
Gliederung:
IdentitÀtspolitik und Klassenpolitik
Die âmarxistische Sichtâ â und was der Fehler an ihr ist
Marxistischer und feministischer Reproduktions-Begriff
IdentitĂ€t â Erfahrung â SolidaritĂ€t
Nancy Fraser und Antidiskriminierungspolitik
Zu jedem Innen gehört ein AuĂen
Unterordnung feministischer, antirassistischer und anti-homophober KĂ€mpfe unter âkollektives IdentitĂ€tsbewusstsein als Klasseâ â die Nebenwiderspruchs-Politik der Gruppe Linkswende
Verdienst und Grenzen der leninschen Ăkononismus-Kritik
IdentitÀtspolitik und Klassenpolitik
In dem erstgenannten Artikel heiĂt es zwar zunĂ€chst recht wohlwollend ĂŒber sog. IdentitĂ€tspolitik:
âAndere [als Martin Luther King], wie Malcolm X, einer der AnfĂŒhrer der Nation of Islam, gingen einen konfrontativeren Weg. Sie beharrten darauf, dass die schwarze Bevölkerung genau auf ihre IdentitĂ€t als Afroamerikaner, die von den WeiĂen als Rechtfertigung fĂŒr die UnterdrĂŒckung verwendet wurde, stolz sein soll.
Dazu gehörte auch das bewusste sich Lossagen von weiĂen Schönheitsidealen und die Betonung: âBlack is beautifulâ. Bekannte Vertreter_innen der Black Power-Bewegung, wie Angela Davis, trugen stolz ihren Afro-Look und halfen so vielen Menschen, Selbstbewusstsein fĂŒr den weiteren Kampf um Gleichberechtigung zu gewinnen.â
Die âmarxistische Sichtâ â und was der Fehler an ihr ist
So dann wird aber unter der Ăberschrift âHauptnenner Klasseâ behauptet:
âTrotz dieser Erfolge gibt es aus marxistischer Sicht aber einen entscheidenden Punkt, den die IdentitĂ€tspolitik vernachlĂ€ssigt, nĂ€mlich, dass UnterdrĂŒckung als eine Funktion von Klassengesellschaften auftritt. Ausbeutung funktioniert nicht, ohne die Ausgebeuteten auf die eine oder andere Weise zu unterdrĂŒcken â mit Gewalt, Rassismus oder Sexismus.
Indem man sich nur auf das Element der UnterdrĂŒckung konzentriert, wird die tiefste Kluft in der Gesellschaft, die zwischen den Klassen, nicht nur ausgeblendet, sondern auch ihre Rolle als Basis der UnterdrĂŒckung verkannt. Das kapitalistische System basiert auf der Ausbeutung der Arbeiter_innenklasse durch die Klasse der Kapitalisten.â
Genau das ist der Fehler der âmarxistischer Sichtâ:
1. DaĂ etwas eine bestimmte âFunktionâ erfĂŒllt (genauer: einen bestimmten Effekt hervorbringt) heiĂt noch nicht, daĂ es dieser âEffektâ oder jene âFunktionâ auch die Ursache des in Rede stehenden Etwas ist [2].
2. Auch die bloĂe FunktionalitĂ€t (im Unterschied zu: UrsĂ€chlichkeit) ist fraglich:
Wieso sollte es fĂŒr Klassenherrschaft im allgemeinen oder das Kapital insbesondere âfunktionalâ sein, daĂ MĂ€nner Frauen schlagen und vergewaltigen? [3] Streiken schlagende MĂ€nner weniger?
Warum sollte es fĂŒr das Kapital âfunktionalâ sein, wenn Frauen in die unentlohnte Hausarbeit gedrĂ€ngt werden, wenn es im Gegenzug MĂ€nnern einen âFamilienlohnâ zahlen muĂ, damit sie ihre Ehefrauen und Kinder unterhalten können?
Auch in Bezug auf die Lohndiskriminierung erwerbstĂ€tiger Frauen ist die FunktionalitĂ€t-These nicht schlĂŒssig: FĂŒr das Kapital ist vor allem die Lohnsumme fĂŒr eine bestimmte Summe an Erwerbsarbeitszeit von Interesse â und nicht, wie diese auf Frauen und MĂ€nner verteilt wird. Der âMĂ€nner-Lohnâ ist folglich nicht der âStandard-Lohnâ demgegenĂŒber der âFrauen-Lohnâ einen VerkĂŒrzung darstellt; vielmehr sind MĂ€nner- und Frauen-Löhne Abweichungen (nach oben und nach unten) vom Durchschnitt. Der Durchschnitt ist das, was fĂŒr das Kapital von Interesse ist. [4]
3. Selbst wenn wir uns auf die marxistische âSpaltungs-Theorieâ (das Kapital habe ein Interesse, die LohnabhĂ€ngigen nach irgendwelchen anderen Kriterien âzu spaltenâ [ĂŒber welche Mittel verfĂŒgt das Kapital, um dieses Interesse zu realisieren?]) einlassen, bleiben mehrere Fragen:
âą Warum erfolgen diese âSpaltungenâ z.B. gerade entlang von race und gender?
