
Mahala ist eine anti-autoritäre und anarchistische Selbstorganisation von Arbeitenden in Rumänien. Die Genossinnen und Genossen unterstützen kämpfende Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie klären über Arbeitsrechte auf und sind immer wieder in der Öffentlichkeit präsent. Wir sprachen mit ihnen im Januar 2020.
1. Warum habt ihr Mahala gegründet und was bedeutet euer Name?
„Mahala“ ist ein rumänisches Wort, das grob übersetzt soviel wie „Slum“ oder „arme Nachbarschaft“ bedeutet. Traditionell bezieht es sich auf jede Form von Unterkunft, die mit einer Straße verbunden ist. Der heutige Gebrauch des Wortes ist meistens negativ besetzt, in Anbetracht dessen, wie Leute oft dazu tendieren, auf Menschen aus der arbeitenden Klasse, den Marginalisierten und Armen herunterzublicken. Trotzdem bringt es auch gleichzeitig das Bild ethnisch verschiedener und sozial vereinter Gemeinschaften in den Sinn, die gemeinsam gegen Armut kämpfen.

Agitation und Aufklärung in Târgoviște.
Wir gründeten Mahala, beeinflusst von anarcho-syndikalistischen Kampf- und Organisations-Methoden, basierend auf den Prinzipien von Anti-Autoritarismus, anti-kapitalistischer Solidarität, Konsens, Unabhängigkeit und Freiheit, geschlechtlicher, politischer und ökonomischer Gleichheit und Gerechtigkeit – um nur ein paar zu nennen – als eine informelle Gruppe im Sommer 2015 in Bukarest. Die Notwendigkeit diese Gruppe zu bilden, erwuchs aufgrund der durch Austerität, Deregulierung, Flexibilisierung und anderen neoliberalen Konditionen erzeugten Bedingungen, die seit der letzten Dekade zur Anwendung kommen. Die Gründung war zudem unsere Reaktion auf eine wachsende rechtsextreme Stimmung, die innerhalb des politischen und kulturellen Lebens Wurzeln geschlagen hat.
2. Was ist eure Motivation gerade in der Arbeitswelt zu agieren?
Wenn man in Rumänien aufgewachsen ist, kann man nicht anders, als festzustellen, dass die liberale Klasse, die Konservativen und die sogenannten Sozialdemokraten den Anstieg der Armutsraten verleugnen (von denen sie behaupten, dass die Armut ausschließlich die Schuld der Armen ist und nichts mit systemischen Gesetzmäßigkeiten zu tun hat), die massiven Einkommensunterschiede, Lebensbedingungen und Lebenserwartung.
Trotz der wachsenden Ungleichheiten und der Armut, die sich Tag für Tag offenbaren und die sogar durch einige darauf bezogene Studien und Reportagen hervorgehoben wurden, weigern sich Politiker und Intellektuelle sich mit dem Thema der Arbeit zu befassen. Dies liegt daran, dass ein gewerkschaftlicher Aktivismus noch heute teilweise mit dem ehemaligen national-kommunistischen Regime in Verbindung gebracht wird. Gleichzeitig legen die etwas erfolgreichere Mittelklasse und die städtischen Arbeiter eine verletzende Arbeitsethik an den Tag, nach der sich der eigene Wert als Mensch in den Kategorien von Arbeit, Stellung und Einkommen ausdrückt. Diese Zustände dargelegt, erscheint es ganz natürlich im Feld der Arbeit aktiv zu sein, zumal wir weder erwarten noch hoffen können, nachhaltigen strukturellen Wandel durch politische Parteien oder NGOs zu erzielen.
3. Könnt ihr die Arbeitsrealität in Rumänien beschreiben? Wie sieht die Wirtschaft aus, welche Industrien gibt es? Und könnt ihr was zu den Arbeitsbedingungen und Löhnen sagen?
