Mai 13, 2021
Von SchwarzerPfeil
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Nach monatelangen Vorbereitungen hat sich eine Delegation der Zapatistas von Mexiko aus auf den Weg nach Europa gemacht. Die „umgekehrte Eroberung“ hat nun wirklich begonnen.

Via RoarMag

Es war eine echte Überraschung, als die Zapatistas am 5. Oktober 2020 ihr Kommuniqué „Ein Berg auf hoher See“ veröffentlichten, in dem sie eine Tour der EZLN über fünf Kontinente, beginnend mit Europa, ankündigten. Auch wenn die Zapatista nicht davor zurückgeschreckt sind, Initiativen in Chiapas und ganz Mexiko zu organisieren, ist es im Grunde das erste Mal seit 1994, dass sie die Grenzen ihres Heimatlandes hinter sich lassen.

Am 1. Januar dieses Jahres veröffentlichten sie eine Erklärung für das Leben, die von Hunderten von Einzelpersonen, Kollektiven und Organisationen mitunterzeichnet wurde und das Ziel dieser Reise umreißt: einen Beitrag dazu zu leisten, dass antikapitalistische Kämpfe — die untrennbar mit den Kämpfen für das Leben verbunden sind — im vollen Bewusstsein ihrer Unterschiede und ungehindert von homogenisierenden oder hegemonialen Kräften zusammenkommen.

In den letzten sechs Monaten hat eine umfangreiche Organisierung auf europäischer Ebene stattgefunden, ebenso wie in jedem einzelnen Land oder „Geographie“, wie es im zapatistischen Vokabular heißt. So wurde zum Beispiel ein französischsprachiges Koordinationsgremium gegründet, das acht regionale Föderationen von Kollektiven und lokalen Initiativen umfasst.

Unterdessen bestätigte die EZLN, dass sich eine große Delegation von mehr als hundert Mitgliedern, von denen drei Viertel Frauen sind, bereit macht. Die Delegation soll auch von Mitgliedern des Nationalen Indigenen Kongresses-Indigener Regierungsrat begleitet werden, der indigene Kämpfe in ganz Mexiko vereint, sowie von einem Kontingent der Volksfront zur Verteidigung von Land und Wasser von Puebla, Morelos und Tlaxcala, die gegen die Installation eines massiven Kraftwerks kämpft, das die für die Bauern*Bäuerinnen in der Region unentbehrlichen Wasserressourcen umzuleiten droht.

DIE REISE FÜR DAS LEBEN — KAPITEL EUROPA

Am 10. April, dem Jahrestag der Ermordung Emiliano Zapatas, wurde die Abreise der ersten Gruppe der zapatistischen Delegation angekündigt, die sich auf den Seeweg begeben sollte. Wir hatten erwartet, dass sie an diesem Tag das Caracol von Morelia verlassen würden, wo sich die Mitglieder seit Monaten vorbereitet hatten. Zu diesem Anlass wurde ein formelles Ritual mit traditioneller Musik, Weihrauch und reinigenden Handlungen („limpia“) an einem lebensgroßen Modell eines Schiffsbuges durchgeführt.

Doch die Gruppe brach nicht sofort zu ihrer Reise auf: Zunächst begaben sie sich in eine 15-tägige Quarantäne, um sicherzustellen, dass niemand das zapatistische Territorium mit einem anderen Virus als dem der Rebellion verlässt. Diese Entscheidung steht im Einklang mit dem Entschluss der EZLN, alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, um die Verbreitung von COVID-19 bei sich selbst und außerhalb der staatlichen Mandate zu verhindern. Dies hatte sie dazu veranlasst, einen roten Alarm auszusprechen und den Zugang zu allen zapatistischen Caracoles seit dem 15. März 2020 zu sperren.

Die maritime Delegation wurde „Schwadron 421“ getauft, weil sie aus vier Frauen, zwei Männern und einer trans Person („unoa otroa“ im zapatistischen Lexikon) besteht, die in einem Kommunique von Subcomandante Galeano einzeln vorgestellt wurden.

Das Schwadron 421

Nach einer weiteren Abschiedsfeier am Sonntag, den 25. April, begleitet von der Ausstellung zahlreicher Bilder und Skulpturen, ermutigenden Reden des Rates der Guten Regierung und einem kommunalen Ball, reiste die Delegation am nächsten Tag von Morelia ab. Von dort aus erreichten sie den mexikanischen Hafen von Isla Mujeres, wo ein Schiff namens „La Montaña“ auf sie wartete und sie am 2. Mai zur Atlantiküberquerung in See stachen. Das Schwadron 421 ist nun den Launen des Ozeans ausgeliefert, unter der fähigen Seemannschaft der Schiffsbesatzung. In der zweiten Junihälfte sollten sie im Hafen von Vigo in Spanien in Sichtweite der europäischen Küste sein.