âą Warum sind diese Spaltungen gerade in der Weise âorganisiertâ, daĂ WeiĂe und MĂ€nner bevorteilt sowie Schwarze und Frauen benachteiligt sind?
4. Es ist falsch, das VerhĂ€ltnis von Patriarchat und Rassismus einerseits und Klassenherrschaft als VerhĂ€ltnis âUnterdrĂŒckungâ und âAusbeutungâ zu denken.
Vielmehr sind alles drei Ausbeutungs- und HerrschaftsverhĂ€ltnisse, die nicht nur, aber auch auf âUnterdrĂŒckungâ beruhen â sie beruhen auch auf Integration, Subjektivierungen und Angeboten.
âGenauso wie es unzutreffend ist, den Kapitalismus auf UnterdrĂŒckung zu reduzieren, so ist auch falsch, Patriarchat und Homophobie auf UnterdrĂŒckung zu reduzieren; und von einer hauptsĂ€chlichen UnterdrĂŒckung von SexualitĂ€t im Kapitalismus auszugehen, ist eine â durch Foucault [5] zurecht kritisierte â freudomarxistische und Frankfurter Schule-Annahme von Reich und Marcuse.
FĂŒr ein VerstĂ€ndnis der KomplexitĂ€t und StabilitĂ€t jedenfalls moderner HerrschaftsverhĂ€ltnisse ist zentral, sich mit dem zu beschĂ€ftigen, was Michel Foucault ĂŒber Karl Marx sagte:
âWas hat Marx getan, als er [bei] seiner Analyse des Kapitals auf das Problem des Arbeiterelends stieĂ? Er hat die ĂŒbliche ErklĂ€rung abgelehnt, die aus diesem Elend die Wirkung einer natĂŒrlichen Knappheit oder eines abgekarteten Diebstahls macht. [âŠ]. Marx hat die Anklage des Diebstahls durch die Analyse der Produktion ersetzt. Mutatis mutandis ist das ungefĂ€hr das, was ich machen wollte. Es geht nicht darum, das sexuelle Elend zu leugnen, aber es geht auch nicht darum, es negativ mit Repression zu erklĂ€ren.â Es gehe vielmehr um die âpositiven Mechanismenâ, die es hervorbringen. [6]
Oder anders gesagt: Bevor ein Streik von LohnabhĂ€ngigen niedergeschlagen, eine Organisation von LohnabhĂ€ngigen verboten werden kann usw., muĂ es sie zunĂ€chst einmal geben: die LohnabhĂ€ngigen. Das ist die ProduktivitĂ€t der Macht. Die gesellschaftlichen Gruppen mĂŒssen zunĂ€chst einmal hervorgebracht werden, bevor sie unterdrĂŒckt werden können. Und âunterdrĂŒcktâ werden dann auch weniger die (funktionierenden) LohnabhĂ€ngigen, als vielmehr rebellierende LohnabhĂ€ngige; weniger die (funktionierenden) Frauen als vielmehr rebellierende Frauen.
Statt einseitig auf die UnterdrĂŒckung zu fokussieren, haben Michel Foucault und Louis Althusser deshalb das untersucht, was Foucault âsubjektivierende Unterwerfungâ [7] nannte. âdas Individuum wird als (freies) Subjekt angerufen, damit es [âŠ] (freiwillig) seine Unterwerfung akzeptiert [âŠ]. Es gibt Subjekte nur durch und fĂŒr ihre Unterwerfung.â [8]
Weder Foucault noch Althusser haben diese Analyse vorgenommen, um Unterwerfung als Freiheit zu feiern, sondern um aufzuzeigen, daĂ die Freiwilligkeit selbst Bestandteil der herrschenden VerhĂ€ltnisse ist. âDer Modus der Gewalt zeichnet sich durch ein direktes Einwirken auf Körper aus, wĂ€hrend Macht indirekt auf Subjekte wirkt.â [9] Macht und Freiheit sind âkeine GegensĂ€tze, die einander ausschlieĂenâ, sondern sie schlieĂen âeinander ein, so dass Freiheit zu einem charakteristischen Element einer Machtbeziehung wird: »Macht wird nur auf âșfreie Subjekteâč ausgeĂŒbt und nur sofern diese âșfreiâč sind«â [10]. âFreiheit ist die Bedingung der Möglichkeit von Machtâ [11].
