Juni 19, 2022
Von Anarchistische Bibliothek
9 ansichten

Vorwort

Bakunin sagte, die Rebellion des Individuums gegen die Gesellschaft sei viel schwieriger als die Rebellion gegen den Staat, denn die Gesellschaft absorbiere das Individuum, dringe in es ein, umgarne es mit ihren BrÀuchen und ihrer Moral, von Geburt an bis zum Tode.

Er sagte auch, unter tausend Menschen finde sich kaum einer, der eigene MaßstĂ€be besitze. Systematischer Disziplinierung unterworfen, mal subtil und dosiert, mal bestialisch und grausam; auf von der Herrschaft vorgeschlagene und definierte Ideen und Interessen konditioniert, physisch und mental erstickt, verweigert man dem Individuum ein Bewusstsein seiner selbst und seiner unwahrscheinlichen Möglichkeiten.

Diese Vorgaben internalisiert das Individuum dergestalt, dass sie sich auf die Entwicklung der Persönlichkeit auswirken, sich auswirken auf die FĂ€higkeit zur Reaktion auf die verschiedensten Situationen, denen sich das Individuum ausgesetzt sieht, das heißt, es wird diese Vorgaben ĂŒberall mit hinschleppen, wo es interagiert.

Als die GenossInnen auf der Halbinsel mich darum baten, ein Vorwort zu dieser ersten deutschsprachigen Auflage des Buches von XosĂ© TarrĂ­o zu schreiben, gestehe ich, dass mir viele Zweifel kamen: Was sollte ich schreiben? Wo anfangen? Ich denke, XosĂ©s Buch bedarf keinerlei Einleitung, es spricht fĂŒr sich selbst. Da mein Freund aber ermordet wurde, und sein Zeugnis uns dazu dient, die RealitĂ€t im GefĂ€ngnis in ihrer ganzen Bandbreite aus der NĂ€he kennen zu lernen, kann ich diese Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, um einigen die Ehre zukommen zu lassen, die ihnen gebĂŒhrt, und zwar denjenigen, die diese RealitĂ€t nicht gleichgĂŒltig gelassen hat und die bis heute in Veröffentlichungen und Aktionen fĂŒr das Ende dieses barbarischen Systems kĂ€mpfen, das uns alle zu weniger menschlichen und zivilisierten Wesen macht.

Das Buch Hau ab, Mensch öffnete vielen Personen und Kollektiven auf der iberischen Halbinsel die Augen. Niemand konnte oder wollte glauben, dass im »postfranquistischen« Spanien des so genannten »demokratischen Übergangs« die Folter andauerte, die das totalitĂ€re Regime von Generalissimo Francisco Franco traurig berĂŒhmt gemacht hatte. Was viele nicht wahrnehmen oder verstehen wollten war, dass eine Diktatur nicht am Ende ist, weil ihr herausragendster Kopf stirbt. Die Diktatur ist ein System, in dem die Institutionen (speziell die repressiven) von straffen ParteigĂ€ngern derselben gefĂŒhrt werden.

Und so war das, was wir im GefÀngnis vorfanden, eine Legion Faschisten, in den Anstalten der »Demokratie«. Die Geschichte von COPEL inspirierte uns in gewisser Weise dazu, einen Kampf aufzunehmen, den wir von vornherein verloren wussten.

Viele Gefangene, die heute Kontakt zu Strafvollzugsgerichtsbarkeit, vis-a-vis-Besuche, TelefongesprĂ€che, Radioapparate und andere »Grundrechte« genießen, haben vergessen, dass all diese »Rechte« in Wirklichkeit Erfolge und Frucht der KĂ€mpfe tausender Gefangener sind, die sich um COPEL organisierten. ÜberflĂŒssig in Erinnerung zu rufen, dass diese Rechte uns viel Blut und TrĂ€nen gekostet haben.

Viele KÀmpfe, die wir damals verloren glaubten, inspirierten nachkommende Generationen. Es gibt Verluste, die keine Niederlage bedeuten und Niederlagen, die uns dabei helfen können zu gewinnen.

XosĂ© war davon ĂŒberzeugt, dass sein Buch den sofortigen Effekt zeigen wĂŒrde, der spanischen Gesellschaft die Augen zu öffnen. Er vergaß, dass jeder Prozess Zeit braucht, Bewusstsein, Arbeit und Hingabe, um von anderen verstanden und verinnerlicht zu werden. Vielleicht war er es auch selbst, dem es an Zeit fehlte, besessen wie er war von dem verdammten Virus, das in seiner Blutbahn zirkulierte.

XosĂ© kam nach vielen Jahren aller möglicher Folter heraus. Er dachte, jetzt, da er frei war, konnte er noch viel mehr zum Kampf gegen das GefĂ€ngnis beitragen, in Antirepressionsgruppen. Doch seine Hoffnungen erfĂŒllten sich nicht; er fand keine starke, bewusste Bewegung, organisiert und bereit, ernsthaft gegen eine derart perfekt geölte und wirksame Maschine zu streiten.

Nichtsdestotrotz fuhr er von einem Ende der Iberischen Halbinsel zum anderen, um ĂŒber FIES zu reden, ĂŒber die Folter und alles das, was er wusste vom Faschismus dieser Unterwelt.

Wenig spĂ€ter, im September 2003, wurden die GenossInnen aus Barcelona verhaftet, und er konnte den Mangel an SolidaritĂ€t einiger selbst miterleben, die sich nicht mit denjenigen anderen solidarisieren wollten, die in aller Konsequenz und als Teil der Bewegung kĂ€mpften. Drei Monate spĂ€ter tauchte ich unter, das war fĂŒr mich das einzig Sinnvolle. Ich versuchte so (wenigstens) dem Kampf von außen einen Anschub zu geben.

XosĂ© fĂŒhlte sich allein und verloren in einer Welt, die er nicht verstand, und schließlich ließ er sich fallen. Er wusste nicht mehr, was er in der Welt, die er vorfand, anfangen sollte. Alles hatte sich verschlimmert: Die menschlichen Beziehungen waren immer weniger menschlich, die revolutionĂ€ren Bewegungen immer reformistischer und eingepasster in die Logik der Herrschaft.

Jemand schrieb einmal, zwanzig Jahre seien geschichtlich betrachtet nicht mehr als ein Atemzug, wĂ€hrend sie fĂŒr einen Menschen ein Drittel seiner Lebenszeit bedeuten. Es ist ein bedeutender Unterschied, ob diese zwanzig Jahre zwischen Mauern oder unter Menschen verlebt werden, es ist sogar ein Unterschied, ob zu »normalen« oder zu »Sonderhaftbedingungen«.

Wir, XosĂ©, Patxi, Paco und so viele andere, mussten lernen, in diesen fĂŒrchterlichen »Sonderabteilungen« zu ĂŒberleben, wo wir vom Rest der inhaftierten Bevölkerung getrennt gehalten wurden. Wir lernten, dass Rebellion oder Tod die Alternative war, die uns blieb. Und wir rebellierten.

Wie auch immer, diese drei Freunde (und andere) sind nicht mehr unter uns, physisch, um mit uns zu kÀmpfen. Aber sie haben uns ihr Zeugnis hinterlassen: Ihre Erinnerungen, ihre Schlachten, ihre Geschichten, ihre Liebe und ihren Hass.

Seit einiger Zeit wird ĂŒber die Absicht spekuliert, XosĂ©s Buch zu verfilmen. Ich hoffe nur, dass, wenn es so weit gekommen ist, der Film sich an den Text von XosĂ© hĂ€lt und dazu dient, die Gesellschaft ĂŒber die fĂŒrchterliche RealitĂ€t der Folter aufzuklĂ€ren, die sich nicht nur in tausenden Kilometern Entfernung in so genannten DrittweltlĂ€ndern abspielt.

Ich weiß nicht, ob es im Oktober oder im November 2006 war, als einige GenossInnen von der Halbinsel eine Tour ĂŒber die Apennin-Halbinsel und Sardinien organisierten, zum Anlass der zweiten italienischsprachigen Auflage des Buches von XosĂ©, Frucht der Kooperation der GenossInnen beiderseits des Mittelmeers (Cruz Negra Anarquista Albacete und Archivio Severino Di Giovanni). Ich habe die Namen der GenossInnen nicht vergessen, die dieses Event möglich gemacht haben: Alaitz, Pastora, Ignacio, Stefano, Timo…

Manchmal fĂ€llt es mir schwer, Worte zu finden, um meine aufrichtige Dankbarkeit und Liebe zu diesen GenossInnen auszudrĂŒcken, vielleicht, weil ich »gelernt« habe, meine GefĂŒhle zu unterdrĂŒcken, um mich dieser Unterwelt anzupassen, oder weil diese Leute, die mich kennen und lieben, schon wissen, wie mich diese schönen GefĂŒhle inspirieren – da sind Worte doch ĂŒberflĂŒssig… Sind sie wirklich ĂŒberflĂŒssig? Ich glaube, nein, es ist richtig, dass ich mir auf diesen einfĂŒhrenden Seiten die BlĂ¶ĂŸe gebe und von Herzen zu jeder meiner GenossInnen spreche, ihnen meine GefĂŒhle mitteile, bevor man mir kraft Gesetzes das Maul stopft, mir als »Gefahr« fĂŒr unsere »Demokratie« verbietet zu reden.

Alaitz ist mehr als eine Genossin, sie ist meine Freundin und uns verbindet eine langjĂ€hrige Beziehung, die sich auf dem gegrĂŒndet und gefestigt hat, was wir seit dem Tag, da wir uns kennen lernten, gemeinsam durchlebt haben.

Wir haben gelernt, uns die BlĂ¶ĂŸe zu geben, uns zu hinterfragen, uns gegenseitig AnstĂ¶ĂŸe zu geben, und dies immer aufs Neue zu tun. Gemeinsam konnten wir als freie Personen wachsen und so haben wir uns entdeckt, trotz der Mauern, die uns trennten, und der Hindernisse, die uns mehr als ein stupider BĂŒrokrat in den Weg legte. Und wir wachsen weiter. Ich fĂŒhle mich in ihrer Schuld… deshalb möchte ich mich ihr in diesen Zeilen zĂ€rtlich zuwenden.

Pastora ist XosĂ©s Mutter (der fĂŒr mich wie ein Bruder war), doch nicht nur das… Pastora hat sich ĂŒber das System, in dem wir lebten, aufgeklĂ€rt und einen hohen Preis dafĂŒr bezahlt. Sie hat ohnmĂ€chtig den MissbrĂ€uchen der Justizverwaltung beiwohnen mĂŒssen, der so genannten Justiz, die schließlich einen ihrer Söhne ermordet hat… Doch sie blieb bei allem Schmerz und aller Trauer nicht allein, zusammen mit anderen MĂŒttern hat sie sich organisiert, und heute sehen wir sie ĂŒberall dort RĂŒckgrat zeigen und sich auflehnen, wo es nötig ist. Pastora hat verstanden. Wie sie selbst es in einem Satz zusammenfasst, der besser ist als tausend Worte: Wenn wir Armen nicht einander helfen, wer wird es dann tun? Wegen dieses ihres Manifests, unter vielem anderen, kann sie immer auf mich zĂ€hlen. Ich habe keine Worte, um den Respekt, die Bewunderung und die Liebe auszudrĂŒcken, die ich fĂŒr diese große Frau empfinde.

Ignacio, Timo und Stefano habe ich vor Kurzem kennen gelernt. Es liegen noch viel Zeit und viel Arbeit vor uns, doch was wir heute schon teilen, ist ohne Zweifel wunderbar. An sie und alle anderen, die bei der Tour mitgeholfen haben und die ich nicht kenne, richte ich als kleine aber ehrliche Anerkennung meine zÀrtlichste Dankbarkeit.

Das Buch, das du in den HĂ€nden hĂ€ltst, ist das rohe und ehrliche GedĂ€chtnisprotokoll der GefĂ€ngnisrealitĂ€t und der FIES- Sonderhaftbedingungen im spanischen Staat. FIES, das dĂŒrfen wir nicht vergessen, wurde mittels halboffizieller Dienstanweisungen in Kraft gesetzt, illegal und hinter dem RĂŒcken der Gesellschaft, allerdings vor Kurzem »legalisiert« durch die Oberschließerin Frau Mercedes Gallizo, am 22. Februar 2006. Das Buch ist außerdem die Geschichte einer Gruppe libertĂ€rer Gefangener der Gesellschaft, die wir uns auf diffuse Weise in der Folge bestehender Freundschaften zu organisieren versuchten, um mit allen uns zur VerfĂŒgung stehenden Mitteln gegen ein irrsinniges System zu kĂ€mpfen, das dazu gemacht ist, jeden Menschen zu entpersönlichen und zu zerstören.

In diesem Kampf haben mindestens vierzehn hervorragende Genossen ihr Leben verloren, unter ihnen der Autor dieses Buches.

Die Geschichte ist zu lang und zu komplex, als dass ich sie hier im Vorwort zusammenfassen könnte. Ich fĂŒhle die moralische Verantwortung, irgendwann ein anderes Buch zu schreiben, mit dem ich die kollektive Arbeit fortsetzen kann, die XosĂ© TarrĂ­o und andere FIES-Gefangene mit ihren BĂŒchern begonnen haben, darunter: AdiĂłs PrisiĂłn von Juanjo Garfia, A ambos lados del muro von Patxi Zamoro oder Volando a la cĂĄrcel von Antonio Valera Hidalgo.