Gleichzeitig wurden kleinere Feiern mit Trommelklängen und allerlei Aufmunterungen organisiert, um die Abreise der anderen Mitglieder der zapatistischen Delegation zu begleiten, die ihre Dörfer im lakandonischen Dschungel verlassen und teilweise mit Kanus die Flüsse dieser tropischen Region nahe der guatemaltekischen Grenze hinunterfahren. Sie sind Teil verschiedener Gruppen der zapatistischen Delegation, die ab Anfang Juli den alten Kontinent erreichen werden, diesmal per Flugreise.

Damit beginnen für die Zapatistas Monate intensiver Aktivitäten, Treffen und Austausche in ganz Europa. Bisher haben sie Einladungen aus einer Vielzahl von „Geografien“ erhalten und angenommen: Österreich, Baskenland, Belgien, Bulgarien, Katalonien, Kroatien, Zypern, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Ungarn, Italien, Luxemburg, Norwegen, Niederlande, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Sardinien, Serbien, Slowenien, Spanien, Schweden, Schweiz, Türkei, UK und Ukraine.

Hunderte von Treffen und Aktivitäten sind den Zapatistas vorgeschlagen worden, die derzeit koordiniert werden. Diese Veranstaltungen werden von den organisierenden Kollektiven zu gegebener Zeit bekannt gegeben. Dies könnte auch größere Versammlungen/Rallies beinhalten, rund um alle aktuellen Kämpfe: Von den Gilets Jaunes bis zu den ZAD’s, im Falle Frankreichs, und anderen Widerstandsgruppen, die gegen zerstörerische Megaprojekte kämpfen; feministische Kollektive, Initiativen zur Unterstützung von Migrant_innen, Gruppen, die gegen Polizeigewalt kämpfen, sowie Bewegungen, die darauf abzielen, koloniale Formen der Herrschaft rückgängig zu machen; gegenseitige Hilfsnetzwerke in Städten und ländlichen Gebieten sowie solche, die sich für den Aufbau alternativer Lebensweisen engagieren; nicht zu vergessen die kritischen Mobilisierungsbemühungen, die durch, wie die Zapatistas betonen, die blutigen Tragödien unseres verwundeten Planeten erzwungen werden. Die Liste — hier unvollständig — ist lang in der riesigen Konstellation von Rebellionen gegen kapitalistische Brutalität und Kämpfen für andere, wünschenswertere Welten.

Vor allem haben die Zapatistas erklärt, dass sie kommen, um sich mit all jenen auszutauschen — das heißt, um mit jenen zu sprechen und noch mehr, um zuzuhören — die sie eingeladen haben, „um über unsere gemeinsamen Geschichten, unsere Leiden, unsere Wut, unsere Erfolge und unsere Misserfolge zu sprechen.“ Vor allem in Basistreffen, damit genügend Zeit bleibt, sich kennenzulernen und voneinander zu lernen.

Die Zapatistas haben schon lange dafür plädiert, dass unsere Kämpfe nicht voneinander isoliert bleiben und haben betont, wie wichtig es ist, globale Netzwerke des Widerstands und der Rebellion aufzubauen. Es ist nicht nötig, all die internationalen Veranstaltungen aufzuzählen, die sie in Chiapas organisiert haben, vom Ersten Interkontinentalen Treffen für die Menschlichkeit und gegen den Neoliberalismus im Jahr 1996 bis zum Seminar „Kritisches Denken im Angesicht der kapitalistischen Hydra“ im Jahr 2015. Doch im August 2019, während sie den jüngsten Fortschritt in der lokalen Selbstverwaltung mit der Gründung von vier neuen autonomen Gemeinden und sieben neuen Räten der Guten Regierung verkündeten, hatten die Zapatistas klar gemacht, dass sie keine großen Veranstaltungen mehr organisieren würden. Stattdessen planten sie, an „Treffen mit Gruppen, Kollektiven und Organisationen teilzunehmen, die innerhalb ihrer Geografien arbeiten [kämpfen].“

Von einer Tour durch die fünf Kontinente war damals nicht die Rede, aber es könnte — neben vielen anderen Gründen, sich auf eine solche Reise zu begeben — ein Weg sein, genau diesen Prozess zu initiieren. Wenn eine solche Herangehensweise tatsächlich mit dem weithin empfundenen Bedürfnis, stärkere Bande zwischen bestehenden Kämpfen zu knüpfen, übereinstimmen kann, dann erfordert dies nicht nur einen Austausch, um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu identifizieren, sondern vor allem eine Begegnung von Mensch zu Mensch, die eine Verbindung untereinander herstellen kann.

Die Zapatistas nennen diese Reise die „Reise für das Leben“ und sie wird einer großen Anzahl von Menschen die Möglichkeit bieten, die Zapatistas zu treffen und mehr von ihrem Experiment in Autonomie und Würde zu lernen, das sie über ein Vierteljahrhundert lang gegen überwältigende Widerstände durchgehalten haben. Und hoffentlich werden sich viele von dem Virus der Rebellion anstecken lassen, dessen Träger_innen die Zapatistas sind.