Statt allein von âUnterdrĂŒckungâ zu reden, wĂ€re also besser von âHerrschaftâ zu reden, die zwar UnterdrĂŒckung einschlieĂt, aber sich nicht auf UnterdrĂŒckung reduziert, sondern immer auch âAngeboteâ, Hegemonie, Subjektivierung/Identifizierungsangebote (z.B. frĂŒher als gute Hausfrau und Mutter; heute eher als toughe âManagerinâ, die Familie und Beruf unter einen Hut bringt; frĂŒher eher als guter Arbeiter und heute eher als guteR SelbstunternehmerIn usw.) beinhaltet.â [12]
5. Zwar âbasiertâ das âkapitalistische Systemâ auf der Ausbeutung der LohnabhĂ€ngigen durch die kapitalistische Klasse, aber das kapitalistische KlassenverhĂ€ltnis ist nicht die einzige Determinante der gesellschaftlichen Struktur.
ârassistische und sexistische Lohndiskriminierung und Arbeitsteilung [modifizieren] in der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit die âReinformâ der kapitalistischen Produktionsweiseâ. [13]
âauch das patriarchale GeschlechterverhĂ€ltnis â und nicht nur die (kapitalistischen) KlassenverhĂ€ltnisse â [ist] kein bloĂer Teilbereich, kein bloĂer Nebenwiderspruch, kein bloĂes Symptom, keine bloĂe âErscheinungsebeneâ, sondern selbst eine Determinante der gesellschaftlichen Struktur; selbst einer von mehreren GrundwidersprĂŒchenâ [14]
6. Jedenfalls ist das Patriarchat Ă€lter als die Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise in den KlassenverhĂ€ltnissen und auch Ă€lter als Klassenherrschaft ĂŒberhaupt.
DaĂ âdie Aneignung der sexuellen und reproduktiven KapazitĂ€t der Frauen durch die MĂ€nner vor der Entstehung des Privateigentums und der Klassengesellschaftâ geschah [15], wurde â auf der deskriptiven Ebene â teilweise auch bereits von Marx und Engels erkannt (allerdings zogen sie daraus keine analytisch-theoretischen Konsequenzen):
a) Nach der Darstellung in der Deutschen Ideologie ging die âFamilie, wo die Frau und die Kinder die Sklaven des Mannes sind,â (MEW 3 [16], 32) dem Moment, wo das âKlassenverhĂ€ltnis zwischen BĂŒrgern und Sklaven […] vollstĂ€ndig ausgebildetâ ist (ebd., 23) und sogar dem Moment, wo das âimmobile Privateigentum […] alsâ noch âabnorme, dem Gemeindeeigentum untergeordnete Formâ entstand (ebd.), voraus. Die Arbeitsteilung in der Familie bestand nach dieser Darstellung dagegen schon zur Zeit des Stammeigentums (ebd., 22):
âDie erste Form des Eigentums ist das Stammeigentum. [âŠ]. Die Teilung der Arbeit ist auf dieser Stufe noch sehr wenig entwickelt [âŠ]. Die gesellschaftliche Gliederung beschrĂ€nkt sich daher auf eine Ausdehnung der Familie: patriarchalische StammhĂ€upter, unter ihnen die Stammitglieder, endlich Sklaven.
Die zweite Form ist das antike Gemeinde- und Staatseigentum, [âŠ].â Nun erst â[n]eben dem Gemeindeeigentumâ â âentwickelt sich schon das mobile und spĂ€ter auch das immobile Privateigentum, aber als eine abnorme, dem Gemeindeeigentum untergeordnete Form.â (ebd.)
Metaphorisch gesprochen waren die Geschlechter also die ersten âKlassenâ â noch bevor es Klassen im strengen Sinne des Begriffs sowie Privateigentum gab.