Industrie und Ökonomie sind in Rumänien entlang verschiedener Linien getrennt, wie beispielsweise Stadt und Land, Industrieansiedlungen rund um die Hauptstadt Bukarest – und der handvoll großer Städte die es gibt – im Gegensatz zu den kleineren Städten, die Unterscheidungen zwischen den Büroarbeitern und denen in den blauen Anzügen usw. Obzwar ein Mindestlohn existiert, gehört dieser zu den niedrigsten in ganz Europa, mehr noch, mehr als 50% der Arbeitenden erhalten nur diesen Mindestlohn, der weniger als 300 Euro beträgt.
Nahezu wie überall anders auch, ist „Flexibilisierung“ das perfekte Wort, um die Arbeit und das rumänische Arbeitsrecht zu beschreiben. 2011 entschied die Regierung, die Arbeitsgesetzgebung zu „flexibilisieren“, um Investoren aufmerksam zu machen. Ungeachtet öffentlicher Opposition und vereinzelten Protesten wurde das Gesetzesvorhaben als Teil eines Pakets größerer Austeritätsmaßnahmen angenommen. Augenblicklich, als eine Konsequenz dieser Entscheidung, ist es Arbeitern „erlaubt“ Mehrarbeitsstunden zu leisten, manchmal bis zur Erschöpfung. Das generelle Arbeitsklima ist repressiver als zuvor und die Macht der Bosse und der Unternehmer ist gewachsen.
Neue Formen von außerberuflicher Arbeit, wie beispielsweise das Fahren für uber oder glovo oder ähnliche Tätigkeiten in der digitalen Arbeitswelt haben zugenommen. In dieser Form des neoliberalen Kapitalismus arbeiten Menschen ohne jegliche Dokumente oder Verträge, ohne jegliche Krankenversicherung und ohne jede Sicherheit zu wissen, was morgen geschehen wird.

Auf der anderen Seite gibt es die Industriearbeiter (die neue kapitalistische Industrie in Nachfolge der alten sozialistischen Industrie, die als unprofitabel empfunden und in den Bankrott geführt und stillgelegt wurde), die die größte Zeit ihres Lebens für den Mindestlohn in einem autoritären und bedrückenden Klima schuften. Einige von ihnen werden gekündigt, wenn sie nur die ihnen zustehenden Bonusse verlangen oder eine Gewerkschaft gründen wollen.
4. Viele Menschen aus Rumänien arbeiten in westlichen Ländern, z.B. in Italien, Spanien, Großbritannien oder Deutschland. Ihre sehr schlechte Bezahlung und oftmals auch schlechte Behandlung durch die Unternehmen sind bekannt. Seid ihr auch unter den rumänischen Arbeiterinnen und Arbeitern in der „Diaspora“ aktiv?
Wir sind uns über viele der Probleme bewusst, denen diese ArbeiterInnen gegenüber stehen und sind mit einigen von ihnen im Kontakt. Doch wirklich aktiv unter den Arbeitenden außerhalb Rumäniens sind wir nicht. Wir etablierten jedoch Kontakte mit verschiedenen Gruppen, die aktiv sind und ausländische ArbeiterInnen unterstützen oder gewerkschaftlich organisieren. Wir halfen ihnen verschiedene Broschüren und Materialien ins rumänische zu übersetzen oder beim Ausfüllen bürokratischer Formulare. Viele dieser Broschüren und Texte betreffen schwere körperliche Arbeit und Sex-Arbeit, da die Menschen, die in diesen Bereichen arbeiten, diese unter schwierigen Bedingungen erbringen.
5. Konntet ihr bei eurer Arbeit Erfolge verbuchen?
Unsere Arbeit besteht im Angebot kameradschaftlicher Hilfe für ArbeiterInnen und dem Anspruch problematische Situationen, wie z.B. nicht gezahlte Löhne, nicht gezahlte Krankenversicherungen, Aufhebungsverträge/Kündigungen und so weiter im Interesse der ArbeiterInnen zu lösen. Viele unserer Aktionen waren im Hinblick auf Entschädigungen erfolgreich.