Am 28. Juni 2004 wurden in Aachen JosĂ© FernĂĄndez Delgado, Bart de Geeter, meine Schwester Begoña und ich verhaftet. Boulevardpresse und Repressionsorgane, Polizei und Justiz dieses Landes beschrieben uns von Anfang an als »Kriminelle«, und etwas spĂ€ter, als sie Wind bekamen von unserer Beteiligung am Gefangenenkampf und Mitgliedschaft in SolidaritĂ€tsgruppen, ersetzten sie diese Vokabel durch »Terroristen«. Das gestattete ihnen, uns in der Haft einer FIES-Ă€hnlichen Isolation auszusetzen. Nicht zu vergessen der beeindruckende und ĂŒberflĂŒssige Einsatz von SicherheitskrĂ€ften, so rechtfertigten sie das Unrecht: erniedrigende Durchsuchungen (unserer Personen, unserer Freunde, gar meiner Mutter), groteske Sicherheitsmaßnahmen wĂ€hrend der Überstellungen, gefesselt an HĂ€nden und FĂŒĂŸen, Augen und Ohren verbunden, Spezialkommandos etc. Und im GefĂ€ngnis: Totale Isolation, uniformierte Kleidung, kein Radio oder Fernsehen, alle Kommunikation zensiert, keine TelefongesprĂ€che… Seit unserer Verhaftung sind fast drei Jahre vergangen und JosĂ© und ich befinden uns immer noch unter gesonderten »Sicherheitsauflagen«, einfach weil wir sind, wer wir sind, nicht etwa, weil wir eine Gefahr fĂŒr jemand darstellten.

Der Prozess war ohne Zweifel eine Farce. Peinlich das Auftreten des Gerichts. Es weigerte sich zu jeder Zeit, die von der Verteidigung berufenen Zeugen anzuhören, und versperrte sich so die Chance, sich zu erklĂ€ren wer wir waren und woher wir kamen, was es war, das uns bewegte, was wir sagten und dachten, und was es war, das sowohl die Menschenrechtsgruppen im spanischen Staat als auch die UNO und andere sagten… Das Aachener Gericht geruhte, kein Licht auf die Ursachen und GrĂŒnde dessen zu werfen, was an jenem traurigen 28. Juni 2004 geschah. Es geruhte vielmehr, der sensationalistischen Gier von Presse und diversen Polizeien aufs Morbide nachzukommen. In unserem Fall band sich Iustitia die Augen nicht. Keine Unparteilichkeit, kriminelles Komplizentum.

Doch das hatte ich irgendwie erwartet. In kapitalistische Warenform verpackte SpektakularitĂ€t, wie jedes Konsumprodukt luftleer verschweißt, ohne Gehalt, leicht verdaulich fĂŒr eine unkritische Masse. Die Tatsachen, genau so fade und geschmacklos geschrieben wie wahrgenommen.

Was ich nicht erwartet hĂ€tte, weil ich die politische RealitĂ€t dieses Landes nicht kannte, war das komplizenhafte Schweigen der ĂŒbergroßen Mehrheit der sich radikal nennenden Linken, die Übereinstimmung mit Version und Argumentation der Herrschenden.

Man kann mit der politischen Analyse und den Aktionen, die Einzelpersonen oder Gruppen vorbringen, einverstanden sein oder nicht; wenn aber die Kritik, die in den systemtragenden Medien stattfindet, einigen als Argumentationsgrundlage dafĂŒr dient, die Repression der GenossInnen zu rechtfertigen, die in die HĂ€nde der StaatsbĂŒttel gefallen sind, finde ich dafĂŒr kein anderes Wort als: Kollaboration. Und ich habe mich geschĂ€mt fĂŒr diese Art von »GenossInnen«.

In mehrfacher Hinsicht sind die Haftbedingungen und der Zustand fehlenden Rechtsbeistands in diesem Lande schlimmer als im spanischen Staat. Aber es geht hier nicht um Vergleiche formaler Art oder um eine makabere Rangliste, denn das wĂ€re eine hĂ€ssliche Aufgabe. Es geht darum, mit denen solidarisch zu sein, die der direkten Gewalt der Herrschenden unterworfen sind; solidarisch zu sein heißt nicht, die »Ideologie« der Gefangenen oder ihr Handeln in allen Gesichtspunkten zu teilen. Es geht um den Austausch von EindrĂŒcken und Wissen. Es geht darum, in diesem Land, und heute

noch, eine Anti-Knast-Bewegung hinzubekommen, mit antikapitalistischer Perspektive und ohne ins Sektiererische zu verfallen. Oder, wenn’s beliebt, eine antikapitalistische Bewegung, in der das Thema GefĂ€ngnis den Ort einnimmt, den es in einer sozialen Bewegung verdient.

Ich hĂ€tte mir gewĂŒnscht, den Prolog zu diesem Buch schriebe ein deutscher Genosse wie Thomas Meyer-Falk, der seit Jahren allein kĂ€mpft, von einem Isolationskerker aus und bedroht von einem Gesetz, dass dem Strafgesetzbuch des Nationalsozialismus entstammt und bis in unsere Tage gĂŒltig ist. Oder jemand der Gefangenen der RAF, die immer noch einsitzen, und das wegen ihrer Symbolkraft eher als wegen sonstiger absurder juristischer, politischer oder sozialer HintergrĂŒnde. Genau diese HĂ€ftlinge waren die ersten wirklichen FIES-Gefangenen.

Es gab nicht nur EnttĂ€uschungen in diesem Land. Ich hatte das GlĂŒck, auf wĂŒrdige und konsequente GenossInnen zu treffen, die sich von Staatsangehörigkeiten oder Ideologien nicht verblenden lassen, sondern denen eigene moralische Werte gelten. Einer dieser Genossen war ohne Zweifel Martin Poell, er war mir mehr als ein Anwalt und war stĂ€ndig auf dem Laufenden. Sein so frĂŒher wie unerwarteter Tod am 17. Dezember 2006 ließ in uns allen, die wir ihn kannten und schĂ€tzten, eine große Leere zurĂŒck. Sein Tod ist ein schwerer Verlust fĂŒr uns alle, persönlich und politisch.

Ich will es auch nicht lassen, Kathrin zu erwĂ€hnen, die von dem Moment unserer Verhaftung an mit uns Kontakt hatte und sich um unsere politische und persönliche Verteidigung kĂŒmmerte, ohne die Repression zu fĂŒrchten, die allerdings in der Tat ĂŒber sie herein brach, aufgrund ihrer SolidaritĂ€t mit uns und der absurden polizeilichen Erkenntnis, sie habe »etwas mit uns zu tun«.

Ich vergesse auch David nicht, der dieses Buch ĂŒbersetzt hat, wie auch die anderen ÜbersetzerInnen, die zahllose Texte zur politischen und sozialen RealitĂ€t im spanischen Staat und das Thema FIES ins Deutsche ĂŒbertragen haben.

Und in diesem Abschnitt der Danksagungen möchte ich auch ein wunderbares Paar nicht im Tintenfass zurĂŒcklassen, das ĂŒber die letzten drei Jahre solidarisch alle die aufgenommen hat, die nach Aachen kamen, sei es anlĂ€sslich der Justizfarce, oder spĂ€ter zu Knastbesuchen; ich meine Marlies und Kurt.

Vielen Dank an Wolfgang von der Redaktion Gefangenen-Info. Seit Jahren setzt er sich ein fĂŒr die Freilassung der letzten Gefangenen der RAF und die politisch-moralische Verteidigung von revolutionĂ€ren KĂ€mpfen hier und auf der ganzen Welt.

Der Abschnitt der Danksagungen wĂŒrde zu lang, schlösse ich

alle internationalen mit ein… Dank an die GenossInnen von Anarchist Black Cross/Cruz Negra Anarquista auf der ganzen Welt. An Bart und Bart, an Valerie, Kobe, Daniel, Marco Camenish, an die gefangenen Genossen im spanischen Staat und der ganzen Welt; an die, die uns verlassen haben und an die Neuen, die sich revolutionĂ€ren Ideen nĂ€hern; an die Familien der Gefangenen und die Gruppen, die von draußen möglich machen, dass die SolidaritĂ€t uns tatsĂ€chlich herzlich verbindet und das Netzwerk flicht, in dem wir alle uns wiederfinden, die wir eine gerechtere und menschlichere Welt nicht aufgegeben haben.

Mir ist bekannt, dass dieser Text nicht als konventionelles Vorwort gelten kann, doch bin ich weder konventionell noch bin ich Experte.

Wer die RealitÀt kennen lernen und mitmachen will, gehe zu den Veranstaltungen, die zu diesen Themen organisiert werden.

Ich wollte hier nicht ĂŒber mich selbst oder meine politischen Ideen schreiben, denn das gehört nur mir und den Meinen. Was die im Kampf gebrauchten Mittel angeht, so befinde ich mich nicht in einer Lage, aus der ich jemandem etwas erklĂ€ren könnte. Wenn ich mich einmal fĂŒr den Gebrauch von Waffen entschieden habe, so hat das mit mir zu tun und mit meinen persönlichen situationsbedingten und situationistischen Anschauungen. Ich dachte nicht etwa an ein vulgĂ€res Konzept von »bewaffneter Avantgarde«, noch bin ich »Pazifist« oder »Bellizist«, sondern einfach ein RevolutionĂ€r, der zu emanzipatorischen Prozessen dort beitragen will, wo sie stattfinden.

Bald lasse ich mich in mein Land abschieben. Ich hoffe, dass uns die Zeit, die mir in Deutschland noch bleibt, zur Suche nach AnknĂŒpfungspunkten dienen kann, nicht nur zu realitĂ€tsferner Diskussion und Polemik.

Aachen, 1. April 2007

Der Kampf geht weiter, bis wir alle frei sind!

Gabriel Pombo

Widmung

Vielleicht wohnt in uns eine Bestie,

geboren vom Leiden

unter der Trennung

von allem was uns lieb war

Meiner Mutter…

Isabel Álvarez GonzĂĄlez… (Isa)

Gabriel Pombo da Silva… (Musta)

Eduardo Jean-Baptiste Álvarez… (Chico)

Alexandra de QueirĂłs Vaz Pinheiro… (Xandra)

Der Freundschaft

Der Hoffnung

Der Freiheit

Allen freien Frauen und MÀnnern der Welt im GefÀngnis

Einleitung

Deine wilden Hunde wollen in die

Freiheit; sie bellen vor Lust in ihrem

Keller, wenn dein Geist alle GefÀngnisse

zu lösen trachtet.

NIETZSCHE, Zarathustra

La Coruña, 27. August 1987

Vier Uhr nachmittags, es ist sonnig und heiß. Sommer in Katanga, einem Viertel von La Coruña. Das gute Wetter lĂ€dt zum Spazieren ein, die Stimmung ist entspannt und angenehm. Vielleicht bemerkt deshalb niemand die Anwesenheit der Polizei. Getarnt in ziviler Kleidung und entschlossen angefĂŒhrt durch Kriminalinspektor Peña, nimmt eine Gruppe Polizisten ihre Position ein, in der Umgebung des Wohnsitzes des Mannes, zu dessen Festnahme sie gekommen sind: Spezialisten fĂŒr bewaffnete EntfĂŒhrungen, sie werden ihrer Beute keine Chance zur Flucht lassen. Zur Menschenjagd bereit.

Es ist fĂŒnf Uhr, als Bewegung im beschatteten Hauseingang festgestellt wird. Die TĂŒr öffnet sich und heraus kommt in zĂŒgigen Schritten ein junger Mann und begibt sich in Richtung einer nahe gelegenen Kneipe. Er hat nichts zu befĂŒrchten, weshalb er vertrauensvoll und unaufmerksam vorwĂ€rts lĂ€uft.

Der Mann ist identifiziert, die Einsatzgruppe setzt sich in Bewegung. Ein Liebespaar verfolgt den Mann, und als die beiden ihn gerade ĂŒberholen, zieht sie blitzschnell eine Waffe und hĂ€lt sie ihm vor die Brust, wĂ€hrend er ihn von hinten festhĂ€lt und die Handschellen auf dem RĂŒcken anlegt. Das war leicht. Andere Polizisten tauchen aus ihren Winkeln auf, um die Aktion zu unterstĂŒtzen. In ihren Augen steht die Zufriedenheit einer gut gemachten Arbeit geschrieben. Mehrere Autos halten vor Ort. Die Beute wird in das Innere eines derselben gebracht, um anschließend in Richtung Polizeirevier zu verschwinden.

Die Nachbarn waren dabei, sie haben das Wirken der BeschĂŒtzer von Recht und Ordnung mit ernsten Gesichtern verfolgt. Große Stille herrscht im Viertel. Es ist nicht das erste Mal, dass sie eine Gefangennahme miterleben, und sie danken Gott, dass dieses Mal keines ihrer Kinder dran war. Hier ist die Mehrheit der jungen Leute straffĂ€llig oder drogenabhĂ€ngig; schlimmstenfalls beides gleichzeitig. Deshalb applaudiert niemand dem Auftritt des Gesetzes. Wenigstens nicht hier.