b) Jahrzehnte spĂ€ter beschrieb Engels in seiner Schrift Der Ursprung der Familie, Privateigentums und des Staats fĂŒr die Zeit vor [17] Entstehung des Privateigentums Folgendes [18]:
âBeim Frauenraub zeigt sich ĂŒbrigens hier schon eine Spur des Ăbergangs zur Einzelehe, wenigstens in der Form der Paarungsehe: Wenn der junge Mann mit HĂŒlfe seiner Freunde das MĂ€dchen geraubt oder entfĂŒhrt hat, so wird sie von ihnen allen der Reihe nach geschlechtlich gebraucht, gilt danach aber auch fĂŒr die Frau des jungen Mannes, der den Raub angestiftet hat. Und umgekehrt, lĂ€uft die geraubte Frau dem Manne weg und wird von einem andern abgefaĂt, so wird sie dessen Frau und der erste hat sein Vorrecht verloren.â
(MEW 21, 25 – 173 [51]; https://marxwirklichstudieren.files.wordpress.com/2012/11/mew_band21.pdf)
Die SchluĂfolgerung, daĂ es ein patriarchales GeschlechterverhĂ€ltnis schon gab, bevor Privateigentum und Klassen entstanden wurde von Engels freilich nicht gezogen. â Warum nicht?
7. Das VerhĂ€ltnis zwischen modernem Rassismus und Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise mag â eingedenk des Kolonialismus â enger sein, als der zwischen Patriarchat und kapitalistischer Produktionsweise; aber es gab auch schon âvor-moderneâ / vor-kapitalistische Formen von Xenophobie.
Fraglich ist auch, ob sich der frĂŒhe (spanische und portugiesische) Kolonialismus bereits unter âKapitalismusâ susbumieren lĂ€Ăt.
8. âKluft [âŠ] zwischen den Klassenâ ist nicht die (materielle) Basis der (bloĂ psychischen oder ideologischen) âUnterdrĂŒckungâ. Vielmehr haben Patriarchat und Rassismus in Form geschlechtshierarchischer und rassistischer Arbeitsteilung sowie in Form von patriarchaler und rassistischer Gewalt eine eigene materielle Basis.
Unklar bleibt auch, wie die Gruppe Linkswende zu ihrer These gelang, âdie tiefste Kluft in der Gesellschaftâ (meine Hv.; wie lĂ€Ăt sich das messen?) sei âdie zwischen den Klassenâ.
Marxistischer und feministischer Reproduktions-Begriff
In dem Artikel wird Karl Marx mit folgendem SĂ€tzen zitiert:
âSowenig eine Gesellschaft aufhören kann zu konsumieren, kann sie aufhören zu produzieren. In einem stetigen Zusammenhang und dem bestĂ€ndigen FluĂ seiner Erneuerung betrachtet, ist jeder gesellschaftliche ProduktionsprozeĂ daher zugleich ReproduktionsprozeĂ. Die Bedingungen der Produktion sind zugleich die Bedingungen der Reproduktion.â (MEW 23, 591 â Das Kapital. Erster Band;
https://marxwirklichstudieren.files.wordpress.com/2012/11/mew_band23.pdf)
Im AnschluĂ an das Zitat heiĂt es in dem Linkswende-Artikel:
âGleichzeitig wird âproduktiveâ Arbeit als ĂŒbergeordnet eingestuft, da sie Mehrwert schafft. Mit der Abwertung der Reproduktionsarbeit festigt sich der ideologische und politische Ăberbau aus festgeschriebenen Rollenbildern.â
Dies ĂŒbersieht, daĂ Marx, wenn er von âReproduktionsprozeĂâ schreibt, nicht spezifisch, das im Auge hat, was Feministinnen als Reproduktionsarbeit bezeichnen (Haus- und Erziehungsarbeit) â vielmehr geht es Marx nicht nur (vielleicht nicht einmal vor allem) um die Reproduktion der ArbeitskrĂ€fte, sondern â jedenfalls am angegebenen Ort â gerade um die Reproduktion (Erneuerung) der Produktionsmittel (um die sog. âproduktive Konsumtionâ):
âKeine Gesellschaft kann fortwĂ€hrend produzieren, d. h. reproduzieren, ohne fortwĂ€hrend einen Teil ihrer Produkte in Produktionsmittel oder Elemente der Neuproduktion rĂŒckzuverwandeln. Unter sonst gleichbleibenden UmstĂ€nden kann sie ihren Reichtum nur auf derselben Stufenleiter reproduzieren oder erhalten, indem sie die, wĂ€hrend des Jahres z.B., verbrauchten Produktionsmittel, d.h. Arbeitsmittel, Rohmateriale und Hilfsstoffe, in natura durch ein gleiches Quantum neuer Exemplare ersetzt, welches von der jĂ€hrlichen Produktenmasse abgeschieden und von neuem dem ProduktionsprozeĂ einverleibt wird. Ein bestimmtes Quantum des jĂ€hrlichen Produkts gehört also der Produktion. Von Haus aus fĂŒr die produktive Konsumtion bestimmt, existiert es groĂenteils in Naturalformen, die von selbst die individuelle Konsumtion ausschlieĂen.â
Marx stellt daher auch keine âAbwertung der Reproduktionsarbeitâ fest. Auch bei der Produktion von Produktionsmitteln entsteht Mehrwert â Mehrwert entsteht immer bei Verausgabe von Arbeitskraft, deren Resultat (Produkt) von dem/der KĂ€uferIn der Arbeitskraft nicht selbst konsumiert, sondern auf dem Markt weiterverkauft wird:
âEin Schauspieler z.B., selbst ein Clown, ist hiernach ein produktiver Arbeiter, wenn er im Dienst eines Kapitalisten arbeitet [âŠ], dem er mehr Arbeit zurĂŒckgibt, als er in der Form des Salairs von ihm erhĂ€lt, wĂ€hrend ein Flickschneider, der zu dem Kapitalisten ins Haus kommt und ihm seine Hosen flickt, ihm einen bloĂen Gebrauchswert schafft, ein unproduktiver Arbeiter ist. Die Arbeit des erstren tauscht sich gegen Kapital aus, die des zweiten gegen Revenue. Die erstre schafft einen Mehrwert; in der zweiten verzehrt sich eine Revenue. [âŠ] Ein Schriftsteller ist ein produktiver Arbeiter, nicht insofern er Ideen produziert, sondern insofern er den BuchhĂ€ndler bereichert, der den Verlag seiner Schriften betreibt, oder sofern er der Lohnarbeiter eines Kapitalisten ist.â (Theorien ĂŒber produktive und unproduktive Arbeit, in: MEGA II.3.2, 443, 445 â MEW 26.1, 127, 128).
Die Gruppe Linkswende nimmt dagegen eine These von manchen Feministinnen (die Reproduktionsarbeit im feministische Sinne werde abgewertet â was, das auch immer genau heiĂen mag [19]), reiĂt diese aus ihrem Kontext gerissen und zwĂ€ngt sie â ohne den begrifflichen und analytischen Kontext zu reflektieren â in Marxâ Analyse, um den (falschen) Anschein zu erwecken, der Marxismus habe etwas Substantielles zum GeschlechterverhĂ€ltnis zu sagen.
IdentitĂ€t â Erfahrung â SolidaritĂ€t
So dann wird in dem Artikel gesagt: âEine typische Argumentation der IdentitĂ€tspolitik ist das Hervorheben der persönlichen Erfahrung.â
Diese Beschreibung ist â jedenfalls fĂŒr eine bestimmte Version von âIdentitĂ€tspolitikâ â nicht verkehrt. Aber sie verweist auch auf ein Problem der heutigen Verwendungsweise des Ausdrucks âIdentitĂ€tspolitikâ:
âą Heutzutage bezeichnete âIdentitĂ€tspolitikâ in der pejorativen Verwendung durch nicht-feministische MarxistInnen, rechte SozialdemokratInnen und Rechte jede feministische, antirassistische sowie âqueereâ Politik.
âą Um 1990 herum bezeichnete âIdentitĂ€tspolitikâ dagegen speziell die essentialistische (was den Feminismus anbelangt: tendenziell biologistische) Variante feministischer, antirassistischer sowie schwuler und lesbischer Politik (der englische Begriff âqueerâ drang damals gerade erst in den deutschen Sprachraum vor und Trans-Aktivismus spielte [hier] auch noch keine groĂe Rolle).
In diesem zeitlichen (historischen) Kontext kritisierte die feministische Historikerin Joan W. Scott:
âExperience [… is] not the origin of our explanation, not the authoritative (because seen or felt) evidence that grounds what is known, but rather that which we seek to explain, that about which knowledge is produced. […]. Experience is, in this approach, not the origin of our explanation, but that which we want to explain.â [20]
Corinna Genschel [21] berichtete in der deutschen sozialwissenschaftlichen Zeitschrift Das Argument :
âEine Politik der Toleranz und Integration einer âMinderheitâ in die Normgesellschaft mit einer reprĂ€sentativen Politikvorstellung zeigte sich gescheitert. Form und Orte schwul-lesbischer IdentitĂ€tspolitik waren an ihre Grenzen gestoĂen.â
An anderer Stelle heiĂt es dazu:
âThe view of identity politics [âŠ] as state-centered activism [âŠ] is response to the emergence of âqueer politicsâ in the late 1980s in the United States and a function of postmodern and poststructuralist theorie. [âŠ]. Queer Nation defined itself as the opposite of identity politics. So, rather than arguing for rights based on being gay or lesbian, queer politics sought to transcend group categories by bringing together marginalized people under one umbrellaâ [22] /
âDie Ansicht, daĂ IdentitĂ€tspolitik [âŠ] ein staats-orientierter Aktivismus [âŠ] sei, ist eine Reaktion [der Sache nach wĂŒrde ich eher sagen: eine Verarbeitung] der Entstehung âqueerer Politikâ in den USA in den spĂ€ten 1980er Jahren und ein Resultat postmoderner und poststrukturalistischer Theorien. [âŠ]. [Die Gruppe] Queer Nation verstand sich [eher: verstand ihre Politik] als das Gegenteil von IdentitĂ€tspolitik. Daher versuchte queere Politik â statt fĂŒr Rechte als Schwule und Lesben zu argumentieren â Gruppenkategorien zu transzendieren und Marginalisierte unter einen Dach [wörtlich: Schirm] zusammenzubringenâ.
