenen Lebensâ, aber es ist eine Tortur fĂŒr Frauen, die gezwungen werden, eine Schwangerschaft auszutragen, besonders wenn der Fötus missgebildet ist. Es ist unmenschlich, jemanden dazu zu zwingen â sagen diejenigen, die gegen diese âHölle fĂŒr Frauenâ protestieren. Auf ihren Bannern steht âGenugâ, âIch werde nicht dein MĂ€rtyrer seinâ und âIch will die Wahl, nicht den Terrorâ. Der Kampf der katholischen Fundamentalisten gegen âeugenische Abtreibungâ, um aus Frauen âGebĂ€rmaschinenâ oder âInkubatorenâ zu machen, hat fĂŒr Empörung gesorgt und zu einer groĂen Welle von Protesten gefĂŒhrt. Ăhnlich wie 2016 wĂ€hrend des âSchwarzen Protestsâ (âCzarny Protestâ) sind die Frauen wieder auf die StraĂe gegangen.
WĂ€hrend die Frauen auf der StraĂen protestieren, jubeln National-Konservative mit National-Radikalen von der Konföderation (einer Koalitionspartei im Parlament) und dem Klerus. Darunter auch Kaja Godek, die Anti-Choice-Aktivistin und Initiatorin des Projekts âStoppt Abtreibungâ, das auch zu dem âSchwarzen Protestâ 2016 gefĂŒhrt hat. Nach Bekanntgabe der ErklĂ€rung des Verfassungsgerichtshofs kommentierte Godek, dass auch das (ungeborene) Kind ein Opfer von Vergewaltigungen ist und geschĂŒtzt werden sollte. Die National-Konservativen wollen kĂŒnftig auch Abtreibungen nach der Vergewaltigung verbieten.
Dies ist Krieg
Seit dem Tag der Verfassungsgerichtsentscheidung sind Frauen* mit den Slogans âVerpisst Euchâ (WypierdalaÄ) und âDies ist Kriegâ (To jest wojna!) auf den StraĂen prĂ€sent, um ihre Wut zu zeigen. Sie wollen nicht mehr brav bleiben und nett um ihre Rechte bitten, was sie bislang mit Petitionen und legalen Demonstrationen gemacht haben. âIhr solltet uns nicht anpissenâ â skandieren Frauen auf den StraĂen. Sie wollen keine RĂŒckkehr zu dem bislang seit 1993 herrschenden âAbtreibungskompromissâ, der unter dem Einfluss der katholischen Kirche eingefĂŒhrt wurde. Sie wollen mehr.
Die Aktionen werden ĂŒber Facebook und auf der Webseite von âOgĂłlnopolski Strajk Kobietâ (âLandesweiter Frauenstreikâ) angekĂŒndigt bzw. Ideen fĂŒr die Aktionen geteilt, und die Leute versammeln sich spontan vor Ort. Der âLandesweite Frauenstreikâ unterstĂŒtzt Menschen, die sich mit aller Kraft organisieren, einige von ihnen handeln als Teil des Frauenstreiks, andere sind völlig spontane Basisinitiativen. Es gibt viele unterschiedliche lokale Gruppen, Initiativen etc., die sich von unten organisiert haben. Niemand versucht die Demonstrationen anzumelden, offiziell herrscht wegen Covid-19 ein Versammlungsverbot. Die Feminist*innen und Aktivist*innen haben schon vor einigen Wochen vor dem Ausgang der Abstimmung am 22.10.2020 gewarnt. Anarchist Black Cross (Anarchistczny Czarny KrzyĆŒ, ABC) in Polen unterstĂŒtzt den âLandesweiten Frauenstreikâ, gibt Tipps zum Verhalten wĂ€hrend und nach der Demo und unterstĂŒtzt die Festgenommenen. Die Flyer und BroschĂŒren von ABC in Polen werden auch im Internet verbreitet.
