Kürzlich brachten Durchsuchungen bei dem freien Sender Radio Dreyeckland (RDL) und zwei seiner Redakteure das – 2017 vom Bundesinnenministerium verfügte – Verbot des angeblichen „Verein[s] ‚linksunten.indymedia‘“ in Erinnerung. Gemeint war damals die Webseite (open posting-Plattform) linksunten.indymedia.org.
Wegen des Verbotes kam es bereits 2020 zu einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig, die eine gute und eine schlechte Nachricht enthielt:
- Die gute Nachricht ist, dass nicht das Internetportal verboten worden sei, sondern vielmehr der „Personenzusammenschluss“ (‚Verein‘), der „linksunten“ herausgegeben hatte.
- Die schlechte Nachricht ist, dass über das Verbot selber (also die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Verbotes des Personenzusammenschlusses) nicht entschieden wurde:
„Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist zur Anfechtung des Verbots einer Vereinigung regelmäßig nur die verbotene Vereinigung befugt, nicht hingegen ein Mitglied. Die Verbotsverfügung betrifft nicht die individuelle Rechtsstellung natürlicher Personen, sondern die Rechtsstellung der verbotenen Vereinigung als einer Gesamtheit von Personen. Sofern das Vereinsverbot Rechte verletzt, können dies nur Rechte der verbotenen organisierten Personengesamtheit sein. […]. Einzelne Personen sind […] nach der bisherigen Rechtsprechung gemäß § 42 Abs. 2 VwGO nur zur Anfechtung eines Vereinsverbots befugt, wenn die Verbotsverfügung zu ihren Händen ergangen ist und sie in materieller Hinsicht geltend machen, sie bildeten keinen Verein im Sinne des § 2 Abs. 1 VereinsG. Trifft dieser Einwand zu, ist die Verfügung aufzuheben, ansonsten ist die Klage abzuweisen, ohne dass das Vorliegen von Verbotsgründen nach § 3 Abs. 1 VereinsG i.V.m. Art. 9 Abs. 2 GG zu prüfen ist […]. Auch das von der Klägerin reklamierte Interesse an einer Klärung der Rechtslage im Falle einer künftigen Betätigung im Rahmen einer vergleichbaren Vereinigung eröffnet keine Möglichkeit zur Überprüfung der materiellen Verbotsgründe.“
(https://www.bverwg.de/de/290120U6A1.19.0, Tz. 15 und 16 sowie 27; Hv. hinzugefügt)
Geklagt hatten (aber) die vier Personen, denen die Verbotsverfügung 2017 zugestellt wurden und die in der Schwebe ließen, ob sie überhaupt etwas mit linksunten zu tun hatten, und nicht der (tatsächliche) BetreiberInnenkreis von linksunten als Kollektiv (in der Diktion des Bundesinnenministeriums: „Verein“).
Gegen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts wandten sich die KlägerInnen anschließend mit Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe. Über diese Verfassungsbeschwerde hat das BVerfG am 1. Februar 2023 entschieden, wie jetzt erst aufgrund eines Berichtes der Legal Tribune Online bekannt wurde.
Es sei an dieser Stelle – für Leute (so wie ich), die nicht so juristisch vorinformiert sind – ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese beiden Verfahren (Verwaltungsgericht und Verfassungsgericht) zwei unterschiedliche Sachen sind:
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Die Verfassungsbeschwerde hätte klären sollen, ob das Bundesverwaltungsgericht Grundrechte verletzt hat.
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Aber genau diese Prüfung hat nicht stattgefunden, weil die Klägerinnen zwar die Rechtmäßigkeit der Verbotsverfügung in Frage stellten; aber genau darum ging es im im Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht mehr (oder nur noch indirekt). Im Schulaufsatz hätte die Lehrkraft geschrieben: „Thema verfehlt.“
Das BVerfG drückt es etwas nonchalanter aus: „Insbesondere die Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichts, das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 1 GG [„Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.“] gestatte dem einzelnen Mitglied nicht, die Verbotsverfügung in eigenem Namen anzugreifen, wird nicht substantiiert angegriffen.“ („Substantiieren“ meint soviel wie hinreichend begründen / untermauern.)