Und Sabine Hark [23] kritisierte:
â[…] wo eine bestimmte IdentitĂ€tskonfiguration anstrebt, âdie Stelle des Wirklichenâ einzunehmen, um durch Selbst-Naturalisierung die eigene Hegemonie zu festigen und auszudehnen, ist von […] revolutionĂ€rer Praxis nichts ĂŒbrig geblieben als ein konkretistisches, reifiziertes, Politik lĂ€hmendes Fundament.â
In der Encyclopedia of Feminist Theories vermerkt Alan Peterson
âthe deconstructive impulse with in social theory has led to some disenchant with identity politicsâ. [24] /
âder dekonstruktivistische Impulse in den Gesellschaftstheorien hat zu einiger ErnĂŒchterung bezĂŒglich IdentitĂ€tspolitik gefĂŒhrtâ.
Ăhnlich heiĂt es in der Wiley Blackwell Encyclopedia of Gender and Sexuality Studies:
âIn this view [social constructivist, postmodern, and poststructuralist theoretical traditions], status categories such as gay and lesbian create and regulate identities, so any activism in the name of such an identity is criticized for shoring up the very categories that responsible for subordination of theses groups.â [25] /
âIn dieser Sichtweise [aus sozial-konstruktivistischen, postmodernen und poststrukturalistischen Theorietraditionen] schaffen und regulieren Statuskategorien wie schwul und lesbisch IdentitĂ€ten, sodaĂ jeder Aktivismus im Namen solcher IdentitĂ€ten als StĂŒtzung genau der Kategorien, die fĂŒr die Unterordnung dieser Gruppen verantwortlich sind, kritisiert wird.â
Dies waren allerdings ganz andere Kritiken an (essentialistischer) IdentitĂ€tspolitik und empiristischem âErfahrungsâ-Kult als die Kritik der Gruppe Linkswende: Es sei nicht gerechtfertigt,
âanderen die KritikfĂ€higkeit abzusprechen und sie aus dem Kampf auszuschlieĂen, schlieĂlich macht genau das uns Menschen aus â dass wir uns in andere hineinversetzen können, darauf beruht die Forderung nach âInternationaler SolidaritĂ€tâ.â
Also ob es darum ginge, anderen âKritikfĂ€higkeit abzusprechenâ. Es geht geht darum, daĂ gesellschaftliche Positionierung â und die ist von MĂ€nnern und Frauen im Patriarchat sowie WeiĂen und Schwarzen in einer rassistischen Gesellschaft genauso unterschiedlich wie die von KapitalistInnen und LohnabhĂ€ngigen in einer Gesellschaft, in der (in Bezug auf die KlassenverhĂ€ltnisse) die kapitalistische Produktionsweise die herrschende ist, â Interessen zwar nicht strikt determiniert, aber nahelegt.
âIn the 1970s, the Combahee River Collective declared in âA Black Feminist Statementâ [26] (1977) that black women need to rely principally on other black women for their liberation â that no other group besides themselves would be as consistent and committed to winning their freedom. This claim presupposes that oneâs politics are at least partially determined by oneâs social identity, a claim rooted in Marxâs view that oneâs ideas and beliefs are related to oneâs material conditions.â
(Linda Martin Alcoff, identity politics, in: Lorraine Code [Hg.], Encyclopedia of Feminist Theories, Routledge: New York / London, 2000, 263 – 264 [263])
DaĂ Problem an vielen MarxistInnen ist, daĂ sie ihren (sonstigen) Materialismus vergessen, wenn es um GeschlechterverhĂ€ltnis und Rassismus geht; daĂ sie dann in Phrasen ĂŒber âKritikfĂ€higkeitâ, âLernprozesseâ [27] und âGerechtigkeitâ verfallen â die sie in Bezug auf die KlassenverhĂ€ltnisse (auf Grundlage ihrer materialistischen Analyse) zurecht zurĂŒckweisen.
