Ein Mitarbeiter vom Unternehmen Leag steht bei einer Protestveranstaltung vor einer Uhr auf der es gerade 5 Minuten vor 12 Uhr ist. Foto: dpa/Patrick Pleul
Nach knapp zwei StunÂden VorÂtrĂ€Âgen und DisÂkusÂsiÂon in der Alten FĂ€rÂbeÂrei von Guben (Spree-NeiÂĂe) platzt einem ZuhöÂrer der KraÂgen. »Sind die PolitÂker plempÂlem, die sowas entÂscheiÂden? Mir kommt die GalÂle hoch«, schimpft er. Von den 40 MilÂliÂarÂden Euro, die fĂŒr den StrukÂturÂwanÂdel im RheiÂniÂschen, LauÂsitÂzer und MitÂtelÂdeutÂschen BraunÂkohÂleÂreÂvier gedacht sind, flieÂĂen 200 MilÂlioÂnen Euro fĂŒr eine FiliaÂle des Robert-Koch-InstiÂtuts in Wildau bei BerÂlin â weit weg von den TageÂbauÂen, die stillÂgeÂlegt werÂden. Es gehe um 15â000 ArbeitsÂplĂ€tÂze, die der LauÂsitz durch den KohÂleÂausÂstieg verÂloÂren gehen, erinÂnert der Mann. Die KohÂleÂkumÂpel, »das sind MaloÂcher und keiÂne MediÂziÂner«, sagt er zu der Absicht, eine MilÂliÂarÂde Euro in eine MediÂziÂniÂsche FakulÂtĂ€t in CottÂbus zu stecken.
Der erregÂte EinÂwurf zeigt, wie angeÂspannt die NerÂven in der LauÂsitz sind. Dabei ist der eheÂmaÂliÂge LandÂtagsÂabÂgeÂordÂneÂte MatÂthiÂas Loehr (LinÂke) fest ĂŒberÂzeugt: »Die Lage in der RegiÂon ist viel besÂser als die StimÂmung.« Nach JahÂren als BĂŒroÂleiÂter von BunÂdesÂtagsÂabÂgeÂordÂneÂten, als LandÂtagsÂabÂgeÂordÂneÂter und als RefeÂrent der LandÂtagsÂfrakÂtiÂon leiÂtet Loehr jetzt das LauÂsitÂzer DGB-ProÂjekt RevierÂwenÂde. Drei MitÂarÂbeiÂter hat er in GörÂlitz, zu dritt sind sie auch im CottÂbuÂser BĂŒro. Im Juni kommt eine sieÂbenÂte Kraft dazu. FinanÂziert wird das ProÂjekt des DeutÂschen GewerkÂschaftsÂbunÂdes im RheiÂniÂschen und im MitÂtelÂdeutÂschen Revier aus den MitÂteln von Bund und LĂ€nÂdern fĂŒr den StrukÂturÂwanÂdel der KohÂleÂreÂgioÂnen. »Wir verÂsteÂhen uns als AnsprechÂpartÂner fĂŒr alle, die sich mit dem StrukÂturÂwanÂdel befasÂsen«, erlĂ€uÂtert Loehr. »Wir gehen zu den BetriebsÂrĂ€Âten in den RevieÂren, um ihre Ideen zu erfahÂren.« WeiÂterÂhin werÂden im ProÂjekt VerÂanÂstalÂtunÂgen geplant, SchuÂlunÂgen solÂlen entÂwiÂckelt werÂden. Ăber allem steht das Ziel, gute ArbeitsÂplĂ€tÂze zu schafÂfen oder zu sichern.
Loehr nennt als BeiÂspiel LaboÂre, die im Moment ausÂschlieĂÂlich fĂŒr die BraunÂkohÂleÂindusÂtrie tĂ€tig sind. Die könnÂten sich neue KunÂden suchen. Die laborÂtechÂniÂsche AnaÂlyÂse von WasÂser und SchmierÂstofÂfen sei schlieĂÂlich auch fĂŒr andeÂre IndusÂtrieÂzweiÂge notÂwenÂdig. PerÂspekÂtiÂven brauÂche auch der WagÂgonÂbau im sĂ€chÂsiÂschen NiesÂky, der einer sloÂwaÂkiÂschen HolÂding gehört. Der FirÂma gehe es seit JahÂren nicht gut, StelÂlen seiÂen abgeÂbaut worÂden, bedauÂert Loehr. Ins Auge gefasst sei jetzt ein TestÂring fĂŒr SchieÂnenÂfahrÂzeuÂge, um wieÂder mehr WertÂschöpÂfung zu geneÂrieÂren. Ob das machÂbar ist, soll unterÂsucht werden.