Ein Mensch ist soeben von der Karte der Gesellschaft gestrichen worden, und seine Knochen werden ohne Zweifel in einer der fauligen und stinkigen Zellen der GefĂ€ngniskloake landen. Dort wartet auf ihn eine vor Jahren gemachte Schuld an der Gesellschaft, wegen Raubes. Er geht nun den Weg in die FĂ€ulnis: den Weg in die Hölle der zivilisierten Menschen. Zu zwei Jahren, vier Monaten und einem Tag Haft verurteilt vom Provinzialgericht von La Coruña, weiß er noch nicht, was das ungerechte Schicksal fĂŒr ihn bereithĂ€lt.

Es war der Anfang der Rache derjenigen, die, den Mund voll der Worte Demokratie und Gerechtigkeit, die Autonomie des Individuums, den Ausbruch aus der Schafherde und aus ihren Gesetzen nicht akzeptieren, die seine Verhaftung und anschließenden Freiheitsentzug predigen und ihr eigenes Gewissen mit einer juristischen Legitimierung des gesamten Vorgangs zum Schweigen

bringen.

Mit neunzehn Jahren musste also JosĂ© TarrĂ­o GonzĂĄlez, bekannt unter seinem Spitznamen Che, seinen hĂ€rtesten Lebensabschnitt antreten. Enterbt von der Welt durch seine Zugehörigkeit zu einer ökonomisch bescheidenen Familie, trat er einen unerbittlichen Weg an, vom Internat in die Erziehungsanstalt und von dort ins GefĂ€ngnis. Er weiß besser als irgendjemand, dass fĂŒr ihn die Reise ins Leben nicht mit dem gleichen GepĂ€ck wie fĂŒr die Kinder aus besser situierten Familien begann, dass er nicht dieselben Chancen hatte wie diese. Einen Teil seiner Kindheit und Jugend hat er in verschiedenen Anstalten verbracht. Der Staat hat ihn erzogen. Zu oft wurde er brutal verprĂŒgelt von denjenigen, die mit seiner Vormundschaft betraut waren und sich das Recht herausnahmen, ihn zu strafen. Er weiß, dass das derzeitige System ungerecht ist und nur einige wenige bevorteilt. Die Übrigen werden zu Sklaven des Uhrzeigers gemacht. Er hat sich geweigert mitzumachen, er hat seine Anarchie offen erklĂ€rt, ohne Scheinheiligkeit. Er selbst ist sich Richter und Gesetz, was sie ihm nie verzeihen werden, sie, die »Ehrbaren« und »Gerechten«.

Heute, am 15. September 1994, sieben Jahre spĂ€ter, sitzt er in einer Zelle unter den Sonderbedingungen FIES, im HochsicherheitsgefĂ€ngnis von Picassent, Valencia. Diese Sonderbedingungen, aus gutem Grund als die hĂ€rtesten in ganz Spanien eingeschĂ€tzt, sind 1991 von der Strafvollzugsverwaltung eingefĂŒhrt worden, um die Welle der AufstĂ€nde, Geiselnahmen und AusbrĂŒche einzudĂ€mmen, die jenen Sommer die spanische GefĂ€ngnislandschaft verwĂŒstet, und die immer noch gelten, obwohl sie laut Königlichem Erlass Nr. 787 vom 26. MĂ€rz 1984 nicht gelten dĂŒrften. Dort auf brutale Weise isoliert vom Rest der inhaftierten Bevölkerung befindet sich ein Teil der von FIES betroffenen, von der Generaldirektion des Strafvollzugs als besonders konfliktbereit eingeschĂ€tzte Gefangene oder Spezialisten fĂŒr AusbrĂŒche. Die Strafe von zwei Jahren, vier Monaten und einem Tag, wegen derer die Verhaftung stattgefunden hatte, hat sich erhöht auf insgesamt einundsiebzig Jahre GefĂ€ngnishaft, und zur Zeit wird deren Verdreifachung verhandelt in verschiedenen Prozessen, die die Justiz wegen verschiedener Delikte gegen ihn ablaufen lĂ€sst.

Jetzt nutzt er seine Zeit, um zu studieren, zu lesen und in seinen Freistunden Sport zu treiben. Wie so viele vor ihm, wurde er vor die Alternative gestellt: Unterwerfung oder Rebellion. Er wĂ€hlte letzteres, und das werden sie ihm ebenfalls nicht verzeihen. Er setzt sich also mit dieser Rache auseinander, deren Anfang Jahre zurĂŒckliegt und der er allein mittels einer Flucht entkommen können wird, setzt sich auseinander mit der Unterwerfung oder mit dem Tod, der lang und grausam mit ihm spielt, sich in ihm breitmacht, in Form von AIDS. Er weiß es. Deshalb hat er mit den ersten Zeilen eines Manuskripts begonnen. Er wird versuchen, die RealitĂ€t im GefĂ€ngnis zum Ausdruck zu bringen und das Scheitern des GefĂ€ngnissystems mit seinen barbarischen und antiquierten Strafen. Die ÜberprĂŒfung und Reform der Gesetze, die dieses System regeln, waren dringend nötig. Seine Erfahrung ist allerbestes Beispiel fĂŒr die Anwendung gewisser systematischer Methoden, die viele Menschen in regelrechte Bestien verwandeln. In den vorliegenden Seiten haben alle Gefangenen Platz, in deren Herzen immer noch Freundschaft, Hoffnung und Freiheit glĂ€nzen, den wilden Methoden zum Trotz, denen sie in ihrer Haft unterworfen sind und die zum Großteil an der Krankheit AIDS leiden. Ihnen widmet er ausdrĂŒcklich sein Manuskript, denn sie reprĂ€sentieren den Mut von Menschen, die tĂ€glich mit dem Tod konfrontiert, allein mit ihrer Selbstachtung, ihren Ängsten, die in eiskalten Zellen und schrecklicher Einsamkeit immer noch wĂŒrdig hoffen. Diesen Mutigen, die kĂŒhn dafĂŒr kĂ€mpfen, in den Armen des einzigen Rechts zu sterben, welches man weder wegdiskutieren noch in Ketten legen kann: In den Armen der Freiheit.

Picassent, 15. August 1994

Erster Teil: Auf dem Weg in die FĂ€ulnis

GefÀngnis von La Coruña, 19. August 1987

Auf den ersten Blick erweckt es eine gewisse Neugier mit seiner quadratischen Form und seinen Mauern aus altem Stein, verwittert von der Feuchtigkeit und dem Salz des nahen Meeres. Sein trauriger Anblick und die Grabesstille, die es umgibt, erlauben zusammen mit dem langsamen Gang der Guardias Civiles, die bewaffnet mit Maschinenpistolen sein GelÀnde bewachen, die langen Jahre des Leidens zu erahnen, die jene Mauern eingeschlossen halten.

Das GefĂ€ngnis von La Coruña, gegenĂŒber dem romanischen Herkulesturm, ist ein GebĂ€ude im alten Stil, an dessen Eingang, gestreichelt von der Meeresbrise, eine spanische Flagge weht. So tauchte es einmal mehr vor mir auf, als der Polizeitransporter die letzte Kurve zu seiner Einfahrt nahm.

»Wir sind da, Tarrío«, schrie mir einer der Bullen zu.

In der Tat, wir waren angekommen. Ich nahm einen letzten Zug von der Zigarette, warf sie auf den Metallfußboden des Transporters und zerdrĂŒckte sie mit dem Schuh. Die TĂŒr öffnete sich, und nach einer vorbeugenden Untersuchung der Fesseln, die meine HĂ€nde an den Gelenken zusammen hielten, stieg ich aus dem Transporter, eskortiert bis zum Eingang des GefĂ€ngnisses. Ein schlecht gelaunter Schließer nahm uns in Empfang. Er wurde die Kröte genannt, wegen seines betrĂ€chtlichen Doppelkinns. Zur Einweisung nahm man mir neue FingerabdrĂŒcke ab und die Handschellen wurden mir aufgeschlossen. Nach dem ĂŒblichen Papierkram entfernten sich die Diener des Gesetzes und ĂŒberließen mich endgĂŒltig der Obhut der Strafvollzugseinrichtung. Mein Leben, meine Freiheit und meine GefĂŒhle waren von jetzt ab den Launen der Schließer unterworfen, die die Menschen in Haft befehligten und kontrollierten. Sie waren dort Polizei, Gesetz und Richter, und sie handelten mit absoluter ImmunitĂ€t. So war das GefĂ€ngnis. Mehrere Schließer kamen herunter, um mich abzuholen.

»Nanu, Tarrío, schon wieder hier?« sagte einer von ihnen.

»Wie du siehst…«, antwortete ich ernst, ohne Lust ein GesprĂ€ch zu beginnen.

Sie ließen mich alle Kleidung ablegen, obligatorisch und ĂŒblich bei der Einweisung, mit dem Sinn, etwa illegal von außen Mitgebrachtes zu entdecken. Ich kannte den ganzen Vorgang, nicht umsonst war ich Gewohnheitskunde in dieser Anstalt. Ich hatte sie nur zwei Monate zuvor verlassen, nach sechs Monaten Haft. Nach Abschluss meiner Registrierung wurde ich wegen meines Alters in den Trakt fĂŒr MinderjĂ€hrige gebracht.

Ich traf dort mehrere Freunde, die herauskamen, um mich zu begrĂŒĂŸen.

»Was ist passiert, José?« fragten sie mich, als ich mich auf die Aufnahmezellen zubewegte.

»Nichts Schlimmes. Die Reklamation meiner zwei Jahre. Schickt mir spĂ€ter BettwĂ€sche, etwas Kleidung, Essen und ein paar Zigaretten, OK? Über alles weitere werden wir genug Zeit haben zu reden.«

Ich musste mindestens drei Tage Übergangszeit allein in einer Zelle verbringen. Diese Isolation hatte keinen Nutzen, war jedoch bei allen Einweisungen ĂŒblich. Nach Ablauf der drei Tage wĂŒrde ich auf den Hof hinausgehen und mit meinen Freunden zusammen in eine Zelle ziehen dĂŒrfen. Unterdessen wĂŒrde ich dort bleiben mĂŒssen.

In der Zelle angekommen, wandte sich ein Schließer aus meiner Eskorte an mich:

»Die Zelle ist ziemlich dreckig. Nachher bringt man Ihnen einen Putzeimer, damit Sie sie sÀubern können.«

»Ich wĂŒrde auch gern die Dusche benutzen…«

»Am Nachmittag. Werden Sie mittagessen?«

»Nein. Die andern werden mir am Nachmittag Essen und Kleidung schicken. Ich hoffe, man lÀsst die Sachen durch.«

»Einverstanden«, antwortete er und schloss die TĂŒr hinter sich.

Ein GefĂŒhl der Leere ĂŒberflutete die Zelle, und die Einsamkeit bemĂ€chtigte sich meiner. Ich legte mich rĂŒcklings auf die vergammelte Matratze, mit den HĂ€nden unter dem Kopf verschrĂ€nkt, in Gedanken. Es war die Zeit gekommen, zu bezahlen, doch bis zu welchem Punkt hatte die Gesellschaft moralisches Vermögen, das als gerecht hinzustellen? Zwei Jahre, vier Monate und ein Tag meines Lebens wegen eines simplen Raubes ohne Gewaltanwendung? War das wirklich eine gerechte Strafe oder vielmehr unverhĂ€ltnismĂ€ĂŸiges Abstrafen durch einen Richter, der mich den bitteren Geschmack einer exemplarischen Strafe kosten lassen wollte? Andererseits, wo befand sich die Grenze des selbst erteilten Rechts des Staates, zu strafen? Wer kontrollierte jene Strafe, und bis wohin war es legal oder human sie zu verlĂ€ngern?

Schöne Erinnerungen besĂ€nftigten meine GrĂŒbeleien. Erinnerungen, die nach und nach mit dem Lauf der Zeit verwelkten, wĂ€hrend andere stĂ€rker wurden. Ich war traurig.

Mit der Brotzeit am Nachmittag brachten sie mir die Kleidung, das Essen und den Tabak von meinen Freunden. Auch einen Eimer voll mit Putzmittel gaben sie mir, einen Wischmopp und einen Besen. Ich ging hinunter, um zu duschen und mir saubere Kleidung anzuziehen, mit der ich mich besser fĂŒhlte. SpĂ€ter wischte ich die Zelle mit dem Putzmittel, und nachdem ich das Bett neu bezogen hatte, schritt ich bis zum Abendessen die Zelle auf und ab. Sie war klein: Die Zelle maß etwa vier Meter in der Breite mal dreieinhalb in der LĂ€nge. Wie die anderen Zellen auch, war sie weiß gestrichen. Die WĂ€nde wiesen in Jahren angesammelten Schmutz auf. Ohne Zweifel war es lang her, dass man sie gestrichen hatte. Man konnte Worte lesen wie: »Mutterliebe«, »Schließer sind Arschlöcher«, »geboren zu leiden« oder Namen mit Datumsangaben. Die SĂ€tze waren die einzigen Vertrauten gewesen fĂŒr viele der dort eingesperrten MĂ€nner, fern jeder menschlichen WĂ€rme. Und sie werden es weiterhin sein.

Das Fenster war von außen mit einer Metallplatte verdeckt worden, damit wir Gefangenen die Felder oder das Meer nicht sehen konnten. Das Bett war aus Metall und fest in den Boden verankert. Eine GlĂŒhbirne, ein Waschbecken und ein ebenerdiger Abort vervollstĂ€ndigten das Arrangement an Elementen, mit denen die Zelle eingerichtet war. Es war so schĂ€big wie in allen Zellen, die ich kennengelernt hatte.