Weiter heiĂt es in dem Linkswende-Artikel â ebenfalls an dem diesbzgl. entscheidenden Punkt vorbeischreibend:
âAuĂerdem heiĂt es nicht, dass alle Personen, die theoretisch einer bestimmten IdentitĂ€t angehören, auch die gleichen Erfahrungen machen. So ist zwar möglicherweise ein MilliardĂ€r ebenso betroffen von antimuslimischem Rassismus wie ein Arbeiter in einem Wiener Vorort, Ersterer wird aber kaum Probleme damit haben, aufgrund seiner Religionszugehörigkeit eine Arbeitsstelle zu finden.â
Die allerwenigsten werden behaupten, daĂ alle Frauen zum einen, alle Schwarzen zum zweiten und alle LohnabhĂ€ngigen zum dritten ausschlieĂlich gemeinsame Erfahrungen machen. â Der entscheidende Punkt ist,
âą daĂ Frauen zum einen und Schwarze zum anderen bestimmte âErfahrungenâ â unabhĂ€ngig von ihrer Klassenlage â gemeinsam haben,
âą genauso wie auch LohnabhĂ€ngige bestimmte âErfahrungenâ â unabhĂ€ngig von ihrer Sexuierung bzw. Rassifizierung â gemeinsam haben.
Nancy Fraser und Antidiskriminierungspolitik
Des weiteren heiĂt es in dem Linkswende-Artikel:
âEin Problem an der Orientierung an der eigenen IdentitĂ€t als Grundlage fĂŒr politisches Handeln ist die Konzentration auf das Individuum. Die amerikanische Feministin Nancy Fraser betont, dass Feminismus frĂŒher auf eine grundlegende Kritik der bestehenden VerhĂ€ltnisse abzielte, Diskriminierung also als politisches Problem wahrnahm. Heute jedoch bestehe die Gefahr, sich dem neoliberalen Trend der individuellen Lösungen einzugliedern.â
Auch in diesen SĂ€tzen geht alles durcheinander:
âą Gerade Antidiskriminierungspolitik tendiert dahin, individualistisch zu sein â nĂ€mlich auf einzelne diskriminierende Handlungen und deren Akteure (TĂ€ter) zu schauen â und den gesellschaftsstrukturellen Kontext zu vernachlĂ€ssigen. [28]
âą Und Nancy Fraser steht nun auch nicht gerade fĂŒr eine âgrundlegende Kritik der bestehenden VerhĂ€ltnisseâ, sondern verkennt mit ihrer Unterscheidung zwischen Anerkennungs- und Umverteilungspolitik den Charakter der grundlegenden gesellschaftlichen VerhĂ€ltnis und verbleibt mit âUmverteilungspolitikâ im Rahmen einer sozialdemokratischen Konzeption.
Mittlerweile spricht sie zwar auch von âSozialismusâ [29]; es bleibt aber bei dem Fehler, daĂ âNancy Fraser und mehr noch ihre Fans die Abhilfe gegenĂŒber den in der Tat bestehenden MĂ€ngeln der Anerkennungs- bzw. Differenzpolitik in mehr âUmverteilungâ zwischen den Klassen oder â nunmehr â mehr Antikapitalismus sehenâ [30]. â Warum sollten VerĂ€nderung im VerhĂ€ltnis zwischen den Klassen zu VerĂ€nderungen zwischen den Geschlechtern fĂŒhren? Welche KausalitĂ€t besteht da angeblich?
Zu jedem Innen gehört ein AuĂen
Weiter heiĂt es in dem Linkswende-Artikel:
âDass sich Linke der IdentitĂ€tspolitik bedienen, ist zwar nichts Neues, historisch gesehen war es aber eher ein Mittel der rechten beziehungsweise konservativen Seite. Wenn von IdentitĂ€t die Rede ist, gibt es automatisch immer jemanden, der bestimmt, wer zu dieser Community gehört und wer nicht.â
Das ist ja aber gerade die de-konstruktivistische Kritik an (essentialistischer) IdentitĂ€tspolitik; sie zeigt auf, daĂ
â[j]ede Konstruktion eines wir ist nur möglich durch die gleichzeitige Definition eines ihrâ â also durch eine immer umkĂ€mpfte âGrenzziehungâ [31].