Abtreibung als Symbol der Freiheit
Am Freitag (23.10.) wurde vor dem Haus des PiS-Vorsitzenden und stellvertretenden Premierministers JarosĆaw KaczyĆski demonstriert. Die versammelten Menschen protestierten mit den Slogans âDies ist Kriegâ und âDu hast Blut an deinen HĂ€ndenâ und wurden vor Ort von Polizei in KampfausrĂŒstung erwartet. Die Polizei hat gegen Demonstranten Pfefferspray eingesetzt, da einige von ihnen angeblich versucht haben Steine zu werfen und die Absperrung zu durchbrechen, um das Haus zu erreichen. Sie forderten die Demonstranten ĂŒber Lautsprecher auf, die BeschrĂ€nkungen fĂŒr öffentliche Versammlungen einzuhalten. In anderen StĂ€dten wurde auf HauptplĂ€tzen, vor den PiS-BĂŒros und anderen zentralen Orten demonstriert.
Am Samstag (24.10.) haben Frauen*, unterstĂŒtzt von Anarchist*innen, ein altes Krankenhaus in PoznaĆ besetzt und als Abtreibungsklinik deklariert. Es wurde das Bild des PiS-Vorsitzenden JarosĆaw KaczyĆski mit der Unterschrift âDu brauchst seine Zustimmung nichtâ aufgehĂ€ngt, um somit den Zugang zu legaler Abtreibung zu fordern. Diese Performance wurde schnell von der Polizei beendet.
Die Situation ist dynamisch und spontan, jeden Tag schlieĂen sich den lokalen Protesten neue Gruppen an, z.B. Bauern, Busfahrer, Bergbauarbeiter, FuĂballfans. Obwohl das Versammlungsrecht aufgrund der Corona-Epidemie eingeschrĂ€nkt ist, gehen die Menschen auf die StraĂen, finden landesweit Proteste statt, an denen sich Tausende von Menschen â hauptsĂ€chlich Frauen â beteiligen. Die Protestierenden sind auch sauer, dass das Thema Abtreibung als politische Nebelkerze benutzt wird, um die MissstĂ€nde der Regierung u.a. wĂ€hrend der Pandemie zu ĂŒberdecken. âIch wĂŒnschte, ich könnte meine Regierung abtreibenâ wird skandiert. âEs geht nicht mehr um Abtreibung, es geht um Freiheit, zu deren Symbol die Abtreibung geworden istâ, sagte Magda Lempart aus dem âLandesweiten Frauenstreikâ in einem TV-Interview. Die treibende Kraft hinter dem Protest ist die Wut der Menschen unterschiedlicher Ansichten, die sich gegen die Regierung, die Partei PiS, die national-radikale âKonföderationâ, die Richter aus dem Verfassungsgericht, die das Gesetzt unterstĂŒtzt haben, richtet. Auf den StraĂen hört man âJebaÄ PiSâ (Fick die PiS). Der Klerus wird auch nicht ausgespart.
Ein gebrochenes Tabu
Am Sonntag (25.10.) wurde zur Aktion âDas Wort zum Sonntagâ in den Kirchen aufgerufen, da neben der PiS auch die katholische Kirche zur VerschĂ€rfung des Gesetzes beigetragen hat. Die Aktivist*innen haben mit Sprechröhren und Plakaten Gottesdienste unterbrochen, Slogans wie âIhr habt Blut an den HĂ€ndenâ auf die Kirchen gesprĂŒht. An den Fassaden der Kirchen in Warschau erschienen Slogans wie âFrauenhölleâ, âMein Körper â Ihre Religionâ, âAbtreibung ohne Grenzenâ. In PoznaĆ wurde die Messe unterbrochen, indem ein Dutzend Frauen âWir haben es sattâ riefen und Banner mit Slogans wie âKatholische Frauen brauchen auch ihr Recht auf Abtreibungâ vor dem Altar entrollten. In ĆĂłdĆș wurde vor dem Dom protestiert â die Menschen forderten eine Trennung von Kirche und Staat, da die Kirche zu viel politischen Einfluss auf die Regierungspolitik in Politik ausĂŒbt. Die Menschen trugen Plakate mit einer gekreuzigten schwangeren Frau und verteilten Protestkarten an Priester. Damit wurde ein Tabu im katholischen Polen gebrochen. Die Polizei, an einem Ort auch berittene Polizei, schĂŒtzte die Kirchen und ging dabei aggressiv gegen Demonstrierende vor. Die Polizei wurde beim Schutz der Heilig-Kreuz-Kirche in Warschau von rechtsextremen Aktivisten unter dem Kommando von Robert BÄ kiewicz vom âNationalradikalen Lagerâ (ObĂłz Narodowo-Radykalny, ONR) unterstĂŒtzt. Dort wurde eine Frau in einem Krankenwagen weggebracht, nachdem sie von den Rechtsextremen unter passiver Beteiligung der Polizei die Stufen der Kirche hinuntergeworfen worden war.
