Gefangene in sieben Gefängnissen in Kanada haben einen koordinierten Hungerstreik am 1. Juli, dem Canada Day, angekündigt. Der Streik wurde als Reaktion auf die kürzliche Entdeckung von mehr als tausend unmarkierten Gräbern an Internatsstandorten im ganzen Land organisiert.
In der Edmonton-Institution, einem Hochsicherheitsgefängnis für Männer in Edmonton, Alberta, haben indigene Gefangene orangefarbene Herzen an ihren Zellentüren angebracht, um an die tausenden indigenen Kinder zu erinnern, die in den Indian Residential Schools in ganz Kanada starben. Am 1. Juli traten sie zu Ehren der Kinder in einen eintägigen Hungerstreik, zusammen mit Gefangenen aus dem Saskatchewan Penitentiary, einer weiteren Bundesanstalt, den Regina, Saskatoon und Pine Grove Justizvollzugsanstalten, drei Provinzgefängnissen in Saskatchewan, und der Fraser Valley Institution for Women, einem mehrstufigen Gefängnis in British Columbia, so die Gefangenenanwältin Sherri Maier von Beyond Prison Walls Canada.
Ende Mai bestätigte die Tk’emlups te Secwépemc First Nation die nicht markierten Gräber von 215 indigenen Kindern auf dem Gelände der ehemaligen Kamloops Indian Residential School. In den vergangenen Monaten wurden hunderte von weiteren unmarkierten Gräbern durch den Einsatz von Bodenradar bestätigt: 104 auf dem Gelände der Brandon Indian Residential School in Manitoba; 751 in der Marieval Indian Residential School in Saskatchewan; und zuletzt 182 in der St. Eugene’s Mission Residential School in British Columbia.
Und es werden noch viele weitere folgen. Während viele Kanadier_innen von den jüngsten Nachrichten schockiert waren, haben sich indigene Völker schon lange mit diesen Wahrheiten auseinandergesetzt, und viele merken an, dass auch Kanadier_innen es besser wissen sollten. Im Jahr 2015 stellte die Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC) klar, dass über 3000 Kinder in den Internaten starben. Neuere Schätzungen setzen die Zahl viel höher an, zwischen 15.000-25.000, laut dem pensionierten Senator und Leiter der TRC, Murray Sinclair.
Das Indian Residential School System in Kanada (in den USA wird es als Internatssystem bezeichnet) wurde in den 1880er Jahren gegründet und lief bis 1996, als die letzte Einrichtung geschlossen wurde. Diese angeblich „Schulen“ genannten Einrichtungen wurden von der kanadischen Regierung eingerichtet und größtenteils von den Kirchen verwaltet.
In ihrem Abschlussbericht kam die Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC) Kanadas zu dem Schluss, dass das System eine Form von „kulturellem Genozid“ war, da es die Entfernung indigener Kinder von ihrem Land, ihren Gemeinschaften, Familien und Kulturen mit dem Ziel der brutalen Assimilation vorantrieb.
Als Reaktion auf die jüngsten Nachrichten haben indigene Gemeinschaften und Basisorganisator_innen Gemeinden und Einzelpersonen dazu aufgerufen, den #CancelCanadaDay am 1. Juli, dem Datum der kanadischen Konföderation im Jahr 1867, zu begehen, der in ganz Kanada als nationaler Feiertag begangen wird.
Zusätzlich zu den Aufrufen zu Protesten wurden in den letzten Wochen vier katholische Kirchen, die sich auf Stammesland befinden, niedergebrannt und eine wurde mit einer Botschaft bemalt, die an das Leben der Kinder erinnert.
Durch ihren geplanten Hungerstreik haben die Gefangenen in den Einrichtungen in Prairie und darüber hinaus ihren eigenen Aufruf zum #CancelCanadaDay veröffentlicht. Ein Twitter-Account, der von einem anonymen Gefangenen betrieben wird, der an der Organisation des Streiks in der Edmonton-Institution beteiligt ist, EdmontonMax_Inmate (@EdmontonMaxI), schrieb auf Twitter: „Am 1. Juli 2021 stehen einige von uns in Solidarität für diese unschuldigen Kinder. Ich bitte alle Mitgefangenen und die Menschen in der Gemeinschaft das Gleiche zu tun.“
Als Reaktion auf diesen Aufruf war ein Solidaritäts-Hungerstreik unter Unterstützenden von außen von Beyond Prison Walls Canada, True North Radio und Inmates 4 Humane Conditions geplant. Fast 100 Menschen haben auf Facebook ihre Unterstützung für die Veranstaltung signalisiert.