âIdentitĂ€ten werden durch Abgrenzung und Ausgrenzung hergestelltâ â das AuĂen einer IdentitĂ€t ist ein ââkonstitutive AuĂenâ (Derrida, Butler)â. [32]
(Dies verweist auf ein weiteres Problem der heutigen Verwendung des Ausdrucks âIdentitĂ€tspolitikâ: Zwar nicht in dem hier besprochenen Linkswende-Artikel, aber ansonsten wird öfter von âpostmoderner IdentitĂ€tspolitikâ gesprochen; beide Wörter [Substantiv und Adjektiv] werden dabei in vager Breite verwendet; ignoriert wird, daĂ De-Konstruktion gerade Essentialismus-Kritik heiĂt; daĂ de-konstruktivistischer Feminismus gerade Kritik essentialistischer IdentitĂ€tspolitik, die um ein vermeintliches weibliches âWesenâ kreist, heiĂt. [33])
Unterordnung feministischer, antirassistischer und anti-homophober KĂ€mpfe unter âkollektives IdentitĂ€tsbewusstsein als Klasseâ â die Nebenwiderspruchs-Politik der Gruppe Linkswende
Des weiteren heiĂt es in dem Artikel es mĂŒsse,
âklar gesagt werden, dass nur mit der Abschaffung der wesentlichsten Trennlinie innerhalb der Gesellschaft â eine Klasse beutet die andere aus â der UnterdrĂŒckung dauerhaft die Basis entzogen werden kann. Anstatt uns in unterschiedliche IdentitĂ€ten wie Geschlecht, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung aufteilen zu lassen, braucht es ein kollektives IdentitĂ€tsbewusstsein als Klasse.â
Nur wird in dem Artikel weiterhin kein Argument dafĂŒr vorgebracht,
âą warum die Klassenausbeutung die âBasisâ fĂŒr âUnterdrĂŒckungâ von Frauen, Schwarzen, Queers usw. sein soll;
âą warum es richtig sein soll, die Gemeinsamkeit als Klasse den Unterschieden zwischen Frauen und MĂ€nnern; Schwarzen und WeiĂen ĂŒberzuordnen â statt alle Herrschafts- und AusbeutungsverhĂ€ltnisse gleichzuordnen.
Verdienst und Grenzen der leninschen Ăkononismus-Kritik
Der Linkswende-Artikel endet mit folgendem Lenin-Zitat:
âder Volkstribun sein, der es versteht, auf alle Erscheinungen der WillkĂŒr und UnterdrĂŒckung zu reagieren, wo sie auch auftreten mögen, welche Schicht oder Klasse sie auch betreffen mögen, der es versteht, an allen diesen Erscheinungen das Gesamtbild der PolizeiwillkĂŒr und der kapitalistischen Ausbeutung zu zeigen, der es versteht, jede Kleinigkeit zu benutzen, um vor aller Welt seine sozialistischen Ăberzeugungen und seine demokratischen Forderungen darzulegen, um allen und jedermann die welthistorische Bedeutung des Befreiungskampfes des Proletariats klarzumachen.â
(LW 5, 355 – 551 [437] â Was tun?; http://kpd-ml.org/doc/lenin/LW05.pdf)
Das war eine richtige und damals fortschrittliche Position gegenĂŒber dem sog. Ăkonomismus in der Sozialdemokratie der damaligen Zeit. Aber damals gab es auch noch nicht die theoretischen und politischen Errungenschaften der Neuen Frauenbewegung und der anti-rassistischen KĂ€mpfe seit den 1960er Jahren. Heute wissen wir, daĂ Patriarchat und Rassismus nicht bloĂe âErscheinungen [âŠ] der kapitalistischen Ausbeutungâ sind und daĂ es zur Ăberwindung von Patriarchat und Rassismus des Kampfes von Frauen und Schwarzen bedarf.
Die International Socialist Tendency, zu der die Gruppe Linkswende gehört, zitiert gerne den Satz von Karl Marx, âdaĂ die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muĂâ (MEW 16, 14 – 16 [14] â Provisorische Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation; https://marxwirklichstudieren.files.wordpress.com/2012/11/mew_band16.pdf).
Dies schlieĂt âKlassenverratâ in mehr oder minder vielen EinzelfĂ€llen nicht aus; aber auf solche EinzelfĂ€lle lĂ€Ăt sich keine Strategie stĂŒtzen.
Entsprechend gilt: Die Ăberwindung von Patriarchat einerseits und Rassismus andererseits kann nur das Werk von Frauen einerseits und Schwarzen andererseits sein â eine mehr oder (nach aller Erfahrung: eher) minder groĂe Zahl von MĂ€nnern und WeiĂen als VerbĂŒndete nicht ausgeschlossen.
Fortsetzung folgt.
Quelle: Emrawi.org