Robert BÄ kiewicz, der rechtsextreme Aktivist, kĂŒndigte an, dass nationalistische Gruppen eine âNationalgardeâ (StraĆŒ Narodowa) schaffen wĂŒrden, um die Kirchen vor den Demonstranten zu verteidigen.
Die Kirche hat sich distanziert. âDie Kirche erlĂ€sst in unserem Heimatland kein Gesetz, und es sind nicht die Bischöfe, die ĂŒber die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit von Gesetzen mit der polnischen Verfassung entscheidenâ, so der polnische Erzbischof StanisĆaw GÄ decki in einer ErklĂ€rung. âDie Kirche kann jedoch nicht aufhören, das Leben zu verteidigen, und sie kann auch nicht ihren Anspruch aufgeben, dass jeder Mensch von der EmpfĂ€ngnis bis zum natĂŒrlichen Tod geschĂŒtzt werden muss.â
Fast 70 Prozent der Befragten in Polen glauben, dass Frauen das Recht haben sollten, selbst zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft abbrechen.
Abtreibung ist ĂŒberall, war und wird sein
In anderen StĂ€dten wurden Proteste vor der Kathedrale durchgefĂŒhrt. In PoznaĆ wurde eine Demonstration unter dem Slogan: âAbtreibung ist ĂŒberall, war und wird seinâ organisiert. Die Aggression und Gewalt seitens der Polizei wurden u.a. mit dem Slogan beantwortet: âZieh deine Uniform aus, entschuldige dich bei deiner Mutterâ. Die Anarchist*innen aus PoznaĆ haben dazu einen Kommentar auf ihrer Webseite veröffentlicht: âWieder einmal reagierte die Polizei aggressiv auf das Verhalten der Menge und zielte blind auf sie mit direkten ZwangsmaĂnahmen und Kriminalisierung von Protesten. Die Polizei verteidigte erneut die Interessen des Klerus, statt die Interessen der protestierenden Frauen zu verteidigen. Wir gehen davon aus, dass in naher Zukunft die Aggression der Polizei und des Staates gegen die Menschen zunehmen wird. Dies zeigt sich auch darin, dass in den Medien bereits angedeutet wird, dass die Organisierung von Protesten zur EinfĂŒhrung des Ausnahmezustands im Land fĂŒhren muss. Die Herrschenden versuchen, uns fĂŒr die Eskalation der Epidemie und infolgedessen fĂŒr die EinfĂŒhrung weiterer BeschrĂ€nkungen verantwortlich zu machen. Es sind jedoch nicht wir, die fĂŒr diese Situation verantwortlich sind, sondern genau die Herrschenden. Sie sind die Menschen, die Entscheidungen treffen, um die Rechte von Frauen in einer Zeit einzuschrĂ€nken, in der die Pandemie tobt, und sie sind diejenigen, die unsere Gesundheit und unser Leben gefĂ€hrden, um ihre Ziele zu erreichen. Das Blut jedes Opfers dieser Situation (sowohl Frauen, die durch das Gerichtsurteil verletzt wurden, als auch diejenigen, die an Covid19 sterben werden) ist an ihren HĂ€nden. Und sie werden am Ende dafĂŒr zur Rechenschaft gezogen. Die Revolution ist eine Frau!â
Blockaden
Am Montag, 26.10.2020, wurden die StraĂen in unterschiedlichen StĂ€dten blockiert und es fanden Proteste in ĂŒber 150 StĂ€dten und Ortschaften in Polen und Europa statt. Der StraĂenverkehr im Zentrum von Warschau wurde lahmgelegt. Gleichzeitig wurde zur Beteiligung an der polenweiten Aktion aufgerufen, Protest-E-Mails an die Regierung zu schicken, um ihre E-Mail-Box zu verstopfen. Die KreativitĂ€t der Protestierenden zeigt sich neben Aktionen, Bannern und Sprechchören auch in Interpretationen von bekannten Popsongs, zu deren Rhythmus das âJebaÄ PiSâ erklingt, oder in Form einer umgedichteten Version des Klassikers âBella Ciaoâ. (https://www.youtube.com/watch?v=95_ZIOxiQCE)
Ein Zitat:
âLiebe Schwester,schreie laut:
verdammte Regierung â ciao, Verfassungsgericht â ciao, PATRIARCHAT â ciao!