„Wir hungerstreiken für diejenigen, die ihr Leben verloren haben und auch für diejenigen, die überlebt haben und immer noch durch diesen Scheiß gehen. Wir müssen auch diejenigen feiern, die überlebt haben“, erklärte der anonyme Twitter-Account aus der Edmonton-Institution weiter.
Sharise Sutherland-Kayseas, die in der Pine Grove Justizvollzugsanstalt inhaftiert ist, kündigte an, dass sie zusammen mit ihrer Schwester Shaylin Sutherland, die ebenfalls im Pine Grove inhaftiert ist, an dem Streik teilnehmen wird. Ihre Mutter Dina Kayseas wird auch von außerhalb der Gefängnismauern an einem feierlichen Fasten teilnehmen. „[Wir] werden unseren Hungerstreik um Mitternacht beginnen…für all die indigenen Kinder, die in den, wie meine Mutter es nennt, Indian Residential School Torcher Camps umgekommen sind“, erklärte Sutherland-Kayseas auf Facebook.
„Ich bitte euch, eure orangefarbenen Shirts am 1. Juli 2021 zu tragen“, schrieb Sutherland-Kayseas. „Schafft alle kolonialen Siegestage ab, dekolonisiert sie, löscht sie aus, indem ihr in Solidarität mit meiner Schwester und mir steht und auch mit meinen Mitschwestern und Brüdern, die jenseits der Gefängnismauern eingesperrt sind.“
Der Aufruf, Orange zu tragen — und nicht das Rot und Weiß der kanadischen Flagge — ist bedeutsam. In Kanada werden orangefarbene Hemden zum Gedenken an die indigenen Kinder getragen, die in Internate gebracht wurden. Der „Orange Shirt Day“ am 30. September wurde von der Residential School Überlebenden Phyllis Webstad (Secwepemc) inspiriert, deren Geschichte das Trauma des Systems verdeutlicht.
„Als ich in die Mission kam, zogen sie mich aus und nahmen mir meine Kleidung weg, einschließlich des orangefarbenen Hemdes [das meine Oma für mich gekauft hatte]! Ich habe es nie wieder getragen“, erklärt Webstad. „Ich habe nicht verstanden, warum sie es mir nicht zurückgeben wollten, es gehörte mir! Die Farbe Orange hat mich immer daran erinnert und daran, dass meine Gefühle keine Rolle spielten, dass sich niemand um mich kümmerte und dass ich das Gefühl hatte, nichts wert zu sein. Wir kleinen Kinder weinten alle und niemanden kümmerte es.“
Am 1. Juli vereinten sich Gefangene in der gesamten Prärie, um ihre Fürsorge für die Kinder zu zeigen, die in die Internate gebracht wurden, von denen einige aus ihren eigenen Familien und Gemeinschaften stammten.
Viele Gefangene wurden durch das Internatssystem zutiefst beeinflusst, wie Molly Swain, otipémsiw-iskwéw und Mitglied von Free Lands Free Peoples, in einem Interview mit Perilous erklärte:
„Es ist wirklich wichtig, dass wir uns daran erinnern, dass viele Leute, die derzeit inhaftiert sind oder waren, Überlebende des Internatssystems sind oder eine ganze Generation davon überlebt haben. Das ist keine abstrakte Trauer. Es ist kein abstraktes Thema. Es ist keine abstrakte Form der Solidarität, die weit weg ist. Es ist ein Teil der Realität der Menschen im Inneren.“
Swain merkte auch die Verbindung zwischen Internaten und Gefängnissen an und betonte die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen den beiden: „Wenn man die Memoiren der Überlebenden liest, wenn man darüber liest, was die Internate tatsächlich taten, wie sie strukturiert waren und welche Form sie annahmen, ist es sehr, sehr klar, dass die Gefängnisse eine zeitgenössische Erweiterung der Internate sind.“
Innerhalb dieser „neuen Internatsschulen“, wie Gefängnisse gemeinhin verstanden werden, kamen indigene Gefangene am 1. Juli in einem kraftvollen Akt des Gedenkens an indigene Kinder zusammen, deren Leben von den karzeralen Institutionen gestohlen wurde.
„Was sie tun, ist eine wirklich wichtige Geste des Gedenkens und des Trauerns“, so Swain. „Die Leute im Inneren können sehen, dass man nicht einfach mit ein paar ‚Gedanken und Gebeten‘ weitermachen kann. Man muss kraftvolle Maßnahmen ergreifen, wie auch immer, um diese Schrecken anzuerkennen, um sie zu betrauern und ihnen zu gedenken.“
Quelle: Perilous Chronicle
Quelle: Schwarzerpfeil.de