Hoffen wir auch, dass all jene, die sich mit der Erklärung für das Leben identifizieren und für die die Autonomie der Zapatista eine leuchtende Quelle der Sehnsucht und Inspiration ist, bereit sein werden, sie willkommen zu heißen, ihre umherziehende Initiative zu unterstützen und auf eine Art und Weise teilzunehmen, die für jeden einzelnen auf dieser Reise für das Leben am besten geeignet ist.

DER KONTINENT MIT DEM NAMEN „SLUMIL K’AJXEMK’OP“

Wir kehren zurück zum Schwadron 421. Seit der ersten Ankündigung haben die Zapatistas über ihre Reise nach Europa als einen umgekehrten Eroberungsprozess gesprochen. Die Idee der umgekehrten Invasion — dieses Mal mit Zustimmung — amüsiert sie. Offensichtlich wird es im Scherz gesagt — aber sind wir uns ganz sicher? Als die Delegation abreiste, spielten maßstabsgetreue Modelle ironisch auf die Karavellen von Christoph Kolumbus an: „No soy una Niña“ und „Santa Maria La Revancha“; aber es wurde auch klargestellt, dass erst wenn die Mitglieder des Schwadron 421 es schaffen, auf europäischem Boden zu landen, kann man wirklich sagen, dass „die Invasion begonnen hat.“ Wenn alles gut geht, werden sie am 13. August 2021 in Madrid sein, um auf ihre eigene Weise den fünfzigsten Jahrestag der Eroberung von Mexiko-Tenochtitlan durch die Armee von Hernan Cortés zu feiern.

Die indigene Bevölkerung von Chiapas hat, wie alle auf dem amerikanischen Kontinent, fünf Jahrhunderte lang unter den Folgen der Kolonisierung gelitten, einschließlich aller Formen des internen Kolonialismus und des Rassismus, die sie erweitern. Die Zapatista haben jedoch deutlich gemacht, dass sie nicht nach Madrid kommen, um eine formale Entschuldigung vom spanischen Staat oder der katholischen Kirche zu bekommen. Sie lehnen die essentialistische Verurteilung des „Westens“ als böse und den Kolonisatoren völlig assimiliert ab, ebenso wie die Haltung, die die Kolonisierten in die Rolle des Opfers drängt. Im Gegenteil, sie wollen den Spanier_innen sagen, „dass sie uns nicht besiegt haben [und] dass wir immer noch Widerstand leisten und uns sogar in offener Rebellion befinden.“

Das Schiff mit dem Namen „La Montaña“, das die Zapatista nach Europa bringen wird.

Diese Reise in umgekehrter Richtung zu machen, bedeutet, eine Geschichte zu nuancieren, die dem Sieger und dem Besiegten tief verwurzelte und eindeutige Positionen zugewiesen hat, und die Möglichkeit für eine alternative Geschichte zu eröffnen.

Wenn die maritime zapatistische Delegation Europa erreicht, ist es Marijose, „unoa otroa“ des Schwadrons 421, die als erste an Land gehen wird. So beschrieb Subcomandante Galeano die Szene im Voraus; eine Umkehrung der Geste, mit der Christoph Kolumbus — der am 12. Oktober 1492 weder als Eroberer noch als Entdecker an Land ging, da er nur die bereits bekannten Länder Japan und China finden wollte — sich beeilte, sein Kreuz zu pflanzen und der Insel Guanahaní den Namen San Salvador aufzuerlegen:

So wird der erste Fuß, der auf europäischen Boden gesetzt wird (das heißt, wenn sie uns von Bord gehen lassen), nicht der eines Mannes oder einer Frau sein. Es wird der Fuß einer anderen sein.

Mit dem, was der verstorbene SupMarcos als „eine Ohrfeige mit einem schwarzen Strumpf in das Gesicht aller heteropatriarchalen Linken“ bezeichnet hätte, wurde beschlossen, dass die erste Person, die von Bord geht, Marijose sein wird.

Sobald they beide Füße fest auf europäischen Boden gepflanzt hat und sich von der Seekrankheit erholt hat, wird Marijose ausrufen:

„Ergebt euch, ihr blassen, heteropatriarchalen Gesichter, die diejenigen schikanieren, die anders sind!“

Nee, war nur ein Scherz. Aber wäre es nicht gut, wenn they es täte?

Nein, beim Betreten des Landes wird die zapatistische Compa Marijose feierlich verkünden:

„Im Namen der Frauen, der Kinder, der Männer, der Ältesten und natürlich der anderen Zapatistas erkläre ich, dass der Name dieses Landes, das seine Eingeborenen heute „Europa“ nennen, von nun an bekannt sein wird als: SLUMIL K’AJXEMK’OP, was „Rebell_innenland“ oder „Land, das nicht aufgibt, das nicht versagt“ bedeutet. Und so wird es sowohl bei seinen Bewohner_innen als auch bei Fremden bekannt sein, solange es jemanden gibt, der nicht aufgibt, der sich nicht verkauft und der nicht kapituliert.“

Willkommen, compañeroas, compañeras und compañeros zapatistas, in den verschiedenen Geografien des Kontinents, der bald in Slumil K’ajxemk’op umbenannt werden wird.

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Quelle: Schwarzerpfeil.de