Nach mehreren Minuten Auf- und Abgehen kam das Abendessen. Ich aß auf dem Bett sitzend, denn es gab keinen Tisch und keinen Stuhl. SpĂ€ter zĂŒndete ich mir eine Zigarette an, zog mich aus und legte mich ins Bett. Ich war mĂŒde. Nach einer Weile schlief ich ein.

Nach den drei Tagen Übergangszeit kam einer der Dienstleiter, um mich zu sehen:

»TarrĂ­o, ich bringe schlechte Nachrichten fĂŒr Sie«, sagte er, »Der Direktor hat angeordnet, dass auf Sie Artikel 10 angewendet wird. Wir mĂŒssen Sie in Isolation bringen…«

»Weshalb denn das? Ich bin doch gerade erst angekommen.« – ich war verstört.

»Ich weiß es nicht, TarrĂ­o, ich glaube, das hat mit dem Streik zu tun, den Sie und ihr Freund Eduardo angezettelt haben, als Sie das letzte Mal hier waren. Sie waren deshalb bis zuletzt auf Artikel 10…«

»Ich weiß schon.«

Überraschend fand ich mich also erneut in Isolation wieder. Das war einer der vielen AmtsmissbrĂ€uche, die in diesem GefĂ€ngnis tĂ€glich stattfanden. Das Schlimmste war, dass ich nichts dagegen tun konnte, ich hielt also den Mund, packte meine Sachen und bewegte mich in Richtung Isolationsetage. Von ihren Fenstern aus grĂŒĂŸten mich meine Freunde:

»Eh, José, wo gehst du hin?«

»Da kommt ihr nicht drauf«, antwortete ich ihnen mit Humor.

»Ach du Scheiße!« rief einer.

»Ich hab’ das große Los gezogen!«

Ich suchte die gerĂ€umigste Zelle aus und zog ein. Ich hatte einige Zentimeter Raum gewonnen, einen Tisch, einen Stuhl und ein vergittertes Fenster, ohne Metallplatte, das mich das GelĂ€nde sehen ließ und den Wachturm der Guardia Civil. Ich vertraute darauf, dass man mich bald hier herausholen wĂŒrde. Mich isoliert zu halten, bedeutete fĂŒr sie soviel wie Ruhe, denn ich hatte bei Gelegenheit einen recht aufbrausenden Charakter und war stĂ€ndig in Streitereien verwickelt. Sie hielten mich fĂŒr konfliktwillig. Ich nahm es also mit Gelassenheit. Von nun an wĂŒrde ich nur zwei Stunden am Tag Hofgang haben, allein.

Diesen Monat ließen sie mich Besuch erhalten. Meine Onkel kamen, in Begleitung von Isa. Sie brachten mir die Nachricht vom Tod meines Cousins Lute. Diese Nachricht tat mir weh, denn er war ein guter Freund, mit dem ich die vergangenen Jahre zusammen gelebt hatte. Sein Tod ĂŒberraschte mich nicht; sein Leben konnte man mit dem Wort Drogen zusammenfassen, und alle wussten wir, dass er an den Drogen gestorben war. Ich sprach zu Isa:

»Hallo, Prinzessin, danke, dass du gekommen bist…«

»Hallo Che. Du weißt, dass ich immer, wenn du im Knast bist, kommen werde. Bis jetzt bin ich nicht ausgefallen, stimmt’s?«

»Wie geht es dir?« fragte ich sie.

»Gut. Ich hoffe, die lassen dich hier raus. Ich vermisse dich…«

Mir gefiel ihre Gesellschaft sehr. Isa war Waise ihrer geliebten Mutter. Ihr Vater hatte noch einmal geheiratet, und er und seine Frau zusammen machten ihr das Leben unmöglich. Sie floh aus einer unglĂŒcklichen Welt, aus dem, was ihr Zuhause hĂ€tte sein sollen. Jetzt lebte sie mit ihren Freundinnen zusammen.

Eines Tages, ich weiß immer noch nicht warum, wollte mein Freund Viqueira sie nach einer Diskussion schlagen, wogegen ich mich einsetzte. Ich hatte nie weiter auf sie geachtet; die Tatsache jedoch, dass ich mich mit meinem Freund angelegt hatte, um sie zu verteidigen, einte uns fortan. Wir schrieben unsere Freundschaft groß. Nun redeten wir miteinander, dabei weit entfernt von der wirklichen Zukunft, die wir uns nicht einmal vorstellen konnten. »Du solltest einen AIDS-Test machen, José«, sagte mein Onkel Suso.

Ich wollte mich zu Anfang vor der Idee verschließen, sagte aber schließlich zu. Ich versprach ihnen, den Test zu machen.

Die Sorge meiner Familie bestĂ€tigte sich: Ich war TrĂ€ger von HIV-Antikörpern: Positiv. Die krude und reale Bedeutung dieser Nachricht war ein schwerer Schlag fĂŒr mein GemĂŒt; sehr schwer fĂŒr jemanden, der nur neunzehn Jahre alt ist. Ich wusste aber, dass Jammern mir nichts helfen wĂŒrde und dass ich ernste Entscheidungen in Hinblick auf die Drogen und auf mein Leben wĂŒrde treffen mĂŒssen. Ich entschied mich, die Drogen sein zu lassen und anzufangen, mich körperlich fit zu halten mittels sportlicher Übung. Ich wollte der Krankheit in guter Verfassung entgegentreten und die letzten Jahre, die mir der Widerstand meines Organismus gegen das Virus gönnen wĂŒrde, voll ausschöpfen und genießen. Ich wĂŒrde kĂ€mpfen. Dessen war ich sicher.

GefÀngnis von Pereiro de Aguiar, November 1987

Einen Monat nach dieser Nachricht, die den Lauf meines Lebens geĂ€ndert hatte, wurde ich in das GefĂ€ngnis von Orense verlegt. Die Fahrt machte ich in einem kleinen Transporter, allein. An meinem neuen Ziel angekommen, befahlen sie mir, mich auszuziehen. Ich gehorchte, und nach dem Anziehen brachten sie mich in den Isolationstrakt, dessen einziger Insasse ich war. Sie hĂ€ndigten mir einen Satz BettwĂ€sche und eine Decke sowie einen Satz Toiletten- artikel aus, bestehend aus zwei Rollen Klopapier, einer ZahnbĂŒrste, Zahncreme und einem StĂŒck Seife. Ich dankte ihnen. Hier kĂŒmmerte man sich wenigstens um einiges ernsthafter als im GefĂ€ngnis von La Coruña um Hygiene und Sauberkeit.

Das GefĂ€ngnis von Orense in Pereiro de Aguiar war neu und modern. Deshalb befanden sich die Zellen noch in gutem Zustand. Sie waren gerĂ€umig und sauber. Die Fenster waren nicht vergittert, sondern mit kugelsicherem Glas ausgestattet, drei Lagen dick. Damit wollte man dem GefĂ€ngnis einen humaneren Anblick verleihen, um glauben zu machen, die Gefangenen seien weniger gefangen, freier. Nichts war weiter entfernt von der RealitĂ€t. Die Betten waren aus Stein, und auf ihnen ruhte eine saubere und harte Matratze. Eine TĂŒr trennte das Klo vom Rest der Zelle. Das Waschbecken aus rostfreiem Edelstahl war in einen Zementblock eingelassen; gegenĂŒber desselben glĂ€nzte ein großer an die Wand geklebter Spiegel. Es waren auch ein Stuhl und ein Tisch gebaut worden, beide aus Zement. Wollte man etwa mittels relativer Bequemlichkeit das GemĂŒt des HĂ€ftlings besĂ€nftigen? Ich musste zugeben, dass sich dies hier im Vergleich zu dem Kerker, den ich gerade hinter mir gelassen hatte, um einiges bequemer bewohnen ließ.

Am nĂ€chsten Tag holten sie mich zum Spaziergang heraus auf einen Hof mittlerer GrĂ¶ĂŸe. Ich staunte. Im Hof gab es vier StĂŒckchen Garten, eins in jeder Ecke. Die BĂ€umchen bescherten mir ironische Gedanken und eine gewisse Heiterkeit. Es war ein schrĂ€ger geschmackloser Scherz. Der Gerechtigkeitsbegriff der ehrbaren Leute beinhaltete hĂ€ufig derartige AbsurditĂ€ten. Dachten sie vielleicht, eine dieser Pflanzen wĂŒrde zu mir sprechen oder umgekehrt?

Es war rechtens, einen Menschen in andauernder Stille gefangen zu halten, doch bitteschön auf elegante und zivilisierte Weise.

Jenem GefĂ€ngnis stand damals JosĂ© Ignacio BermĂșdez vor, ein Psychologe, der kĂŒrzlich zum Posten des Direktors aufgestiegen war. Ich wusste es damals nicht, doch dieser Mensch wĂŒrde Jahre spĂ€ter wieder meinen Weg kreuzen. Ich wĂŒrde die Gelegenheit haben, den gesamten FĂ€cher seiner Möglichkeiten kennenzulernen, er wĂŒrde Direktor des GefĂ€ngnisses von Dueso, Santander sein. Doch das ist eine andere Geschichte.

Die Tage verliefen normal und ich gewöhnte mich an Einsamkeit und Stille. Ich begann mich fĂŒr das Lesen zu begeistern. Ich wurde erneut nach La Coruña gebracht, um an einem Prozess im Provinzialgericht teilzunehmen, zusammen mit meinem Freund Eduardo Jean-Baptiste Álvarez, wegen Körperverletzung. Chico war Tage zuvor verhaftet und wegen mehrerer Bankraube angeklagt worden. Dort traf ich ihn.

»Was ist mit dir los?« fragte ich ihn, nachdem ich ihn umarmt hatte, auf dem Weg ins Gericht.

»Sie erheben Anklage wegen ein paar Banken, doch sie haben keine Beweise…«

»Gut, dann bist du vielleicht in ein paar Monaten draußen.«

»Das will ich doch stark hoffen, Kollege.«

Der Transporter hielt an. Sie holten uns heraus, der eine an des anderen Handgelenk gefesselt, und brachten uns, eskortiert von einer Gruppe Bullen, die gut gelaunt schienen, in den zweiten Stock, wo sie uns in einen kleinen Raum einschlossen. Bevor ich dort hineinging, konnte ich zwischen den Leuten Isa erkennen, die gekommen war, um mich zu sehen. Ich lĂ€chelte ihr zu. Ihre Freundin Sandra, die einmal zur Geliebten eines Freundes werden wĂŒrde, begleitete sie. Ich erreichte, dass sie mich einen Moment zu ihr ließen.

»Hallo Prinzessin, wie geht es dir?«

»Gut, und dir? Hoffentlich bringen sie dich zurĂŒck nach La Coruña, damit ich wieder wie vorher kommen kann.«

»Ich weiß nicht, ob sie mich nochmal hierher bringen; um mich fern von La Coruña zu wissen, sind die zu allem fĂ€hig…«

»Ich habe dir einen Haufen Briefe geschrieben, mit Fotos, hast du die bekommen?«

»Ja, sie haben mir sehr gefallen, danke, meine Kleine.«

Wir lĂ€chelten beide. Wir hielten diese Beziehung fĂŒr etwas ĂŒber das VulgĂ€re Erhabenes, sehr Erhabenes. An ihrer Seite löste sich jedes Problem in Freude auf; es war wie die verlorene Kindheit zurĂŒck zu bekommen, ohne Scham aufzutreten, noch einmal Kind zu sein. Sie war jung und voller Leben, voller Freude und Phantasie, ihre Gegenwart verwandelte mich, kein Zweifel.

Der Prozess verlief normal und ohne ZwischenfĂ€lle. Die Pantomime einer Gruppe Erwachsener, die göttliche Gerechtigkeit spielen. Ich blieb gleichgĂŒltig. Eine betrĂ€chtliche Blamage. Die Zwangsverteidigung ein Lacher. Einzig der Staatsanwalt zeigte ein gewisses Maß sprachlicher Gewandtheit, gierig auf ein hartes Urteil gegen uns, gierig auf die nĂ€chste Stufe seiner Ekel erregenden Karriereleiter.

Nach Ende der Sitzung brachte man uns zurĂŒck ins GefĂ€ngnis. Auf meinen Freund hatten sie ebenfalls Artikel 10 angewendet, weshalb wir in dieselbe Abteilung kamen. Wir begrĂŒĂŸten die Freunde, die uns von ihren Zellenfenstern aus riefen, als wir den Hof ĂŒberquerten, um den Isolationstrakt zu betreten. Es herrschte eine freundschaftliche Stimmung zwischen uns.

