Mai 25, 2022
Von InfoRiot
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Ein Mitarbeiter vom Unternehmen Leag steht bei einer Protestveranstaltung vor einer Uhr auf der es gerade 5 Minuten vor 12 Uhr ist.

Ein Mitarbeiter vom Unternehmen Leag steht bei einer Protestveranstaltung vor einer Uhr auf der es gerade 5 Minuten vor 12 Uhr ist.

Foto: dpa/Patrick Pleul

Nach knapp zwei Stun­den Vor­trÀ­gen und Dis­kus­si­on in der Alten FĂ€r­be­rei von Guben (Spree-Nei­ße) platzt einem Zuhö­rer der Kra­gen. »Sind die Polit­ker plemp­lem, die sowas ent­schei­den? Mir kommt die Gal­le hoch«, schimpft er. Von den 40 Mil­li­ar­den Euro, die fĂŒr den Struk­tur­wan­del im Rhei­ni­schen, Lau­sit­zer und Mit­tel­deut­schen Braun­koh­le­re­vier gedacht sind, flie­ßen 200 Mil­lio­nen Euro fĂŒr eine Filia­le des Robert-Koch-Insti­tuts in Wildau bei Ber­lin – weit weg von den Tage­bau­en, die still­ge­legt wer­den. Es gehe um 15 000 Arbeits­plĂ€t­ze, die der Lau­sitz durch den Koh­le­aus­stieg ver­lo­ren gehen, erin­nert der Mann. Die Koh­le­kum­pel, »das sind Malo­cher und kei­ne Medi­zi­ner«, sagt er zu der Absicht, eine Mil­li­ar­de Euro in eine Medi­zi­ni­sche Fakul­tĂ€t in Cott­bus zu stecken.

Der erreg­te Ein­wurf zeigt, wie ange­spannt die Ner­ven in der Lau­sitz sind. Dabei ist der ehe­ma­li­ge Land­tags­ab­ge­ord­ne­te Mat­thi­as Loehr (Lin­ke) fest ĂŒber­zeugt: »Die Lage in der Regi­on ist viel bes­ser als die Stim­mung.« Nach Jah­ren als BĂŒro­lei­ter von Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten, als Land­tags­ab­ge­ord­ne­ter und als Refe­rent der Land­tags­frak­ti­on lei­tet Loehr jetzt das Lau­sit­zer DGB-Pro­jekt Revier­wen­de. Drei Mit­ar­bei­ter hat er in Gör­litz, zu dritt sind sie auch im Cott­bu­ser BĂŒro. Im Juni kommt eine sie­ben­te Kraft dazu. Finan­ziert wird das Pro­jekt des Deut­schen Gewerk­schafts­bun­des im Rhei­ni­schen und im Mit­tel­deut­schen Revier aus den Mit­teln von Bund und LĂ€n­dern fĂŒr den Struk­tur­wan­del der Koh­le­re­gio­nen. »Wir ver­ste­hen uns als Ansprech­part­ner fĂŒr alle, die sich mit dem Struk­tur­wan­del befas­sen«, erlĂ€u­tert Loehr. »Wir gehen zu den Betriebs­rÀ­ten in den Revie­ren, um ihre Ideen zu erfah­ren.« Wei­ter­hin wer­den im Pro­jekt Ver­an­stal­tun­gen geplant, Schu­lun­gen sol­len ent­wi­ckelt wer­den. Über allem steht das Ziel, gute Arbeits­plĂ€t­ze zu schaf­fen oder zu sichern.

Loehr nennt als Bei­spiel Labo­re, die im Moment aus­schließ­lich fĂŒr die Braun­koh­le­indus­trie tĂ€tig sind. Die könn­ten sich neue Kun­den suchen. Die labor­tech­ni­sche Ana­ly­se von Was­ser und Schmier­stof­fen sei schließ­lich auch fĂŒr ande­re Indus­trie­zwei­ge not­wen­dig. Per­spek­ti­ven brau­che auch der Wag­gon­bau im sĂ€ch­si­schen Nies­ky, der einer slo­wa­ki­schen Hol­ding gehört. Der Fir­ma gehe es seit Jah­ren nicht gut, Stel­len sei­en abge­baut wor­den, bedau­ert Loehr. Ins Auge gefasst sei jetzt ein Test­ring fĂŒr Schie­nen­fahr­zeu­ge, um wie­der mehr Wert­schöp­fung zu gene­rie­ren. Ob das mach­bar ist, soll unter­sucht werden.

