Mai 22, 2022
Von InfoRiot
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Der Ausstellungs-Lkw auf dem Potsdamer Alten Markt

Der Ausstellungs-Lkw auf dem Potsdamer Alten Markt

Foto: nd /Andreas Fritsche

Zwi­schen dem Pots­da­mer Land­tags­schloss und der Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­le davor parkt noch bis die­sen Diens­tag ein Old­ti­mer. Auf der Lade­flä­che des Las­ters mit dem Kenn­zei­chen KB-LS 101H prä­sen­tie­ren die Arol­sen-Archi­ve ihre Aus­stel­lung »Last Seen« (Zuletzt gese­hen). Die­se Aus­stel­lung wid­met sich den Fotos, die im Zwei­ten Welt­krieg bei der Depor­ta­ti­on von Juden, Sin­ti und Roma in Ghet­tos und Ver­nich­tungs­la­ger im Osten ent­stan­den. Von den damals aus Deutsch­land weg­ge­brach­ten Men­schen sind das oft die letz­ten erhal­te­nen Auf­nah­men vor ihrer Ermordung.

Bis­her sind der Wis­sen­schaft Fotos von Depor­ta­tio­nen aus etwa 50 deut­schen Orten bekannt. Die meis­ten die­ser Auf­nah­men haben Poli­zis­ten gemacht. Die Bil­der dien­ten als Beleg für den aus Sicht der Täter rei­bungs­lo­sen Ablauf der Trans­por­te. Auch für Stadt­ar­chi­ve und als zwei­fel­haf­te Andenken für ört­li­che Nazi-Funk­tio­nä­re sind sol­che Fotos ent­stan­den. So lich­te­te der Kri­mi­nal­po­li­zist Gus­tav Küh­ner am 22. Okto­ber 1940 im süd­deut­schen Lör­rach sei­nen Vor­ge­setz­ten ab, wie die­ser mit erho­be­nem Zei­ge­fin­ger vor einer Rei­he von Män­nern und Frau­en mit wenig Hand­ge­päck steht. Wäh­rend die Opfer ein­ge­schüch­tert oder resi­gniert schau­en, sieht man ganz rechts im Bild noch zwei wei­te­re Uni­for­mier­te, die breit grinsen.

Ver­mut­lich habe es aber auch zufäl­li­ge Augen­zeu­gen gege­ben, infor­miert die Aus­stel­lung, Nach­barn oder Pas­san­ten etwa, die das Gesche­hen foto­gra­fier­ten, viel­leicht sogar, um das Unrecht zu doku­men­tie­ren, heißt es auf einer Ausstellungstafel.

Die Arol­sen-Archi­ve sind auf der Suche nach sol­chen his­to­ri­schen Fotos, von denen es wahr­schein­lich noch sehr viel mehr gibt. Sie könn­ten in ver­erb­ten Foto­al­ben ste­cken oder in ver­staub­ten Kis­ten auf Dach­bö­den lagern. Für den Lai­en sei nicht immer leicht zu erken­nen, ob eine Depor­ta­ti­on abge­bil­det ist, heißt es. Dar­um gibt es an die­sem Mon­tag weni­ge Meter von dem Lkw ent­fernt um 18 Uhr eine Foto­sprech­stun­de im Film­mu­se­um an der Brei­ten Stra­ße 1A. Exper­ten sich­ten dort hin­ge­brach­te Fotos und geben Tipps zur Recher­che. Wer ist abge­bil­det? Wer hat foto­gra­fiert? Wann und wo ent­stan­den die Aufnahmen?

»Je mehr Men­schen den His­to­ri­ke­rin­nen und His­to­ri­kern bei der Suche nach Bil­dern und Infor­ma­tio­nen hel­fen, des­to umfang­rei­cher und inter­es­san­ter wer­den die Ergeb­nis­se«, erklärt Flo­ria­ne Azou­lay, Direk­to­rin der Arol­sen-Archi­ve. Ers­te Ergeb­nis­se der Nach­for­schun­gen sol­len Ende 2022 ver­öf­fent­licht wer­den. Nach der Sta­ti­on in Pots­dam kommt der Lkw erst ein­mal nach Stutt­gart, danach wird er in Bay­ern zu besich­ti­gen sein, spä­ter auch in den thü­rin­gi­schen Städ­ten Arn­stadt (15. bis 28. Sep­tem­ber) und Nord­hau­sen (13. bis 26. Okto­ber). Ange­steu­ert wer­den vor allem Orte, in denen sich die Wis­sen­schaft noch Foto­fun­de erhofft. Es han­delt sich um eine Initia­ti­ve der Arol­sen-Archi­ve mit dem Haus der Wann­see-Kon­fe­renz, dem Münch­ner Insti­tut für Stadt­ge­schich­te und Erin­ne­rungs­kul­tur, dem Insti­tut für Anti­se­mi­tis­mus­for­schung der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Ber­lin und einem Zen­trum für Völ­ker­mord-For­schung in Los Ange­les. Die Arol­sen-Archi­ve beher­ber­gen die welt­weit umfas­sends­te Samm­lung zu Opfern und Über­le­ben­den des Faschis­mus. Her­vor­ge­gan­gen sind sie aus einem inter­na­tio­na­len Such­dienst für ver­schlepp­te Ange­hö­ri­ge mit Sitz im hes­si­schen Bad Arolsen.

Der für die Aus­stel­lung umfunk­tio­nier­te Lkw ist in den 1950er Jah­ren gebaut wor­den. Doch mit ähn­li­chen Las­tern sind im Zwei­ten Welt­krieg Juden, Sin­ti und Roma zu Sam­mel­stel­len oder Bahn­hö­fen gebracht wor­den. Manch­mal muss­ten sie auch durch die Stadt zu den Zügen lau­fen, die sie in den Tod beför­der­ten. Wer die Depor­ta­ti­on mit Glück über­leb­te, konn­te den Nach­ge­bo­re­nen davon berich­ten, so wie Otti­lie Rein­hardt. Sie war im Mai 1940, als 2500 Sin­ti und Roma aus Lud­wigs­ha­fen am Rhein nach Polen ver­schleppt wur­den, sechs Jah­re alt. Rein­hardt erin­ner­te sich spä­ter: »Unse­re Mut­ter hat jedem von uns Kin­dern zwei Klei­der ange­zo­gen. Sie pack­te Bett­be­zü­ge ein und wie­der aus, weil wir nur ganz wenig mit­neh­men durf­ten. Mit Last­wa­gen wur­den wir zum Zug gebracht. Wir Kin­der hat­ten schreck­li­che Angst. Unse­re Mut­ter sag­te, wir müss­ten dicht bei­sam­men blei­ben. Nie­mand wuss­te, wohin wir kommen.«

In Pots­dam sahen sich Ober­bür­ger­meis­ter Mike Schu­bert und Land­tags­prä­si­den­tin Ulri­ke Liedt­ke (bei­de SPD) kürz­lich die Aus­stel­lung an. »Das Ver­gan­ge­ne ist nie ganz ver­gan­gen, son­dern lebt fort und wirkt fort«, sag­te Liedt­ke. Mike Schu­bert bemerk­te: »Die Aus­stel­lung bie­tet auf klei­nem Raum eine Art Rei­se in eine dunk­le Zeit, in der so vie­le Men­schen zu Opfer der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­fol­gung wur­den. Das ist und bleibt erschre­ckend relevant.«

Ausstellung »Last Seen«, noch bis 24. Mai, täglich von 10 bis 18 Uhr, Alter Markt in Potsdam, Eintritt frei, lastseen.org




Quelle: Inforiot.de