Um ein paar Beispiele darzulegen: Wir halfen einer Arbeiterin ihren Lohn für zwei Monate zu erhalten, indem wir einfach einen Brief an den Boss schickten, in dem wir unsere Solidarität mit der Arbeiterin erklärten. Am nächsten Tag riefen sie sie an, um ihr sofort den Betrag, den sie ihr schuldeten, zu übergeben. Eine weitere erfolgreiche Aktion betraf die Arbeiter der DeLonghi Fabrik in der Metropolregion Cluj-Napoca. (DeLonghi produziert Kaffeeautomaten und ähnliches, Anm. BUNĂ). Die Arbeiter beschlossen vor Weihnachten in den Streik zu treten, da eine komplette Betriebsabteilung den Weihnachtsbonus nicht erhielt, den die Arbeiter aus den anderen Abteilungen erhalten hatten. Sie unternahmen Aktion und dann kam die Personalabteilung und versuchte sie zu beruhigen, indem sie ihnen versprach: „Ihr bekommt den Bonus, macht euch keine Sorgen“. Während der Weihnachtsferien gingen die Arbeiter in Urlaub. Als sie zurück in die Fabrik kamen, rief die Personalabteilung zwei bis drei Arbeiter pro Woche in ihr Büro und zwang sie ihre Kündigungen zu unterschreiben. Wir kamen in Kontakt mit den Arbeitern und unterstützten sie dabei, Zwangskündigungen zu verweigern und schufen öffentlichen Druck auf DeLonghi, um die Angriffe zu beenden. DeLonghi erklärte daraufhin, keine weiteren Entlassungen aus diesem Grund auszusprechen.
6. In Rumänien existieren mehrere Gewerkschaftsverbände. Sind diese alle sozialpartnerschaftlich ausgerichtet? Und welchen Einfluß haben sie? Sind sie unabhängig von Staat und Kapital?
Viele der Gewerkschaften sind das, was wir traditionell als gelbe oder reformistische Gewerkschaften bezeichnen würden. Sie schaffen einen bürokratischen Apparat und bemühen sich neben den Kapitalisten und politischen Parteien zu arbeiten. Während ihr Einfluß mit jedem neuen Vorstoß für „Flexibilisierungen“ abnimmt, haben sie noch immer eine traditionelle Verankerung in Fabriken und Arbeitsstätten; ein Verdienst jahrelanger Aktivität und Netzwerkarbeit. Sie erscheinen völlig abgehoben von den täglichen Realitäten und Bedürfnissen ihrer Mitglieder. Man könnte einige offensichtliche Parallelen in der Beziehung von Gewerkschaften und der Labour-Party in Großbritannien ziehen, da die rumänischen Gewerkschaften („Sindicat“ genannt) traditionell bessere Verhandlungen mit der neoliberalen sozial-demokratischen Partei führen konnten als mit jeder anderen politischen Partei oder Koalition. Trotz des gesagten wird es in Rumänien höchst missbilligt, wenn man ein Gewerkschaftsmitglied ist oder eine Gewerkschaft gründen will. Es gab Fälle von Gewalt gegen gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnen, auch in jüngster Vergangenheit.
7. Was denkt ihr, ist die Lösung für all die durch Kapitalismus und Staat geschaffenen elementaren gesellschaftlichen Probleme von Ausbeutung, Armut und damit verbundener Unfreiheit und Erniedrigungen?
Die ideale Lösung, so denken wir, ist sehr offensichtlich: Die Demontage des autoritären kapitalistischen Systems und sein Ersetzen durch verschiedene Formen von Organisierung, basierend auf kollektivistischen, syndikalistischen und kommunalen Prinzipien, organisiert in föderalistischer Weise mit einem Schwerpunkt auf direkter Demokratie und sozialer Ökologie.