Am nĂ€chsten Tag brachten sie mich erneut ins GefĂ€ngnis von Orense. Dort nahm ich die ĂŒbliche Monotonie wieder auf, diesmal in Gesellschaft zweier Gefangener, die aus den anderen Trakten hierher verlegt worden waren, um ihre Disziplinarstrafen in Isolation abzuleisten. Ich war bemĂŒht mich gut zu betragen angesichts des Versprechens der Direktion, mich Mitte Dezember aus den Artikel-10-Haftbedingungen herauszunehmen. RegelmĂ€ĂŸig erreichten mich Briefe von Isabel, und ich verbrachte lange Stunden am Tisch und verfasste ausfĂŒhrliche Mitteilungen zur Antwort. Wir erzĂ€hlten uns all unsere Geheimnisse, Sorgen und WĂŒnsche. Ihre stĂ€ndigen Briefe fĂŒllten die Leere, die in allen Isolationstrakten herrscht; sie taten mir sehr wohl. Immer holte sie sich von mir zu den Themen Rat, die in ihrem Leben wichtig waren. Sie war einfach bezaubernd. Auch schickte sie mir Briefe meines Freundes Chico, und half uns so, die Verwaltung auszutricksen, wo doch die Korrespondenz zwischen Gefangenen im geöffneten Umschlag abgegeben werden musste, denn sie wurde gelesen. So erfuhr ich, dass er in KĂŒrze in die Anstalt von Teruel verlegt werden wĂŒrde, die traurig berĂŒhmt war fĂŒr die Messerstechereien und Morde, die regelmĂ€ĂŸig zwischen den Gefangenen stattfanden. Ich wĂŒnschte ihm GlĂŒck. Die Direktion ihrerseits hielt Wort und hob Mitte Dezember die Artikel-10-Bedingungen fĂŒr mich auf, mit der Folge meiner Verlegung nach La Coruña.

GefÀngnis von La Coruña, Dezember 1987

In La Coruña erwartete mich eine kleine Überraschung von Seiten der Direktion. Obwohl ich aus Artikel 10 entlassen war, wurden fĂŒr mich gesonderte Haftbedingungen angeordnet, als Vorsichtsmaßnahme. Das hieß, dass ich nur am Nachmittag zusammen mit den ĂŒbrigen HĂ€ftlingen auf den Hof gehen wĂŒrde. Die restliche Zeit wĂŒrde ich in die Zelle eingeschlossen verbringen. Einmal mehr trat die WillkĂŒr der Machthaber im GefĂ€ngnis offen zu Tage. Die Strafvollstreckungskammer, die dafĂŒr zustĂ€ndig war, die Einhaltung der Strafvollzugsordnung zu kontrollieren, blieb total passiv. Mir blieb nichts anderes ĂŒbrig, als das so zu akzeptieren; es wĂŒrde immer besser sein, als zurĂŒck unter Artikel 10 zu kommen. Ich erreichte jedoch, dass ich eine Zelle zusammen mit meinem Freund Miguel ExpĂłsito belegen könnte, der sich in derselben Lage wie ich befand.

Isabel nahm die Besuche wieder auf. Sie kam zu allen Terminen, und wir sprachen ĂŒber die Zukunft. Zu ihrem siebzehnten Geburtstag schenkte ich ihr eine goldene Kette, mit einem vierblĂ€ttrigen Kleeblatt als AnhĂ€nger, das ihr GlĂŒck bringen sollte. Sie war zur wichtigsten Person in meinem Leben geworden. Manchmal wollte auch mein Vater mich sehen. Wir tolerierten uns, doch auf unserer Beziehung lastete stets die Vergangenheit. Er hatte es nicht verstanden, mir ein guter Vater zu sein, und auch nicht meiner Mutter ein guter Ehemann, und Letzteres konnte ich ihm nicht verzeihen. Damals war das einzig Wichtige fĂŒr mich, dass die Zeit schnell verstrich, so schnell wie möglich. Zweieinhalb Jahre Knast waren trotz allem nicht viel. Die Angst vor AIDS quĂ€lte mich nicht allzu sehr, obwohl mir bewusst war, dass mein Leben in jedem der kommenden Jahre enden könnte. Es gab kein wirksames Medikament, man konnte nichts machen, weshalb ich es als Teil des Preises ansah, der um zu leben gezahlt werden muss. FĂŒr den Augenblick machte ich PlĂ€ne fĂŒr die Zeit, wenn ich die Freiheit zurĂŒck bekommen wĂŒrde; ich wollte Isa vorschlagen, zu mir in meine Mietwohnung im Viertel Labañou zu ziehen, wo ich mit meinem Vater gewohnt hatte, wenn er von der Gran Sol kam, einem Fischereischiff, auf dem er als Obermaat arbeitete. Ich hatte vor, umgeben von den Personen zu leben, die ich am meisten mochte: umgeben von meinen Freunden.

Eines Nachmittags, wĂ€hrend ich mit Miguel spazieren ging, kam ein Gefangener auf uns zu, den wir unter dem Spitznamen Fito kannten, um mit mir zu reden und mir eine Nachricht zu ĂŒberbringen: Mehrere HĂ€ftlinge von El Ferrol wollten mit mir sprechen und bestellten mich dazu in ihre Zelle. Ich traute dem nicht, denn vorher war ich mit einigen von ihnen aneinandergeraten und ich wusste, dass sie sauer auf mich waren. Jetzt waren sie zahlenmĂ€ĂŸig ĂŒberlegen, ich konnte nur auf meinen Freund Miguel zĂ€hlen, doch ich scherte mich nicht darum. Ich ging in Begleitung meines Freundes hoch, ein Stilett in der Tasche, zur Vorsicht, und fand sie versammelt in ihrer Zelle vor.

»Fito sagt, ihr wolltet mich sehen?« fragte ich.

»Na ja«, sagte einer von ihnen. »El Vaca will mit dir reden.«

»Ja«, fing der Angesprochene an, »es geht darum, was du heute morgen ĂŒber Amadeo gesagt hast.«

»Schau, Vaca, Amadeo ist seit zehn Jahren mit mir befreundet, weißt du? Deshalb, falls du irgendein Problem mit ihm hast, löse es jetzt mit mir und wir beenden die Angelegenheit.«

Daraufhin stand er auf und zog aus seinem GĂŒrtel ein grĂ¶ĂŸeres Stilett als meins. Er forderte mich heraus:

»Wie willst du es, mit den FÀusten oder mit dem Messer?«

»Mit dem Messer«, antwortete ich ihm kalt, fĂŒhlte nach meinem, hielt es aber versteckt.

Wir liefen zum Speiseraum hinunter und gingen hinein. Nebenan gab es einen kleinen Raum. Dort gingen wir hinein. Er suchte einen seiner Kumpels aus, der ihm wĂ€hrend des Kampfes den RĂŒcken decken sollte, bei mir blieb Miguel. Die Übrigen gingen auf den Hof hinaus, um umher zu spazieren; sie wĂŒrden aufpassen, dass die Schließer nicht in die NĂ€he kamen. Der Kampf begann. Wir sahen uns an, mit den Messern in der rechten Hand fuchtelnd an und fĂŒhlten ein bisschen vor, indem wir ziemlich sinnlos die Messer schwangen. Beide hatten wir Angst; es wĂŒrde derjenige gewinnen, der das Messer besser beherrschte, oder ein GlĂŒckstreffer wĂŒrde entscheiden.

Wir tauschten Messerstiche aus und die Messerklinge meines Widersachers drang in meinen Körper ein, zwischen Schulter und Brust, ein stechender Schmerz. Ich tat, als hĂ€tte ich nichts bemerkt; das Gegenteil wĂŒrde ihn ermutigen. Sein Messer und sein Arm waren grĂ¶ĂŸer als meine, wodurch ich mich im Nachteil befand. Seine Augen aber verrieten mir, dass er um einiges erschrockener war als ich, und ich nutzte die Gelegenheit. Wir tauschten noch mehrere Messerstiche aus, wobei ich mit meiner Messerklinge seine Magenwand leicht berĂŒhrte. Das zwang ihn, erschrocken zurĂŒck zu weichen, den Raum zu verlassen und auf einen Tisch im Speiseraum zu steigen. Angst hatte sich seiner bemĂ€chtigt. Ich forderte ihn auf herunterzukommen und weiter zu kĂ€mpfen, er wollte aber nicht. Wir vereinbarten alle zusammen, es damit gut sein zu lassen, ich erklĂ€rte mich einverstanden.

Jene Nacht sĂ€uberte mein Freund Miguel mir in der Zelle die Wunde. Sie war nicht sehr tief, blutete jedoch heftig; mein Hemd war voller Blut. Sie hatten meine MĂ€nnlichkeit auf die Probe stellen wollen. Das kam im GefĂ€ngnis hĂ€ufig vor, vor allem unter den JĂŒngsten. Warst du nicht in der Lage, dir allein Achtung zu verschaffen, wĂŒrde niemand, absolut niemand dich respektieren. So war das GefĂ€ngnis. Vor dem Kampf zu kneifen wĂ€re gleichbedeutend damit gewesen, zu akzeptieren, in aller Augen als Feigling dazustehen. Es wĂ€re ein schwerer Schlag fĂŒr meinen Stolz gewesen, was zuzulassen ich nicht bereit war. Die Schmach zu erleiden man hielte mich fĂŒr feige zog ich vor, mein Leben in einer Messerstecherei aufs Spiel zu setzen. Die Jugend ist der schlimmste Feind des Jugendlichen, da war ich keine Ausnahme. Ich hatte die nötige Reife nicht, um das fĂŒr eine Dummheit zu halten. An diesem Punkt meines Lebens waren Stolz und Arroganz am wichtigsten, gegrĂŒndet auf den Wert: MĂ€nnlichkeit zu zeigen und zu verteidigen, nur darauf kam es an. Alle Jugendlichen in diesem Knast trĂ€umten davon, hart zu sein, und das GefĂ€ngnis offenbarte uns andauernd die Chance dazu. Hier wĂŒrden wir lernen, gute Banditen zu sein.

Unseren Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz bekam die Direktion schließlich Wind von unserer Keilerei. Man machte mich verantwortlich. Das war der erste Schritt zu meiner Einstufung unter Haftbedingungen ersten Grades im geschlossenen Vollzug. Sie setzten mir unverschĂ€mt zu, ich hatte also keine Scheu, mit meinem schlechten Betragen genau dort weiterzumachen, wo ich aufgehört hatte.

Weihnachten zog sang- und klanglos vorĂŒber. Wir feierten mit Apfelwein aus eigener Produktion. Meine Einstufung wurde beibehalten. Ich wusste, dass man die Gelegenheit nutzen wĂŒrde, um mich loszuwerden, weshalb es mich nicht ĂŒberraschte, als mich eines Februarmorgens ein paar Schließer weckten.

»Tarrío, packen Sie Ihre Sachen, Sie gehen auf die Reise.«

»Wohin?«

»Nach Zamora.«

Ich zog mich an, packte alle meine Sachen in mehrere Sporttaschen zusammen und verabschiedete mich von meinen Freunden. Anschließend ging ich ohne weiteres Vorspiel von mehreren Schließern eskortiert in Richtung des Eingangsgitters, wo mich mehrere Guardias Civiles erwarteten. Dort befanden sich andere Gefangene, zu Paaren aneinander gefesselt. Ich war der Letzte, der ankam. Sie nahmen mir wie auch den anderen HĂ€ftlingen die zum Vorgang gehörenden FingerabdrĂŒcke ab und schoben uns in den grĂŒnen Gefangenentransporter, der am GefĂ€ngniseingang auf uns wartete. Als das GepĂ€ck im Kofferraum verstaut war, setzten wir uns in Richtung auf das GefĂ€ngnis von LeĂłn in Bewegung, wo wir die Nacht verbringen wĂŒrden, um am nĂ€chsten Morgen weiterzufahren.

Die Transportbedingungen empfand ich als Zumutung fĂŒr die Menschen, die sich dort zusammenpferchten. Wer fĂŒr diese Transporte die KĂ€fige entworfen hatte, musste eine hasserfĂŒllte Seele besitzen. In metallenen KĂ€figen, einen Meter breit, einen halben Meter lang, jeder ausgestattet mit zwei an den Boden geschweißten Sitzen, wurden Verlegungen von Gefangenen ĂŒber hunderte von Kilometern durchgefĂŒhrt. Man zwang uns, die ganze Fahrt ĂŒber sitzend und eingezwĂ€ngt zu verbringen, der KĂ€lte ausgesetzt und den verschiedenen GerĂŒchen, die sich mit dem Zigarettenrauch vermischten. Hygiene glĂ€nzte mit Abwesenheit, und die konstanten BrechanfĂ€lle vollendeten diese Stimmung menschlichen Elends. Das alles kam mir unangemessen vor, grausam; ich war empört. Dass kein ehrbarer StaatsbĂŒrger sich jemals darĂŒber wundere, dass unter solch schĂ€ndlichen UmstĂ€nden chauffierte Personen morgen mit Gewalt antworten!

In LeĂłn steckten sie uns nach sechs Stunden Reise in die Aufnahmezellen, in Vierergruppen. Obwohl man uns bei unserer Abfahrt im GefĂ€ngnis von La Coruña noch Brote ausgehĂ€ndigt hatte, waren wir hungrig. Sie brachten uns heiße Linsensuppe, und meine Genossen und ich aßen mit großem Appetit mehrere Teller. Es musste Kraft gewonnen werden.

Um acht Uhr am nĂ€chsten Morgen waren wir wieder auf der Strecke. Ich wĂŒrde in Zamora aussteigen; meine Mitreisenden wĂŒrden bis zum GefĂ€ngnis von Carabanchel, Madrid, weiterfahren. Das war die ĂŒbliche Route.

GefÀngnis von Zamora, Februar 1988

Es befand sich an der Landstraße nach Almaraz, drei Kilometer außerhalb der Stadt. Dies also sollte der Ort sein, an dem ich meine Strafe im ersten Grad des geschlossenen Vollzugs verbĂŒĂŸte.