Das Bundesverfassungsgericht sagt nicht, die Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts sei richtig (es nennt vielmehr sogar Literaturstellen, die die Auffassung des BVerwG kritisieren); das Bundesverfassungsgericht sagt: ‚Die VerfassungsbeschwerdeführerInnen (also deren AnwältInnen) – deren Aufgabe das zuvorderst gewesen wäre – haben (fast) keine Argumente zu dieser entscheidenden Frage vorgebracht!‘
Das Entscheidungsergebnis des Bundesverfassungsgerichts ist also: Es gibt keines – die Verfassungsbeschwerde wurde gar nicht erst zur Entscheidung angenommen, da der Vortrag der BeschwerdeführerInnen „nicht substantiiert“ sei, so das Bundesverfassungsgericht.
Über die Frage, woran das liegt und was diese Entscheidung für Radio Dreyeckland bedeutet, habe ich mit Detlef Georgia Schulze gesprochen.
I. Die erste Frage
Das Bundesverfassungsgericht hat kürzlich eine Verfassungsbeschwerde im Zusammenhang mit dem ‚linksunten-Verbot‘ nicht zur Entscheidung angenommen. – Dazu zunächst einmal zwei Fragen: 1. Was heißt „nicht zur Entscheidung angenommen“, wo es doch augenscheinlich eine Entscheidung gibt. Und 2.: Ist der BVerfG-Beschluß nicht ein schlechtes Omen für die Beschwerden, die gegen die Durchsuchungsbeschlüsse im Fall „Radio Dreyeckland“ eingelegt wurden?
II. Das komplette Interview
Der komplette erste Teil des Interviews befindet sich im .pdf-Anhang zu diesem Artikel
III. Vielleicht der politische Kern des Interviews: Das Dilemma, vor dem die AdressatInnen der Verbotsverfügung standen
Frage: Die vermeintlichen HerausgeberInnen standen vor dem Dilemma, um klagebefugt zu sein, hätten sie sich zu „linksunten“ bekennen müssen. Auf der anderen Seite hatten sie aber auch keine Lust, sich in die strafrechtlichen Nesseln zu setzen. Was ja verständlich ist. Was wäre denn Deiner Meinung nach, eine „richtige“ Prozessstrategie und -taktik gewesen?
Antwort: Meines Erachtens wäre am Anfang eine klare politische und persönliche Entscheidung nötig gewesen: Ist strafrechtliche Risikominimierung das Wichtigste? Dann war die Klage vor dem Bundesverwaltungsgericht von vornherein nutzlos und, Spenden dafür zu sammeln, Unsinn (um nicht nicht sagen: Nepp gegenüber den SpenderInnen). Denn strafrechtliche Risikominimierung schloß aus, vor dem Bundesverwaltungsgericht als Mitglieder und gar VertreterInnen des HerausgeberInnen-Kreises von linksunten aufzutreten.
Sollte dagegen der verwaltungsrechtliche Kampf gegen das Verbot im Vordergrund stehen, dann hätten die strafrechtlichen Risiken in Kauf genommen werden müssen und die Klage hätte von dem BetreiberInnen-Kreis als Kollektiv eingereicht werden müssen. (Im Falle eines Klageerfolgs wären dann auch die strafrechtlichen Risiken vom Tisch gewesen; im Falle eines Mißerfolges wäre es bitter geworden.)