Ein schnellerer Ansatz, einer der unsere aktuellen Realitäten und Fähigkeiten besser reflektiert, ist es, duale Machtstrukturen zu schaffen. Wir meinen damit auf der einen Seite die Schaffung vieler informeller Alternativen zum Staat, wie beispielsweise Grasswurzel-Organisationen und radikale Gewerkschaften, die auf anarchistischen und intersektionellen Prinzipien beruhen. Auf der anderen Seite sollte so weit wie es nur geht Druck erzeugt werden um Reformen zu erzielen, Gesetze, die ArbeiterInnen gestatten, die Kontrolle über ihren Arbeitsplatz auszuüben oder zumindest einige Formen von Arbeitsplatzdemokratie zu haben. Weiterhin muss Druck geschaffen werden für eine humane und umweltfreundliche Politik. Bei alledem dürfen unsere radikaleren und emanzipatorischen Ziele nicht beeinträchtigt werden.
8. Welche Möglichkeiten seht ihr, eine anarcho-syndikalistische Föderation in Rumänien zu schaffen?
Das ist eine komplizierte Diskussion, doch wir denken, dass es besser wäre, eine solche auf einer größeren Ebene zu schaffen, innerhalb des Rahmens balkanweiter und ost-europäischer Solidarität, anstelle einer nationalen Ebene. Diese Regionen haben eine größere Tradition der Organisierung und anti-autoritärer Kämpfe. Das Zusammenbringen dieser vielfältigen Bereiche, entlang verschiedener Formen lokaler Solidarität und unterschiedlicher Ansätze von Widerstand und gegenseitiger Hilfe kann zu einem föderalistischen Netzwerk führen, in welchem Anarcho-Syndikalismus ein (wichtiger) Teil sein kann, der im Tandem mit radikalen kommunalistischen und grünen Bewegungen, autonomen Kollektiven usw. besteht.
9. Arbeitet ihr mit gleichgesinnten Gruppen in Rumänien zusammen? Wie beurteilt ihr die jüngere Entwicklung der anarchistischen Bewegung in Rumänien?
Die radikale Linke und anarchistische Szene in Rumänien ist in den letzten fünf Jahren angewachsen. Im Moment gibt es viele Gruppen in verschiedenen Städten. Einige verwalten Räume und Lokalitäten, während andere das nicht tun. Wir sind in Verbindung mit dem Autonomen Kollektiv Macaz Colectiva Autonomă Macaz in Bukarest – Macaz ist das rumänische Wort für Weiche – und mit Acasă (Zuhause) aus Cluj-Napoca. Es gibt Kollektive, die keine eigenen Räumlichkeiten betreiben, dafür aber beispielsweise online aktiv sind. Dazu gehört der Verlag Editura Pagini Libere (einige von uns sind Mitglieder dieses Kollektivs), A-Szem (ein Kollektiv, das Texte in ungarischer Sprache verlegt), Anarhiva (ein Kollektiv, das historische anarchistische Dokumente digitalisiert und kostenlos zugänglich macht, beispielsweise anarchistische Schriften aus dem 20. Jahrhundert und so weiter), FCDL (die kommunale Front für das Recht auf Wohnen), Dreptul la Oraș (Recht auf Stadt) aus Temeswar und viele andere.
Weiterhin gibt es Gruppen, mit denen wir nicht zusammen arbeiten. Bei manchen aufgrund der Distanz oder weil wir nicht wirklich in Verbindung stehen. Dazu gehören z.B.: Armonia (Harmonie) aus Temeswar, Niște Fete (Einige Mädchen), die die feministische Zeitschrift zine.fem herausgeben, Dysnomya, ein Kollektiv, das eine feministische Zeitschrift gleichen Namens herausgibt und viele andere.
10. Was ist euch noch wichtig zu sagen?
Wir können wirklich nicht zwischen „Organisieren wir uns!“ oder „Solidarität!“ entscheiden. Also machen wir mit beidem weiter.
Vielen Dank!
Dieser Artikel ist erschienen in BUNĂ #7
Quelle: Revistabuna.wordpress.com