»José Tarrío Gonzålez!«schrie einer der Guardias.

»Das bin ich«, antwortete ich und klopfte an die KĂ€figtĂŒr.

Sie öffneten die TĂŒr, legten mir Handschellen an und zogen mich heraus. Ich genoss es, wieder frische Luft zu atmen und meine Beine mit Dehnungen wiederbeleben zu können. StĂ€ndig ĂŒberwacht von einer Gruppe Guardias Civiles, einige von ihnen mit Sturmgewehren bewaffnet, suchte ich meine Sachen aus dem Kofferraum zusammen und ging mit ihnen ins Innere der Anstalt. Es war ein GebĂ€ude aus verstĂ€rktem Beton und Stein, gestrichen mit einer sanften Cremefarbe, im alten Stil. FĂŒr hoch sicher geltend, schloss das GefĂ€ngnis in sich, in den Trakten eins und zwei, die Schwierigsten der unter 21 jĂ€hrigen von ganz Spanien ein. Der Rest der dort inhaftierten Bevölkerung waren Gefangene im zweiten Grad, untergebracht in verschiedenen Trakten. Die Trakte eins und zwei waren einmal fĂŒr die Gefangenen der Organisation GRAPO —die jetzt vereinzelt einsaßen— ausgestattet und dann gerĂ€umt worden, um dort die Jugendlichen aus dem gerade geschlossenen GefĂ€ngnis in Teruel unterzubringen, mit der Absicht, den Auseinandersetzungen zwischen den HĂ€ftlingen mit hĂ€rtester Repression ein Ende zu setzen.

Ich ĂŒberquerte das große GelĂ€nde und beobachtete die strategische Anordnung der WachtĂŒrme der Guardia Civil. Ich ging eine Treppe hinauf, immer noch mit meinen Taschen, bis zum BĂŒro der Aufnahme. Mehrere elektrische TĂŒren öffneten sich und ich ging hindurch. Ein Guardia Civil nahm mir die Handschellen ab und eine Gruppe Schließer brachte mich in Trakt eins. Ich musste mich ausziehen und mehrere Kniebeugen machen, damit sie sich davon ĂŒberzeugen konnten, dass ich nichts im Hintern versteckt hielt. Es war mir zuwider wegen der Erniedrigung, doch ich gehorchte. Nach diesem Angriff auf meinen Stolz wiesen sie mir eine Zelle zu, tubo genannt wegen ihrer zylindrischen Form. Es gab minimalen Raum, um sich zu bewegen. Ich konnte keinen Schritt in ihr gehen. Ich sah einen metallenen Ofen, doch an der extremen KĂ€lte, die ich fĂŒhlte, erkannte ich, dass er nicht funktionierte, oder dass man ihn, um ein paar Peseten zu sparen, nie in Betrieb setzte. Es wĂŒrde nicht lange dauern, mich davon zu ĂŒberzeugen, dass Letzteres stimmte. Ein Bett aus Eisen war mit SchweißnĂ€hten am Boden befestigt. Ein Waschbecken, ein Klo, ein kleiner Spiegel und zwei Fenster waren auch schon das ganze dort befindliche Mobiliar. Das war nicht viel. Sie hatten nicht einmal daran gedacht, einen Schrank fĂŒr die Kleidung aufzustellen.

Sofort nahm ich Kontakt zu Chico auf. Ich wusste anhand der von Isa weitergeleiteten Nachrichten, dass er dort war. Seine Anwesenheit beruhigte mich; ich hatte nicht gerade Gutes gehört ĂŒber die jugendlichen Banditen, die fortan meine Mitgefangenen sein wĂŒrden. Ich war etwas erschrocken, doch bereit mich als der Oberste geltend zu machen und den Respekt der anderen zu gewinnen.

Ich hielt den Kontakt zu meinem Freund ĂŒber Notizen, die ich ĂŒber den fĂŒr den Putzdienst Eingeteilten oder ĂŒber mehrere Fenster schickte, mit Hilfe von FĂ€den, die wir von einem zum anderen wandern ließen, bis zum Ziel. Wir machten alle mit, denn so konnte man uns auch Nachrichten zukommen lassen, mit der Sicherheit, dass die anderen mithelfen wĂŒrden. Chico teilte mir mit, dass er vielleicht an einem der nĂ€chsten Tage frei kommen wĂŒrde, laut seinem Anwalt. Er versprach, mich zu besuchen.

Ich begann, auf einen kleinen Hof hinauszugehen, hinter dem Trakt gelegen, gegenĂŒber der Frauenabteilung. Es gab ernsthafte RivalitĂ€ten zwischen Gruppen von Gefangenen aus verschiedenen Gegenden. Das Zusammenleben von Gallegos, Andaluces, Catalanes, Valencianos und so weiter war sehr angespannt, frĂŒheren RivalitĂ€ten aus Teruel geschuldet. Die Verwaltung hatte ausdrĂŒcklich angeordnet, dass wir beim geringsten Anzeichen von Widersetzlichkeit ohne irgendwelche RĂŒcksichten reprimiert werden sollten. Das war das Klima, das ich vorfand, an meinen ersten Tagen in Zamora. Man wollte verhindern, dass das in Teruel Geschehene sich in Zamora verschĂ€rfte, doch machte die ĂŒblicherweise ungeschickte Verwaltung einen schweren Fehler. Viele Herzen waren mit dem Eiter des hartnĂ€ckigsten Hasses verseucht, wegen der Vorkommnisse in Teruel. Es hatte TodesfĂ€lle gegeben, Vergewaltigungen, Messerstechereien und MissbrĂ€uche aller Art, die niemand vergessen konnte. In den Jahren 85, 86 und 87 hatten die HĂ€ftlinge sortiert nach landsmannschaftlicher Herkunft gelebt. Madrileños, Catalanes, Gallegos… alle verteidigten ihr Terrain, zu regelrechten Clans zusammengeschlossen. Diese Tatsache machte die Gefangenen uneinig, und es fanden Auseinandersetzungen um die Kontrolle ĂŒber den GefĂ€ngnishof statt. Die kumpelhaften Bande, die zunĂ€chst die Verteidigung der Gruppe garantieren sollten, verwandelten sich in Macht, und diese in Machtmissbrauch. Die eine HĂ€lfte der inhaftierten Bevölkerung schĂŒtzte sich vor der anderen, und eine musste von der anderen getrennt werden. Einzig das Gesetz des Messers wurde noch re-

spektiert. Die Neulinge sahen sich gezwungen, ihre MĂ€nnlichkeit zu beweisen, und wer scheiterte wurde beraubt, angegriffen und marginalisiert. Andere mussten Dienste in oralem Sex an anderen Gefangenen leisten, um ihr Leben zu retten, oder wurden wiederholt von ihren Mitgefangenen penetriert. Die das grĂ¶ĂŸte Pech hatten, wurden erstochen. Und jetzt machte die Behörde denselben Fehler wie in Teruel: Alle wieder zusammen in dasselbe GefĂ€ngnis zu stecken. Das ließ alte Wunden aufbrechen. Statt uns jeden in unsere Heimatgegend zu schicken, um dort einzusitzen und so zu verhindern, dass der Hass und die familiĂ€re Entwurzelung der Gefangenen sich verhĂ€rten, mit dem Ergebnis weiterer Brutalisierung, steckten sie uns wieder zusammen in jenes GefĂ€ngnis. Wie viele Menschen sind wegen der Ungeschicklichkeit der Verwaltung ums Leben gekommen!

So standen die Dinge. Die nicht zu leugnende Tatsache, Gallego zu sein, wĂŒrde mir eine Reihe Feinde bescheren, die, ernsthaft zu Schaden gekommen durch andere galizische Gefangene, in mir ein willkommenes Opfer sehen wĂŒrden, um ihren Rachedurst zu stillen.

Das alles, zusammen mit gewissen persönlichen UmstĂ€nden, wĂŒrde mich spĂ€ter veranlassen, einen Menschen aus Versehen umzubringen. Ich wĂŒrde meine fehlende Erfahrung teuer bezahlen mĂŒssen.

Ich lernte ihn eines morgens kennen, als ich allein auf dem kleinen Hof des Isolationstrakts spazieren ging. Er lehnte sich aus einem Fenster, das zu den Duschen des Haupthofs fĂŒhrte, und rief mich:

»Eh, bist du Che aus La Coruña?«

Er hatte ein ernstes Gesicht und einen dunklen Teint, BĂŒrstenhaarschnitt. Auf seiner Stirn konnte man ein tĂ€towiertes vierblĂ€ttriges Kleeblatt erkennen.

»Ja, der bin ich«, antwortete ich ihm und ging auf das Fenster zu.

»Ich bin Musta aus Vigo«, stellte er sich vor und streckte mir die Hand hin.

Wir gaben uns einen festen Handschlag. Er sprach weiter:

»Pass bloß auf, hier ist alle Welt mit Messern bewaffnet und hat böse Absichten. Hast du ein Messer?«

»Ich habe keine Probleme mit niemandem.«

»Das ist hier egal. Du bist Gallego und das reicht. Jeden Tag kannst du eine Überraschung haben. Diese Überraschungen zĂ€hlen wir hier nicht mehr, verstehst du?«

Ich verstand ihn bestens. Wir redeten noch eine Weile und verabschiedeten uns dann. Seine Worte machten mich nachdenklich und ich entschied, mir ein Messer anzufertigen, wegen dessen, was alles passieren könnte. Ohne es zu wissen, hatte ich gerade den Menschen kennengelernt, der zu meinem engsten Freund werden wĂŒrde. Manchmal findet man im schlechtesten Augenblick das Beste.

Ein paar Tage spĂ€ter kam Chico frei. Mich ließen sie die Zelle wechseln und auf den Haupthof hinausgehen, zusammen mit den anderen Gefangenen, in kleinen Gruppen. Es war ein großer Hof, ausgestattet mit einer Tenniswand, Toiletten und einer Cafeteria. Die Fenster des oberen Teils des dreigeschossigen Trakts wiesen in Richtung Hof. Ich trug einem der Gefangenen aus jenen Zellen auf, ein Messer, was ich hergestellt hatte, fĂŒr mich aufzuheben. Immer, wenn ich auf den Hof kam, fand er sich am Fenster ein, bereit, mir das Messer zuzuwerfen, falls es Probleme geben sollte.

Auf diese Weise schafften wir es, die Metalldetektoren auszutricksen, die wir beim Ausgang auf den Hof durchschreiten mussten. Es kam darauf an, bewaffnet zu sein. Eine Waffe zu besitzen, war wichtig: Es unterstrich in den Augen der anderen die Bereitschaft zu kÀmpfen. Es war ein regelrechter Kalten Krieg.

Ich fĂŒhrte die Beziehung zu meinem Landsmann Musta mit kleinen Nachrichten weiter. Manchmal trafen wir auf dem Hof aufeinander und redeten ĂŒber persönliche Dinge, ĂŒber politische Ideologie oder die Zukunft. Einmal erzĂ€hlte er mir aus seinem Leben. Er hieß Gabriel Pombo da Silva und war, obwohl er sich als Galizier fĂŒhlte, in Deutschland geboren, wohin seine Eltern vor Jahren ausgewandert waren. Genau wie ich war er Kind von Emigranten. Auch ihn hatten sie ins RETO in Madrid geschickt, doch Jahre vor meiner Zeit dort. Wir lachten ĂŒber diese ZufĂ€lligkeiten. Sie hatten ihn mit siebzehn Jahren wegen mehrerer Bankraube verhaftet. Nun bĂŒĂŸte er eine fĂŒnfjĂ€hrige Haftstrafe ab und befand sich seit vier Jahren im GefĂ€ngnis. Er gefiel mir. Eine einzigartige Zuneigung, gestĂ€hlt auf dem Amboss unseres Pakts des gegenseitigen Vertrauens, begann, uns in einem gemeinsamen GefĂŒhl zu verbinden: Freundschaft. Als sie ihn in die Beobachtungszentrale in Madrid gebracht hatten, um seine Haftbedingungen zu ĂŒberprĂŒfen, vermisste ich ihn sehr.

Im Monat August bekam ich Probleme. Einige Gefangene, ich wusste nicht welche, schickten einen anderen, um mir auf den Zahn zu fĂŒhlen. Dieser andere, genötigt, vor den anderen seinen Mut zu beweisen, fuhr mich auf dem Hof an. Es roch nach Streit, wie immer, wenn so etwas vorkam. Ich brauchte nicht lange, um zu erkennen was Sache war. Ein Gefangener kam auf mich zu.

»Hör mal!«Er war aufgeregt und rief mich an. »Hast du eine Zigarette?«

Ich bot ihm ein PĂ€ckchen Ducados an und blickte in Richtung der Fenster meines Trakts. An den Fenstern waren Gefangene zu sehen, darunter einer meiner Freunde, bereit, mir das Messer zuzuwerfen, sobald ich es verlangen oder brauchen wĂŒrde. Ich gab ihm kein Zeichen.

»Gib mir Feuer«, bat mich der Gefangene und gab mir das PĂ€ckchen zurĂŒck.