Mit anderen Worten: Die Betroffenen befanden sich vor dem Bundesverwaltungsgericht in der für – mutmaßliche – Linksradikale ungewöhnlichen Rolle von KlägerInnen eines verwaltungsgerichtlichen Prozesses, aber sie agierten – aus durchaus nachvollziehbaren Gründen – wie Angeklagte in einem Strafprozess. Das heißt: Es kam zu einer Art ‚Rollenkonflikt‘: Die KlägerInnen befanden sich in einem Verwaltungsgerichtsprozess, aber agierten wie Angeklagte in einem Strafprozess. So sagte Rechtsanwalt Sven Adam aus Anlaß der Klageerhebung beim Bundesverwaltungsgericht: „Aus den uns bislang vorliegenden Unterlagen ist nicht ersichtlich, […] was die Betroffenen der Durchsuchungen damit zu tun haben sollen“. So argumentieren normaler- und richtigerweise Angeklagte in einem Strafprozess: Die Staatsanwaltschaft hat keine Beweise; aber bei ihr liege die Beweislast: „Im Zweifel für den/die AngeklagteN.“ Für einen Kläger oder eine Klägerin in einem Verwaltungsgerichtsprozess ist dagegen gerade erforderlich, das Gericht davon zu überzeugen, daß er/sie selbst von Sache betroffen ist und nicht nur eine sog. „Popularklage“ einreicht. (Eine „Popularklage“ ist eine Klage, die jedes Bevölkerungsmitglied erheben darf; eine solche ist aber in der Bundesrepublik – mit ganz eng begrenzten Ausnahmen – gerade nicht zulässig.)
Nun können wir aber von Carl von Clausewitz wissen, dass die Defensive insofern die ‚stärkere‘ Position ist, als
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ein Kräftegleichgewicht genügt, um das – defensive – Kriegsziel (‚die eigene Stellung halten‘) zu realisieren,
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während dagegen die Realisierung eines offensiven Kriegsziels (‚die gegnerische Stellung erobern‘) eine Kräfteübergewicht der angreifenden Partei erfordert.
Im juristischen Feld sind KlägerInnen die angreifende Partei, dagegen Angeklagte (im Strafprozess) und Beklagte (in den anderen Prozessarten) die defensive Partei. – Agiert nun auf dem juristischen Feld eine angreifende (klagende) Partei wie eine defensive (beklagte oder angeklagte) Partei, wird sie verlieren – ihr Prozessziel nicht erreichen: „Jedes Unterlassen des Angriffs aus falscher Ansicht, aus Furcht, aus Trägheit, kommt dem Verteidiger zugute.“ (Clausewitz, s. noch mal FN 27)
Eine dritte Möglichkeit wäre gewesen, das Verbot juristisch hinzunehmen, aber sich ihm politisch nicht zu beugen, sondern linksunten – notfalls mit neuen Leuten und ausschließlich im darknet – weiterzubetreiben.
Eine solche Prioritätensetzung erfolgte aber zu keinem Zeitpunkt – und zwar weder seitens derjenigen, denen die Verbotsverfügung vom BMI zugestellt worden war, noch seitens der unbekannten tatsächlichen früheren BetreiberInnen von linksunten.
IV. Gliederung des Interview
1. Der an diesen Artikel angehängte Teil
Die BVerfG-Entscheidung vom 1. Februar 2023 – ein schlechtes Omen für Radio Dreyckland?
Das ‚linksunten-Verbot‘ – Mißbrauch oder Gebrauch des Vereinsrechts?
Zum Unterschied zwischen Mediums-Inhalt und Mediums-HerausgeberInnen
Bisherige Organisationsverbote im Medienbereich
Welche Kritik an dem ‚linksunten-Verbot‘?
Das Dilemma, vor dem die AdressatInnen der Verbotsverfügung standen
Digesten: „beati sunt possidentes“ (Glücklich sind die, die etwas zu verteidigen haben) / Carl von Clausewitz: „Verteidigung [ist] bei vorausgesetzten gleichen Mitteln leichter […] als der Angriff“
Welche Schlußfolgerungen können wir aus den Erfahrungen vor BVerwG und BVerfG ziehen?
2. Fortsetzung die folgt
Wenn Rechtsopportunismus und Rechtsnihilismus in Legalismus konvergieren
Was ist erforderlich, um befugt zu sein, gegen ein Vereinsverbot zu klagen?
Die Weite des vereinsgesetzlichen Vereins-Begriffs
Das Bundesverwaltungsgericht liest schlecht
Das Bundesverfassungsgericht hat dagegen Artikel 9 Grundgesetz gelesen und wohl auch verstanden
Auswege aus einer Zwickmühle
Viele Streitpunkte – wie ist da möglich, den Überblick zu behalten (oder überhaupt erst zu bekommen)?
Quelle: De.indymedia.org