Die meis­te Auf­merk­sam­keit erhĂ€lt gegen­wĂ€r­tig das Cott­bu­ser Bahn­werk. Dort ent­ste­hen bis 2026 zwei neue Hal­len zur Instand­hal­tung von ICE-ZĂŒgen. Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz (SPD) war am 10. Mai zum sym­bo­li­schen ers­ten Spa­ten­stich auf der Bau­stel­le. Ver­spro­chen sind 1200 zusĂ€tz­li­che Jobs. Loehr hĂ€lt das fĂŒr bemer­kens­wert, weil am nahen Cott­bu­ser Haupt­bahn­hof gar kei­ne ICE hal­ten. Die Aus­wahl des Stand­orts sei also kei­ne Selbst­ver­stĂ€nd­lich­keit gewe­sen. »Struk­tur­wan­del ist ein StĂŒck weit auch Psy­cho­lo­gie. Die Deut­sche Bahn macht das her­vor­ra­gend«, fin­det Loehr. Es ver­ge­he kaum ein Tag, an dem nichts ĂŒber das Bahn­werk in der Zei­tung ste­he. Das mache Mut. SpÀ­tes­tens 2038 soll mit Schwar­ze Pum­pe das dann letz­te Koh­le­kraft­werk in der Nie­der­lau­sitz abge­schal­tet wer­den. Dass es danach an Arbeits­plĂ€t­zen feh­len wer­de, glaubt Loehr mitt­ler­wei­le nicht mehr. Im Gegen­teil: Man brau­che noch Zuzug. Als Anfang der 1990er Jah­re auf einen Schlag meh­re­re Tage­baue still­ge­legt wor­den sind, als es Mas­sen­ent­las­sun­gen gab – »das war kein Struk­tur­wan­del wie jetzt, son­dern ein Struk­tur­bruch«, erin­nert Loehr. Damals wan­der­te die Jugend ab. ZurĂŒck­ge­blie­ben sind die Alten, die kei­nen Neu­an­fang in der Frem­de wagen woll­ten und konnten.

Inzwi­schen mĂŒs­se nie­mand mehr die Hei­mat ver­las­sen, ver­si­chert Loehr. Wie aber RĂŒck­keh­rer anlo­cken? Ralph Homeis­ter, par­tei­lo­ser BĂŒr­ger­meis­ter von Schen­kendö­bern, hĂ€lt eine funk­tio­nie­ren­de sozia­le Infra­struk­tur fĂŒr uner­lĂ€ss­lich. Er beschwert sich am Diens­tag­abend in der Alten FĂ€r­be­rei, dass Kitas und Schu­len nur im Aus­nah­me­fall kom­plett mit den Struk­tur­hil­fen zu finan­zie­ren sind. Eine Ant­wort gibt Gubens BĂŒr­ger­meis­ter Fred Mahro (CDU): Man kön­ne den jah­re­lan­gen Sanie­rungs­stau bei Schu­len und Turn­hal­len jetzt nicht ein­fach mit den Struk­tur­mit­teln auf­lö­sen. »DafĂŒr ist das Geld nicht da.« Es sei in ers­ter Linie dafĂŒr gedacht, Ersatz fĂŒr die Jobs in Tage­bau­en und Kraft­wer­ken zu schaf­fen. So wie Loehr befĂŒrch­tet Mahro kein Anstei­gen der Arbeits­lo­sen­zah­len. Es gehen ja mehr Leu­te in Ren­te, als Schul­ab­gĂ€n­ger nach­rĂŒÂ­cken. »Der Fach­krĂ€f­te­man­gel ist jetzt schon da«, erklĂ€rt BĂŒr­ger­meis­ter Mahro. »Ich bin mir sicher, dass jeder Berg­mann eine neue Arbeit fin­det. Nie­mand muss weg­ge­hen aus der Hei­mat.« Mahro warnt vor Panik­ma­che. »Angst treibt die Leu­te zu fal­schen Ent­schei­dun­gen – auch an der Wahl­ur­ne. Mit Opti­mis­mus kann man die zurĂŒckholen.«

24,3 Pro­zent hol­te die AfD bei der Bun­des­tags­wahl 2021 in Cott­bus und Spree-Nei­ße, in ganz Bran­den­burg waren es nur 18,1 Pro­zent. Die Stim­mungs­ma­che gegen den Koh­le­aus­stieg hat­te sich fĂŒr die Par­tei wie­der ein­mal aus­ge­zahlt. Dabei gibt es nach Ansicht von Mat­thi­as Loehr Â»ĂŒber­haupt kei­nen Grund, Pes­si­mis­mus zu ver­brei­ten«. Von 7000 Jobs bei der Lau­sit­zer Ener­gie AG (Leag) sol­len 4500 erhal­ten blei­ben. Die Leag sucht sich neue GeschĂ€fts­fel­der, inves­tiert in Wind­rÀ­der, Solar­an­la­gen, Was­ser­stoff­tech­no­lo­gie und eine MĂŒll­ver­bren­nungs­an­la­ge. Dass man in Zukunft 90 Aus­bil­dungs­plĂ€t­ze anbie­ten will, spricht nach Ansicht von Loehr fĂŒr die Zuver­sicht, nicht unterzugehen.

»Wenn der Struk­tur­wan­del gelin­gen soll«, lau­tet der hĂ€u­figs­te Satz­be­ginn des Abends. Loehr been­det den Satz mit: »sind wir auf Zuzug ange­wie­sen«. BĂŒr­ger­meis­ter Homeis­ter erklĂ€rt, dann »brau­chen wir nicht nur Arbeits­plĂ€t­ze« – auch die sozia­le Infra­struk­tur mĂŒs­se »mit­wach­sen«.




Quelle: Inforiot.de