Ich bot ihm mein Feuerzeug an, was er in der Tasche verschwinden ließ, nachdem er sich die Zigarette angezĂŒndet hatte. Er provozierte mich offensichtlich, woraufhin meine rechte Faust in Richtung seines Gesichts flog. Es fand ein Kampf statt, wir verwickelten uns in den Austausch von Fausthieben, rangen am Boden miteinander. Es war nicht leicht, von ihm loszukommen, doch als ich es schaffte, stand ich schnell auf und setzte dem Kampf den Schlusspunkt, indem ich ihm einen Tritt auf den Kopf verpasste. Zugleich stĂŒrmte eine Gruppe Schließer bewaffnet mit Schlagstöcken auf den Hof, um uns zu trennen. Zuerst brachten sie meinen Widersacher weg, sie schlugen ihn wiederholt mit den KnĂŒppeln. Danach ließen sie die ĂŒbrigen Gefangenen auf ihre Zellen gehen und ließen mich allein ĂŒbrig. Sie kamen auf mich zu. Es war eine ganze Horde und die Schlagstöcke in ihren HĂ€nden wirken nicht gerade als GlĂŒcksbringer fĂŒr meine körperliche Unversehrtheit, um die ich inzwischen ernsthaft besorgt war. Einer von ihnen richtete sich an mich:

»He, Sie, kommen Sie her und nehmen Sie die HÀnde aus den Taschen. Ich will sie weit entfernt vom Körper sehen, los, los!«

Ich nahm die HĂ€nde aus den Taschen der Sporthose und streckte sie vom Körper weg. Anschließend ging ich auf sie zu. Sie umringten mich.

»Ziehen Sie sich aus«, wies mich einer von ihnen an.

Ich begann mich auszuziehen, Turnschuhe, Sporthose, und als ich mir das Hemd abstreifen wollte, fing es an, Hiebe von allen Seiten zu regnen. Ich fiel betĂ€ubt zu Boden, und eine Reihe Tritte traf auf meinen Körper. Als sie die Lust verloren und es ihnen auszureichen schien, ließen sie von mir ab.

»Nimm deine Sachen, wir gehen«, befahlen sie mir.

Ich erhob mich so gut ich konnte und versuchte aufrecht zu stehen. Ich raffte meine Sachen zusammen und ging vor ihnen her in Richtung Isolationstrakt. Mein Kopf brummte, ein langes Piepen, das mir das Denken unmöglich machte. Ohne Zweifel wĂŒrde die Verwaltung jene Anwendung von Zwangsmitteln als unabdingbar fĂŒr die Aufrechterhaltung der Ordnung rechtfertigen. Die Strafvollzugsordnung sah es so vor. Die Gesellschaft konnte stolz sein ob der rigorosen Anwendung ihrer Gesetze und ob dieses Spektakels von zehn MĂ€nnern, die einen anderen zusammenschlagen, nackt und ohne Verteidigung. Sie musste stolz sein, denn dies alles fand in ihrem Namen statt.

Sie steckten mich in eine der tubos, schlossen das Gitter, das die TĂŒr schĂŒtzt, und danach die TĂŒr und gingen. Alleingelassen blickte ich in den Spiegel. Meine Lippen waren aufgesprungen und eine Schuhsohle hatte auf einer meiner geröteten Wangen ihren Abdruck hinterlassen. Mein RĂŒcken und die Beine waren voll von Schwellungen, die der Mangel an Thrombozyten in meinem Organismus anderntags in heftige BlutergĂŒsse verwandeln sollte. Ich fĂŒhlte mich erniedrigt und ohnmĂ€chtig. Die Nacktheit meines Körpers rief in mir ein GefĂŒhl der Schutzlosigkeit hervor, weshalb ich mich anzog. Ich schwor vor mir selbst, dies alles nie zu vergessen. Im Moment konnte ich nichts anderes machen.

Einen Monat nach jenem Vorfall kam mein Freund Musta nach Zamora. Sofort nahmen wir ĂŒber Nachrichten Kontakt auf und erzĂ€hlten uns, was an den vergangenen Tagen passiert war. Sie hatten

ihm die Lockerung der Haftbedingungen abgelehnt und ihn zurĂŒckgeschickt. Im Übrigen fraß uns die GefĂ€ngnisroutine tĂ€glich weiter auf. Es gab keinerlei BeschĂ€ftigung oder Zeitvertreib als die Tenniswand. Die Haftbedingungen stimmten uns brutal, wie es auch in Teruel gewesen war. Morgen wĂŒrde die Kopie von heute sein, ĂŒbermorgen die von morgen, und so weiter bis in die Ewigkeit. Sie ließen uns zwei Stunden tĂ€glich auf den Hof, damit wir Luft schnappten, und danach ließen sie uns den Rest des Tages allein in der Zelle. Man ĂŒbte an uns die hĂ€rteste Repression aus. Eines Nachmittags hĂ€mmerten mehrere HĂ€ftlinge, darunter mein Freund, plötzlich an ihre ZellentĂŒren, aus Protest gegen etwas. Ich wusste nicht, worum es ging, denn ich war noch im tubo isoliert. Ein Gefangener rief mich von seinem Fenster aus:

»He, Che! Che!«

»Was ist?«

»Sie schlagen Musta zusammen.«

Mehr brauchte ich nicht zu wissen, um zu erraten, was los war. Ich fing an, die Fensterscheiben zu zerschlagen und forderte die anderen Gefangenen rufend dazu auf, es mir gleich zu tun. Doch niemand außer zwei Menschen machte bei dem Protest mit. Die Angst terrorisierte sie, wie auch mich. Die Aussicht auf eine Gruppe Schließer, die in die Zelle kommt, um dich zu verprĂŒgeln gefiel niemandem. Jene eingepflanzte Angst war zusammen mit dem KnĂŒppel das Arbeitswerkzeug jener TotschlĂ€ger. Sie kannten keine andere Art zu handeln. Besoffen von ihrer Gewalt ließen sie von meinem Freund ab und kamen zur Zelle hoch, die ich belegte. Sie öffneten die TĂŒr.

»Was ist mit dir los, du schwule Ratte?« schrie einer von ihnen.

»Macht das Gitter auf«, befahl der Dienstleiter einem anderen

Schließer.

Eher aus Angst denn aus Mut wollte ich verhindern, dass sie in die Zelle hereinkamen. Ich schwang in jeder Hand eine Glasscherbe und drohte ihnen: »Wer durch diese TĂŒr kommt, ist ein toter Mann.«

In Wirklichkeit hÀtte ich mich nicht getraut. Ich war zu sehr aufgeregt.

»Tarrío«, redete der Chef der Gruppe auf mich ein, »lassen Sie die Glasscherben fallen und machen sie alles nicht noch schlimmer, das lohnt sich nicht.«

»Hier kommt keiner rein«, antwortete ich ihm bestimmt.

Sie gingen. Als sie wieder kamen, waren sie ausgestattet mit Helmen, Schlagstöcken, Schilden, Spraydosen und Handschellen.

»TarrĂ­o, werden Sie freiwillig herauskommen?« schrie einer durch die TĂŒr.

»Nein.«

Sie begannen Gas unter der TĂŒr hindurch zu sprĂŒhen. Ich versuchte dagegenzuwirken, indem ich mich ĂŒber die KloschĂŒssel hĂ€ngte und mir eine Decke ĂŒber den Kopf warf, doch das brachte nichts. Das Gas brannte mir in der Lunge und im Gesicht. Meine Augen brannten und trĂ€nten heftig. Ich hatte keine Erfahrung mit solcherlei Auseinandersetzung. Ich wusste nicht, dass die wirksamste Methode einem Gasangriff zu begegnen ist, sich flach auf den Boden zu legen und den Mund mit einem nassen Handtuch abzudecken. Es wurde mir unertrĂ€glich und nach fĂŒnf Minuten gab ich auf:

»Ist gut, ist gut… ich gebe auf!«

»Zieh dich aus und schieb’ die Scherben unter der TĂŒr durch. Danach komm mit den HĂ€nden ĂŒber dem Kopf heraus. Verstanden?«

»Ja, aber macht die TĂŒr auf, ich ersticke…«

Ich schob die Scherben unter der TĂŒr durch und fing an, mich auszuziehen. Durch das Guckloch beobachtete mich ein Auge. Als ich nackt dastand, ging die TĂŒr auf. Eine große Anzahl Schließer wartete auf mich auf dem Gang. Sie öffneten das TĂŒrgitter und entfernten sich vom Zelleneingang.

»Los, komm raus…«

Ich ging hinaus, wie sie es mir gesagt hatten. Gleich nach dem Durchschreiten der TĂŒr versetzte mir ein Schließer, der sich hinter dem TĂŒrrahmen versteckt gehalten hatte, einen KnĂŒppelhieb von hinten auf den Kopf. Das war das Zeichen, und seine Kollegen machten alle mit bei dem Fest. Sie schlugen wĂ€hrend etwa einer Minute auf mich ein. Schließlich steckten sie mich in eine leere Zelle. Ich lag mit den HĂ€nden auf dem RĂŒcken auf dem Fußboden. Es war eine unbequeme Position. Dann gingen sie. Obwohl ich immer noch benommen von den SchlĂ€gen war, konnte ich hören, wie die Gefangenen, die den Mut gehabt hatten, es mir gleich zu tun, den Besuch der Schließer erhielten. Schreie, Angst… und eine schmerzhafte Stille, die Abscheu und Ohnmacht herausschrie, ĂŒberschwemmte den Trakt.

Es kam die Nacht und die KĂ€lte des Oktoberanfangs begleitete sie. Die Arme begannen einzuschlafen, bewegungsunfĂ€hig und ohne Blutkreislauf wegen des Drucks der Handschellen auf die Gelenke. Ihnen folgten die FĂŒĂŸe mit einem doppelt unertrĂ€glichen Schmerz. Die KĂ€lte strafte meinen nackten Körper und bereitete mir stechende Schmerzen in den ExtremitĂ€ten. Die Unmöglichkeit, die Lage zu wechseln machte mir deutlich, mit welcher Sachkenntnis die Schließer ihre Arbeit getan hatten. Ich konnte nicht an mich halten und brach in TrĂ€nen aus. Es war die lĂ€ngste Nacht meines Lebens.

Niemals bescherte mir irgendeine der NĂ€chte, die mich im GefĂ€ngnis erwarteten, einen derartigen körperlichen Zusammenbruch. Es war wirklich hart. Etwas Unvergessliches, was schreiend den Aufstieg des hasserfĂŒllten Tyrannen in meinem Herzen verlangte. Hiernach bestand fĂŒr mich kein Zweifel mehr: Es war die Rache einer Gesellschaft, die kleinmĂŒtig diese Mittelsleute mit ihrer eigenen effektiven Vollendung betraute.

Ich wachte auf dem Fußboden zusammengekrĂŒmmt auf und machte den stoischen Versuch, mich vor meinen Henkern nicht zu entwĂŒrdigen, indem ich etwa schreiend um die Beendigung der Bestrafung gebeten hĂ€tte. Am nĂ€chsten Morgen besuchte mich der Arzt.

»Die Fesseln mĂŒssen ihm abgenommen werden. Gebt ihm Kleidung und ein warmes FrĂŒhstĂŒck«, ordnete er an.

Man merkte, dass er an solche Ereignisse gewöhnt war, und dass er den Wiederherstellungsprozess, den er anzuordnen hatte, genau kannte. Ich hasste diesen Bastard von ganzem Herzen. Ich hasste die Gesellschaft. Hasste den Menschen insgesamt. Hasste, weil ich gelernt hatte, zu hassen.

Als sie mich losließen, brauchte ich eine Weile, um die BewegungsfĂ€higkeit meiner Glieder zurĂŒckzugewinnen. Sie waren steif. Sie ließen mich in meiner Zelle ankleiden und brachten mir Milch und Butterbrot zum FrĂŒhstĂŒck. Ich aß langsam, um Zeit zu gewinnen. Als ich fertig war, legten sie mir wieder Handschellen an, doch jetzt mit den HĂ€nden nach vorne und an einen Eisenstab des TĂŒrgitters, was mir erlaubte, am Boden ohne Schmerzen zu sitzen. Sie gingen. Ich erhielt angenehmen Besuch. Der fĂŒr den Putzdienst Eingeteilte klopfte zweimal an die TĂŒr und schob unter ihr ein paar Zigaretten und eine Nachricht meines Freundes Musta hindurch.

»ZĂŒnde mir eine an«, bat ich ihn.

Er zĂŒndete eine Zigarette an und schob sie mir herĂŒber. Dann tat er so, als wischte er den Fußboden und ging. Ich dankte ihm fĂŒr seine Geste. Ich rauchte die Zigaretten, eine nach der anderen, wĂ€hrend ich die Nachricht las. Er schickte mir GrĂŒĂŸe und wĂŒnschte mir Kraft. Dieser Vorfall wĂŒrde uns ein fĂŒr alle mal einen. Ein paar Tage spĂ€ter brachten sie ihn ins GefĂ€ngnis von Daroca; ich wĂŒrde nach La Coruña zurĂŒckkehren, um an einem Prozess gegen mich teilzunehmen.

GefÀngnis von La Coruña, November 1988

Auf der Fahrt im Transporter nach La Coruña begleitete mich die Hoffnung, Isa nach lĂ€ngerer Zeit einmal wiederzusehen. Es kam mir komisch vor, dass ich zuletzt keine Nachrichten von ihr erhalten hatte, ich war besorgt deswegen. Daran dachte ich, wĂ€hrend ich durch das kleine vergitterte Fenster des KĂ€figs, in dem ich steckte, die schöne Landschaft Galiziens anblickte, wo ich geboren war. Der Kontrast der DĂŒrre der kastilischen Ebenen mit dem GrĂŒn jener Berge war enorm.

