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Die Möglichkeiten, in Russland zu protestieren, waren schon vor der Pandemie stark eingeschrĂ€nkt, und in den letzten zwei Jahren, vom MĂ€rz 2020 bis zum russischen Angriff auf die Ukraine, wurden StraĂendemonstrationen unter dem Vorwand der Covid-Pandemie verboten. Die Menschen demonstrierten gegen die Verfolgung des OppositionsfĂŒhrers Alexej Nawalnyi und in einigen anderen FĂ€llen, die jedoch in massiven Verhaftungen endeten. Dennoch herrschte Meinungsfreiheit in den sozialen Netzwerken, es gab noch einige relativ freie Medien, und die Behörden machten bei einigen lokalen Konflikten ZugestĂ€ndnisse, z. B. beim Schutz lokaler GrĂŒnflĂ€chen vor der Abholzung.
Nach Kriegsbeginn protestierten die Menschen in Russland mit allen ihnen zur VerfĂŒgung stehenden Mitteln â Massenproteste auf der StraĂe, individuelle Proteste durch Anbringen von Botschaften an Fenstern und Balkonen, auf Karten, an der Kleidung (z. B. Friedenszeichen oder andere Antikriegssymbole oder Symbole der Ukraine), individuelle Mahnwachen, AuffĂŒhrungen und Petitionen. Dutzende von Berufsgruppen sammelten Zehntausende von Unterschriften in ihrem Bereich mit Aufrufen zur Beendigung des Krieges. Doch der Staat ergriff neue repressive MaĂnahmen, um den Protest zu unterdrĂŒcken: kurze GefĂ€ngnisstrafen, Geldstrafen und Strafverfahren wurden mit den lĂ€cherlichsten BegrĂŒndungen eingeleitet. Im MĂ€rz wurden die gröĂten oppositionellen Medien geschlossen, und die regionalen Medien wurden zensiert. Mehr als 200 dieser Medien funktionieren nicht mehr wie zuvor. Die verbleibenden Medien sind von der Liquidierung bedroht, so dass sie entweder nicht mehr ĂŒber den Krieg berichten oder nur noch Propagandafloskeln wiederholen.
Zwischen dem 24. und 28. Februar wurden mehr als 6440 Menschen bei Anti-Kriegs-Aktionen festgenommen. Bei einigen der Festgenommenen handelte es sich um Passant*innen, die sich zufĂ€llig am Ort der Proteste aufhielten und ohne jegliche Symbole oder Beschwichtigungen festgenommen wurden. Die Gerichte entscheiden in 3 bis 10 Minuten ĂŒber Ordnungswidrigkeiten und fĂŒllen einfach die Schablonen fĂŒr gleiche Strafen aus. Im ersten Monat der Proteste wurden mehr als 15 000 Menschen festgenommen, und die Gerichte sind immer noch mit der Bearbeitung der FĂ€lle beschĂ€ftigt. Mediazona und OVD-Info beobachten die Anti-Kriegs-Aktionen.
Seit dem 5. MĂ€rz ist der so genannte âKrieg gegen Fakesâ in Kraft. Dieses Gesetz verbietet die âVerbreitung von Falschinformationenâ, die âDiskreditierung der russischen Armeeâ und den âAufruf zu Wirtschaftssanktionenâ. Mögliche Folgen sind Geldstrafen von 100 000 bis 1,5 Millionen (1000 â 15000 Euro) oder eine Freiheitsstrafe von bis zu 3 Jahren â oder 10 Jahren, wenn diese TĂ€tigkeit als politisch motiviert angesehen wird. Journalist*innen, Aktivist*innen und beliebige BĂŒrger*innen, die Nachrichten ĂŒber den Krieg veröffentlichen, werden nach diesem Gesetz strafrechtlich verfolgt. FĂŒr Graffiti wird der Vorwurf des âVandalismusâ erhoben, der mit einer GefĂ€ngnisstrafe von bis zu 3 Jahren geahndet werden kann. Wiederholte Verhaftungen bei Protestaktionen werden mit einer Geldstrafe von 300 000 Rubel (3000 Euro) geahndet, was etwa dem Dreifachen des Durchschnittsgehalts in Moskau entspricht, wo die GehĂ€lter deutlich höher sind als in anderen Regionen.
In den Schulen steht das Lehrpersonal unter einem noch nie dagewesenen Druck, weil es das Thema âSondereinsatzâ behandeln und mit den SchĂŒlern im Rahmen des Unterrichts diskutieren muss. Im Februar und MĂ€rz erhielten die Schulen im Durchschnitt zwei oder drei Materialien mit dem Auftrag, propagandistischen Unterricht durchzufĂŒhren. Eine Reihe von LehrkrĂ€ften, die sich weigerten, diesen Unterricht zu organisieren, oder die sich gegen den Krieg aussprachen, wurden entlassen oder mussten ihren Dienst quittieren. Einige mussten ins Ausland gehen, weil ihnen ein Strafverfahren drohte. Einer*m Lehrer*in aus Penza droht eine Anklage wegen âDiskreditierung der russischen Armeeâ, weil er*sie sich im Unterricht emotional ĂŒber die GrĂŒnde der Wirtschaftssanktionen gegen Russland geĂ€uĂert hatte.