Liebe Schwester,
lass morgen die Nachrichten
ĂŒber die gestĂŒrzte Regierung sein.â
Aufruf zum Streik
Am Mittwoch, 28.10.2020, wurde zum polenweiten Streik aufgerufen. Frauen sollen nicht zur Arbeit gehen. Gegen die VerschĂ€rfung des Abtreibungsgesetzes hat sich auch die Basisgewerkschaft Arbeiter-Initiative (Inicjatywa Pracownicza, IP) ausgesprochen und ihre Beteiligung am Frauenstreik angekĂŒndigt. In dem Statement der IP-GeschĂ€ftskommission wird der Zugang zu Abtreibungen als Komponente der reproduktiven Gesundheit berufstĂ€tiger Frauen genannt. Aus diesen GrĂŒnden hĂ€lt die IP den Kampf um den Zugang zur Abtreibung fĂŒr ebenso wichtig wie den Kampf um höhere Löhne und sichere Arbeitsbedingungen. âUnabhĂ€ngig von gesetzlichen Bestimmungen, in welchen Situationen Abtreibung legal ist oder nicht, werden Frauen Schwangerschaften beenden. Wenn die Regierung uns den Zugang zur Gesundheitsversorgung verweigert und weitere BeschrĂ€nkungen der persönlichen Grundfreiheiten verhĂ€ngt, werden wir alles tun, was möglich ist, um mit gegenseitiger Hilfe und UnterstĂŒtzung den Zugang zum Schwangerschaftsabbruch zu gewĂ€hrleisten.â Und weiter: âDie Streikwelle in Form von Blockaden oder LĂ€hmungen ganzer Wirtschaftssektoren wird Druck auf die Regierung ausĂŒben und dazu fĂŒhren, dass die Gesundheits- und Abtreibungspolitik in unserem Sinne gestaltet wird. In der von der Regierung in der Zeit der Pandemie vorbereiteten sozioökonomischen Krise werden wir uns organisieren und kĂ€mpfen. SolidaritĂ€t ist unsere Waffe, wir streiken!â
Am Freitag, 30.10.2020, soll eine groĂe polenweite Demo in Warschau stattfinden.
In der Zwischenzeit hat Premierminister Mateusz Morawiecki angeordnet, dass âSoldaten der MilitĂ€rgendarmerie vom 28.10.2020 bis zum offiziellen Ende der Epidemie polizeiliche Hilfe zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung leisten werdenâ. Das bedeutet: Ab Mittwoch werden die Protestierenden nicht nur mit Polizei und rechtsextremer âNationalgardeâ, sondern auch mit der Armee konfrontiert sein.
Update 27.10.2020, 22:30h:
WĂ€hrend der am Dienstagnachmittag (27.10.) organisierten Pressekonferenz wurden die Postulate des Landesweiten Frauenstreiks angekĂŒndigt. Neben umfassenden Frauenrechten, legaler Abtreibung, EmpfĂ€ngnisverhĂŒtung, Sexualerziehung und Schutz vor Gewalt wurde auch der RĂŒcktritt der Regierung gefordert.
Einige Stunden spĂ€ter wurde die Rede von Kaczynski ausgestrahlt, in der er PiS-Mitglieder und UnterstĂŒtzer*innen zur Verteidigung von Kirchen âum jeden Preisâ aufgerufen hat. âLasst uns Polen verteidigen, den Patriotismus verteidigen und Entschlossenheit und Mut zeigen. Nur dann können wir den Krieg gewinnen, der direkt von unseren Gegnern erklĂ€rt wurde.â
Quelle: Graswurzel.net