Die meisÂte AufÂmerkÂsamÂkeit erhĂ€lt gegenÂwĂ€rÂtig das CottÂbuÂser BahnÂwerk. Dort entÂsteÂhen bis 2026 zwei neue HalÂlen zur InstandÂhalÂtung von ICE-ZĂŒgen. BunÂdesÂkanzÂler Olaf Scholz (SPD) war am 10. Mai zum symÂboÂliÂschen ersÂten SpaÂtenÂstich auf der BauÂstelÂle. VerÂsproÂchen sind 1200 zusĂ€tzÂliÂche Jobs. Loehr hĂ€lt das fĂŒr bemerÂkensÂwert, weil am nahen CottÂbuÂser HauptÂbahnÂhof gar keiÂne ICE halÂten. Die AusÂwahl des StandÂorts sei also keiÂne SelbstÂverÂstĂ€ndÂlichÂkeit geweÂsen. »StrukÂturÂwanÂdel ist ein StĂŒck weit auch PsyÂchoÂloÂgie. Die DeutÂsche Bahn macht das herÂvorÂraÂgend«, finÂdet Loehr. Es verÂgeÂhe kaum ein Tag, an dem nichts ĂŒber das BahnÂwerk in der ZeiÂtung steÂhe. Das mache Mut. SpĂ€ÂtesÂtens 2038 soll mit SchwarÂze PumÂpe das dann letzÂte KohÂleÂkraftÂwerk in der NieÂderÂlauÂsitz abgeÂschalÂtet werÂden. Dass es danach an ArbeitsÂplĂ€tÂzen fehÂlen werÂde, glaubt Loehr mittÂlerÂweiÂle nicht mehr. Im GegenÂteil: Man brauÂche noch Zuzug. Als Anfang der 1990er JahÂre auf einen Schlag mehÂreÂre TageÂbaue stillÂgeÂlegt worÂden sind, als es MasÂsenÂentÂlasÂsunÂgen gab â »das war kein StrukÂturÂwanÂdel wie jetzt, sonÂdern ein StrukÂturÂbruch«, erinÂnert Loehr. Damals wanÂderÂte die Jugend ab. ZurĂŒckÂgeÂblieÂben sind die Alten, die keiÂnen NeuÂanÂfang in der FremÂde wagen wollÂten und konnten.
InzwiÂschen mĂŒsÂse nieÂmand mehr die HeiÂmat verÂlasÂsen, verÂsiÂchert Loehr. Wie aber RĂŒckÂkehÂrer anloÂcken? Ralph HomeisÂter, parÂteiÂloÂser BĂŒrÂgerÂmeisÂter von SchenÂkendöÂbern, hĂ€lt eine funkÂtioÂnieÂrenÂde soziaÂle InfraÂstrukÂtur fĂŒr unerÂlĂ€ssÂlich. Er beschwert sich am DiensÂtagÂabend in der Alten FĂ€rÂbeÂrei, dass Kitas und SchuÂlen nur im AusÂnahÂmeÂfall komÂplett mit den StrukÂturÂhilÂfen zu finanÂzieÂren sind. Eine AntÂwort gibt Gubens BĂŒrÂgerÂmeisÂter Fred Mahro (CDU): Man könÂne den jahÂreÂlanÂgen SanieÂrungsÂstau bei SchuÂlen und TurnÂhalÂlen jetzt nicht einÂfach mit den StrukÂturÂmitÂteln aufÂlöÂsen. »DafĂŒr ist das Geld nicht da.« Es sei in ersÂter Linie dafĂŒr gedacht, Ersatz fĂŒr die Jobs in TageÂbauÂen und KraftÂwerÂken zu schafÂfen. So wie Loehr befĂŒrchÂtet Mahro kein AnsteiÂgen der ArbeitsÂloÂsenÂzahÂlen. Es gehen ja mehr LeuÂte in RenÂte, als SchulÂabÂgĂ€nÂger nachÂrĂŒÂcken. »Der FachÂkrĂ€fÂteÂmanÂgel ist jetzt schon da«, erklĂ€rt BĂŒrÂgerÂmeisÂter Mahro. »Ich bin mir sicher, dass jeder BergÂmann eine neue Arbeit finÂdet. NieÂmand muss wegÂgeÂhen aus der HeiÂmat.« Mahro warnt vor PanikÂmaÂche. »Angst treibt die LeuÂte zu falÂschen EntÂscheiÂdunÂgen â auch an der WahlÂurÂne. Mit OptiÂmisÂmus kann man die zurĂŒckholen.«
24,3 ProÂzent holÂte die AfD bei der BunÂdesÂtagsÂwahl 2021 in CottÂbus und Spree-NeiÂĂe, in ganz BranÂdenÂburg waren es nur 18,1 ProÂzent. Die StimÂmungsÂmaÂche gegen den KohÂleÂausÂstieg hatÂte sich fĂŒr die ParÂtei wieÂder einÂmal ausÂgeÂzahlt. Dabei gibt es nach Ansicht von MatÂthiÂas Loehr Â»ĂŒberÂhaupt keiÂnen Grund, PesÂsiÂmisÂmus zu verÂbreiÂten«. Von 7000 Jobs bei der LauÂsitÂzer EnerÂgie AG (Leag) solÂlen 4500 erhalÂten bleiÂben. Die Leag sucht sich neue GeschĂ€ftsÂfelÂder, invesÂtiert in WindÂrĂ€Âder, SolarÂanÂlaÂgen, WasÂserÂstoffÂtechÂnoÂloÂgie und eine MĂŒllÂverÂbrenÂnungsÂanÂlaÂge. Dass man in Zukunft 90 AusÂbilÂdungsÂplĂ€tÂze anbieÂten will, spricht nach Ansicht von Loehr fĂŒr die ZuverÂsicht, nicht unterzugehen.
»Wenn der StrukÂturÂwanÂdel gelinÂgen soll«, lauÂtet der hĂ€uÂfigsÂte SatzÂbeÂginn des Abends. Loehr beenÂdet den Satz mit: »sind wir auf Zuzug angeÂwieÂsen«. BĂŒrÂgerÂmeisÂter HomeisÂter erklĂ€rt, dann »brauÂchen wir nicht nur ArbeitsÂplĂ€tÂze« â auch die soziaÂle InfraÂstrukÂtur mĂŒsÂse »mitÂwachÂsen«.
Quelle: Inforiot.de