Mitte MĂ€rz wurden zwei SanitĂ€ter*innen wegen eines Graffiti âKrieg ist ein Requiem fĂŒr den gesunden Menschenverstandâ und anderer Anti-Kriegs-Graffitis verhaftet. Die Aktivist*innen stehen unter Hausarrest. Nachdem Drohungen gegen ihre Angehörigen ausgesprochen worden waren, legten beide ein GestĂ€ndnis ab. In Russland ist es nicht möglich, die Teilnahme an einer Protestaktion zu erklĂ€ren, ohne eine Straftat zu gestehen. In der russischen Gerichtspraxis ist es nicht möglich, die Verantwortung zu ĂŒbernehmen, ohne ein GestĂ€ndnis abzulegen und zu âbereuenâ. Das heiĂt, es ist nicht möglich, vor Gericht zu erklĂ€ren: âIch habe das getan, aber ich glaube nicht, dass es ein Verbrechen ist und ich bekenne mich nicht schuldigâ. Aus diesem Grund weigern sich Aktivist*innen stets, ein GestĂ€ndnis abzulegen, wann immer dies möglich ist (1, 2).
In Kasimow in der Region Rjasan werden ein*e Journalist*in aus Moskau und ein*e Einheimische*r des Vandalismus beschuldigt, weil sie âPutin rausâ auf eine Lenin-Statue gesprĂŒht haben. Die Verhafteten wurden gefoltert, um sie zu einem GestĂ€ndnis zu zwingen. Die örtlichen Kommunist*innen hatten nicht gegen die Schmierereien protestiert. Bei der polizeilichen Vernehmung erklĂ€rten die VerdĂ€chtigen, dass es sich bei den Graffiti um StraĂenkunst handele und es reine Einbildung der Polizei sei, dass sie einen subversiven Inhalt hĂ€tten.
Ende MĂ€rz gingen die kollektiven Anti-Kriegs-Aktionen aufgrund der zunehmenden Repression zurĂŒck. Jetzt dominieren individuelle Protestformen â Graffiti an WĂ€nden und ZĂ€unen und andere kĂŒnstlerische Formen des Protests. Nach wie vor werden aufgrund von âFake-Informationenâ in den unbedeutendsten FĂ€llen strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet, und es besteht ein groĂer Mangel an MenschenrechtsanwĂ€lt*innen, die bereit und qualifiziert sind, diese FĂ€lle zu bearbeiten.
Bei den jĂŒngsten Protesten wurden Menschen verhaftet, die lediglich Plakate mit den Aufschriften âFriedenâ, âNeinâ, leere Zettel, Plakate, auf denen das Wort âKriegâ durch * ersetzt war, Zitate aus der Bibel und der Verfassung und Luftballons mit den Farben der ukrainischen Flagge trugen. WĂ€hrend all dieser AbsurditĂ€t fertigte die Polizei Protokolle ĂŒber die âDiskreditierung der russischen Armeeâ an. Die Verhaftungen fĂŒhrten zu Geldstrafen oder kurzen GefĂ€ngnisstrafen. Zwischen dem 16. und 18. April wurden in verschiedenen StĂ€dten Russlands mehr als 100 Personen verhaftet, die sich einzelnen Mahnwachen angeschlossen hatten.
Aktionen wie das Auswechseln von Preisschildern in einem GeschĂ€ft gegen Informationen ĂŒber die Zahl der Toten in der Ukraine können als Ordnungswidrigkeit oder als Verbrechen geahndet werden. Derzeit gibt es Informationen ĂŒber zwei solcher Ermittlungsverfahren.
Das Moskauer Anarchist Black Cross arbeitet mit Menschenrechtsinitiativen und Studierendenbewegungen zusammen, um diejenigen zu unterstĂŒtzen, die von Repressionen betroffen sind. Wir dĂŒrfen nicht immer Informationen ĂŒber die konkreten Aktivist*innen, die wir unterstĂŒtzen, weitergeben, da ein Verdacht auf Beteiligung an einer âpolitischen Gemeinschaftâ dazu fĂŒhren kann, dass gegen die VerdĂ€chtigen schwerwiegendere Strafanzeigen gestellt werden. In einigen FĂ€llen sabotieren Angehörige der Verfolgten unsere BemĂŒhungen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, wenn sie unter Hausarrest stehen oder sich in Untersuchungshaft befinden.
Wir haben zwei vegane Aktivist*innen, die in der U-Bahn FlugblĂ€tter verteilten, bei ihrer Flucht aus Russland unterstĂŒtzt. Ihre Wohnungen wurden durchsucht, und es wurde agitatorisches Material gefunden. Da diese Aktivist*innen an vielen Projekten beteiligt waren, beschlossen sie, Russland vorĂŒbergehend zu verlassen. Da wir in den letzten zwei Monaten viele Spenden erhielten, leiteten wir einen Teil davon an die Studierendenzeitung Doxa weiter, die Informationen ĂŒber Antikriegsproteste verbreitet. Doxa bezahlt auch die Geldstrafen einiger Inhaftierter, die sich in einer schwierigen finanziellen Lage befinden. AuĂerdem haben wir einen Teil unserer Mittel einem Online-Projekt zur VerfĂŒgung gestellt, das eine Webseite fĂŒr anonyme Korrespondenz mit politischen Gefangenen bereitstellt.
Wir haben Lebensmittelpakete fĂŒr den AktionskĂŒnstler Pavel Krisevich bezahlt, der aufgrund seiner Aktionen gegen politische Repressionen bereits 9 Monate im UntersuchungsgefĂ€ngnis Butyrka verbracht hat.
Der Krim-Anarchist Evgeniy Karakashev hat bereits mehr als drei Jahre im GefĂ€ngnis verbracht, verurteilt fĂŒr seinen politischen Aktivismus, und jetzt, wĂ€hrend er im GefĂ€ngnis ist, wurde er auch wegen âDiskreditierung der StreitkrĂ€fte der Russischen Föderationâ angeklagt, was ein Vergehen ist. Die GefĂ€ngnisleitung behauptet, er habe sich in Anwesenheit der GefĂ€ngnisleitung negativ ĂŒber die ârussische Spezialoperationâ geĂ€uĂert. Dies ist der erste Fall, in dem dieses neue Strafgesetz in einem GefĂ€ngnis angewendet wurde. Nun wollen die Behörden Karakashev als âWiederholungstĂ€ter gegen die GefĂ€ngnisdisziplinâ in ein noch hĂ€rteres GefĂ€ngnis schicken. ABC Moskau hat Karakashev einen Anwalt zur Seite gestellt, um gegen diesen Versuch vorzugehen.
ABC Moskau unterstĂŒtzt auch Lebensmittelpakete fĂŒr einen anderen der âVorbereitung von Hooliganismusâ Beschuldigten in Moskau. Zwei MĂ€nner wurden im Zentrum Moskaus in der NĂ€he einer Anti-Kriegs-Aktion verhaftet. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft waren sie mit Molotowcocktails bewaffnet. Ein weiterer der Festgenommenen ist in einem Heim aufgewachsen und hat keine AnwĂ€lt*innen. Uns liegen noch keine detaillierten Informationen zu diesem Fall vor, und in den Medien wurde nur wenig darĂŒber berichtet.
Bitte unterstĂŒtzt auch Anastasiya Levashova, die am ersten Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 zu 2 Jahren GefĂ€ngniskolonie verurteilt wurde, weil sie einen Molotowcocktail auf die Polizei geworfen hat; ihre derzeitige Adresse im GefĂ€ngnis lautet Levashova Anastasiya Mikhaylovna, 1999 g.r. ul. Shosseynaya 92, SIZO-6 109383 Moskau Russland Dies ist die Adresse des UntersuchungsgefĂ€ngnisses, aber sie wird wahrscheinlich bald in eine Strafkolonie verlegt werden. Bitte schreibt alle Nachrichten auf Russisch. Ihr könnt dafĂŒr google translate oder andere automatische Ăbersetzungsdienste verwenden.
Mehr als 300 000 Menschen haben Russland verlassen, weil ihnen eine Verhaftung droht, sie keine Steuern zahlen oder nicht zur Armee gehen wollen. Unter ihnen befinden sich viele antiautoritĂ€re Aktivist*innen. Viele von denen, die ausgewandert sind, unterstĂŒtzen immer noch Aktivist*innen in Russland, z.B. diejenigen, die wegen ihrer Antikriegsmeinung an ihrem Arbeitsplatz mit Konsequenzen rechnen mussten. Antijob.net bietet diesen Menschen rechtliche UnterstĂŒtzung.
UnterstĂŒtzt auch weiterhin Gefangene in Russland
Die Kontaktadressen aller von uns unterstĂŒtzten Gefangenen in Russland findet ihr hier. und eine Anleitung zum Spenden findet ihr hier. Wenn ihr fĂŒr einen bestimmten Gefangenen oder Fall spenden wollt, kontaktiert uns bitte vorher, um sicher zu gehen, dass die UnterstĂŒtzer*innen des Gefangenen oder Falles gerade Spenden sammeln.
Unsere Kontaktinformationen findet ihr hier.
Moscow Anarchist Black Cross
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Quelle: Abc-wien.net