In der Anstalt angekommen, schickten sie mich in die Isolation. Dort traf ich auf LolĂ­n und Chafi, beides Freunde von mir. Sie standen unter Artikel 10. Vor Kurzem waren sie zu mehreren Jahren GefĂ€ngnis verurteilt worden wegen einer Geiselnahme in Verbindung mit bewaffnetem RaubĂŒberfall auf eine Wohnung. Wir redeten ĂŒber die Fenster darĂŒber, als zu meiner Überraschung die TĂŒr aufging und ich zum Empfang von Besuch abgeholt wurde. In einer der Besuchskabinen fand sich mein Vater vor.

»Na Alter, wie geht’s?«

»Gut, JosĂ©. Ich habe erfahren, dass sie dich heute herbringen und angerufen, um dich sehen zu dĂŒrfen. Draußen sind Viqueira und Chico.

»Warum sind sie nicht mit hereingekommen?«

»Sieh mal, mein Sohn, ich muss dir eine schlechte Nachricht bringen und wir glaubten, es sei besser, wenn ich das allein tue«, erklĂ€rte er mir und blickte zu Boden; dann schaute er auf und mich ansehend sagte er es mir: »Isabel ist tot…«

Ich reagierte leblos, unfĂ€hig, diese Neuigkeit aufzunehmen. Mit dem Blick fest auf dem Fußboden, fragte ich fassungslos:

»Wie?«

»Ein Motorradunfall. Ein Auto erfasste sie, hatte die rote Ampel nicht beachtet… sie war schwanger. Aber JosĂ©! Du wirst keine Dummheit tun!«

Ich hörte ihn schon nicht mehr. Ich drehte mich um und ging hinaus ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Ich musste alleine sein um denken zu können. Wie so großen Schmerz ausdrĂŒcken? Wie wĂŒrde irgendjemand so viel Liebe verstehen können? Ich flĂŒchtete mich in mich selbst, allein in der Zelle. Dort weinte ich bitterlich um den Tod meiner Freundin, ihr mit dem Abschied von ihrer physischen Existenz die Letzte Ehre erweisend. Versunken in meinen Schmerz, ließ ich meine konfusen Gedanken umherstreifen, im vergeblichen Versuch, sie aus der Welt der Toten zurĂŒck zu holen:

Ich bin aufgewacht heute morgen, meine Liebe, und du warst nicht da;

ich suchte dich verzweifelt und verloren, und fand dich doch nicht.

Ich rief dich, doch erhielt keine Antwort, und weinte um dein Fehlen, kaputt.

Wer schleudert wie ich seine zerrissenen Schreie gegen den Zement im kalten Morgengrauen?

Ich hörte ein Schreien das mir von der NÀsse eines zu Handschellen gemachten Grabsteins erzÀhlte.

Ich weiß, Genossin, von diesem Mörderhass, von dieser TotschlĂ€gerwut, die man fĂŒhlt, wenn man weiß

dass sie uns ein gestriges Morgen erleben lassen, uns der Gegenwart beraubend.

Nun gehe in Richtung auf keinen Ort, der nicht der Tod wĂ€re, Studierender der roten Ehre an den UniversitĂ€ten des Blutes, warte ich auf meine Stunde, um mich mit dir zu vereinen beim letzten Angriff, vereint in der Tragikomödie des Lebens und des Nichts…

fĂŒr immer.

Diese Nacht schlief ich nicht. Ein enormes GefĂŒhl der Leere ĂŒberflutete meine Zelle; eine Leere, grĂ¶ĂŸer als jemals. Ich musste dort auf irgendeine Weise herauskommen. Ich musste fliehen, ich brauchte es.

Am nĂ€chsten Morgen waren die wachhabenden Schließer so nett, mir den Flur der Isolationsetage geöffnet zu lassen, damit ich die Zelle putzen und ein bisschen mit meinen Mitgefangenen plaudern konnte. Wir redeten durch eine GittertĂŒr hindurch.

Ich erhielt die besten WĂŒnsche und das Beileid aller; sie wussten um die Bedeutung, die jenes MĂ€dchen in meinem Leben gehabt hatte. Danach ging ich zu LolĂ­n und Chafi. Ich erklĂ€rte ihnen meinen Wunsch auszubrechen und bat sie, mit mir zu kommen, doch sie wollten nicht mitmachen. LolĂ­n ĂŒbergab mir aber eine

neue SĂ€ge, wofĂŒr ich ihm sehr dankte. Ich redete mit niemandem sonst darĂŒber und begann mit den Vorbereitungen. Wenn sie nicht mit mir kommen wollten, wĂŒrde ich alleine abhauen.

Das Fenster der Zelle, die ich belegte, zeigte auf das GelĂ€nde, auf die Frontseite, wo der Eingang lag. Ein paar Meter entfernt befand sich das DienstgebĂ€ude der Guardia Civil, von wo aus die Ablösungen in die WachtĂŒrme gingen. Doch das wĂŒrde kein Problem sein. Das wirkliche Problem stellten die zwei TĂŒrme dar, die diesen Bereich des GelĂ€ndes ĂŒberwachten, an den Ecken, einer auf jeder Seite. Ich wĂŒrde es riskieren mĂŒssen und auf den Faktor GlĂŒck hoffen.

Sie brachten mich zusammen mit anderen Gefangenen zum Prozess. Es ging um den Gebrauch eines Kraftfahrzeugs ohne EinverstĂ€ndnis dessen Besitzers. Alles lief ohne ZwischenfĂ€lle ab. Mir wurde eine Geldstrafe auferlegt, doch das war mir egal, was ich den Richter auch so wissen ließ. Seine Gesetze waren nicht meine. Am 26. November war ich mit dem DurchsĂ€gen des Gitterstabs am Fenster fertig. Ich hatte aus einem in Streifen gerissenen Bettlaken ein Seil geflochten. GegenĂŒber der Zelle stand eine Laterne von der Mauer ab. Die Idee war, das Seil ĂŒber die Laterne zu werfen und an ihm hoch auf die Mauer zu klettern. Draußen wĂŒrden Chico und Viqueira in einem Auto warten. Ich hatte ein StĂŒck Spiegel, um die Guardias ungesehen zu beobachten.

Diese Nacht um vier Uhr dreißig ging ich von der Theorie zur Praxis ĂŒber. Ich zog mir eine dunkle Sporthose an und bereitete mich darauf vor, die Zelle zu verlassen. Ich wickelte mir das Seil um die Taille. Dann kletterte ich auf die Fensterbank und riss den Gitterstab ab. Ich blickte mit Hilfe des Spiegels auf beide Seiten des GelĂ€ndes: Ich war allein. Ich schlĂ€ngelte mich durch das Loch im Fenstergitter und machte einen flinken Satz auf das GelĂ€nde herab, ohne Laut. Ich ĂŒberquerte das GelĂ€nde und stellte mich ganz eng an der Mauer unter die Laterne. Mein Herz pochte beschleunigt, sie hatten mich nicht bemerkt. Ich wickelte mir das Seil vom Körper und machte mich bereit zum Wurf, als einer der Guardias Civiles mich sah.

»Beweg’ dich bloß nicht, Junge«, schrie er mir zu, seine Waffe entsichernd. Er gab seinen Kollegen ĂŒber ein FunkgerĂ€t Bescheid, und diese kamen wild durcheinander aus ihrem DienstgebĂ€ude gelaufen, in meine Richtung.

»Wirf dich auf den Boden!«befahl mir der Guardia auf dem Wachturm.

Ich warf mich hin. Man diskutiert nicht mit jemandem, der einem mit einem Sturmgewehr auf die Brust zielt. Mehrere Guardias umstellten mich, legten mir Handschellen an und brachten mich in ihr GebÀude. Dort verhörten sie mich. Ich hatte nichts zu sagen, als mein Pech zu verdammen. Ich hatte gespielt und verloren, das war alles.

Im Morgengrauen brachten sie mich ins GefĂ€ngnis zurĂŒck. Am Gitter erwartete mich eine Gruppe Schließer, angefĂŒhrt vom Dienstleiter. Sie nahmen mir die Handschellen ab, fĂŒhrten mich in einen angrenzenden Raum und befahlen mir mich auszuziehen.

»Du wirst dein blaues Wunder erleben«, warnte mich der Dienstleiter, »Du wolltest uns wohl in die Suppe spucken?« fĂŒgte er noch hinzu, mich mit seinem KnĂŒppel stoßend.

Die anderen mischten sich nicht ein. Ich erhielt eine Reihe weiterer SchlĂ€ge, doch unternahm nichts zu meiner Verteidigung; das Gegenteil hĂ€tte die SchlĂ€ge der ĂŒbrigen Schließer herausgefordert. Als nĂ€chstes brachten sie mich in die Isolation, wo sie mich in eine Zelle steckten und mir beide HĂ€nde ans Bett fesselten. Sie ließen mich bis zum nĂ€chsten Tag so liegen. Dann kamen sie, um mich in die zweite Etage zu bringen. Dort befand sich CorrecciĂłn, die Isolationsabteilung fĂŒr Erwachsene. Sie stießen mich in einen Kerker ohne Fenster, dunkel, feucht und stinkend. Sie nahmen mir die Handschellen ab und ließen mich allein. Durch das kleine Gitterfenster in der TĂŒr drang etwas Licht herein, das von den Leuchtstoffröhren im Gang herkam. Außer einer dreckigen Matratze, einem Eimer mit Essensresten, dem Waschbecken und dem Klo gab es in der Zelle nichts. Jene Kerker waren ErbstĂŒcke des Franquismus und von der inhaftierten Bevölkerung sehr gefĂŒrchtet. Ich begann, auf und ab zu gehen. Aufs Neue fĂŒhrten sie das vollstĂ€ndige Brechen meines Willens im Schilde, ohne Kompromiss, mittels Schmerzen und Psychologie. Oder wollten sie sich einfach an mir wegen meiner libertĂ€ren Aktion rĂ€chen? Sie unterdrĂŒckten jeden menschlichen Kontakt und jeden Zeitvertreib mit dem Ziel, mich zum Nachdenken zu veranlassen. Die Einsamkeit sollte den Rest erledigen. Man stellte mich vor eine unbequeme Situation, in der ich alles anderen vorenthalten, sozial abgeschnitten von jeder Achtung und jedem Recht, mich meinen Gedanken stellen mĂŒssen wĂŒrde und den Verlusten, die ich zu verschmerzen hatte.

Die Isolation war fĂŒr die Beziehung zu anderen freien oder gefangenen Personen mit dem Tod des betroffenen Menschen gleichbedeutend. Der Isolierte musste sich seine eigene Welt schaffen, um die Einsamkeit zu ĂŒberleben. Die einzige Begleitung, die kalten WĂ€nde und seine eigene Vorstellungskraft. So bestrafte die Verwaltung, dienlicher Henker der Gesellschaft, die einwilligend schwieg. So schuf man sich die Kriminellen von morgen. Ich sah es inzwischen kommen: Wenn die Sitzungen in Isolation es nicht schafften, den Willen des rebellischen Menschen zu brechen, wenn dieser sich nicht unterwarf, dann konnte sich diese Strafe bis auf ewig verlĂ€ngern. Viele Menschen waren auf diese Weise in den Selbstmord getrieben worden; im Tod fanden sie den einzigen Ausgang aus der Folter im GefĂ€ngnis. Was mich anging, ich wĂŒrde ihnen diesen Gefallen nicht tun.

GefÀngnis von Zamora, Dezember 1988

Zwei Wochen spĂ€ter wurde ich erneut ins GefĂ€ngnis von Zamora verlegt. Ich traf bei meiner Ankunft auf Chafi und LolĂ­n. Auch lernte ich Anxo kennen, einen jungen Mann aus Vigo, der wegen eines Bankraubs einsaß und der noch ein enger Freund von mir werden sollte. Die Tage wiederholten sich monoton. Es kamen die Weihnachtstage, und ein neues Jahr forderte unser Leben heraus. Keine Freude, kein ehrliches Lachen, nichts. Im GefĂ€ngnis ist kein Platz fĂŒr Liebe, kein Platz fĂŒr Frieden.

Im Januar holte man mich aus dem tubo heraus und wies mich in Trakt eins ein. Anxo brachten sie nach Trakt zwei. Wir erhielten aus Gewohnheit unsere Korrespondenz ĂŒber Nachrichten aufrecht, die wir um Batterien wickelten, mit Faden oder geschmolzenem Plastik festgemacht, und die wir dann von einem Hof in den anderen ĂŒber die Mauer warfen.

Ohne BeschÀftigung, ohne WerkstÀtten oder SportrÀume widmeten wir uns SpaziergÀngen oder spielten an der Tenniswand mit BÀllen, die wir selbst aus Wolle und Brotkrumen herstellen mussten. Wir spielten um Tassen Kaffee als Einsatz, in Einzel- oder Doppel-WettkÀmpfen. So ging das jeden Tag. Das Schlimmste war die andauernde Eintönigkeit. Doch diese sollte bald aufgebrochen werden.

Der Trakt hatte sich in zwei Fraktionen aufgespalten. Ein Roma aus Alicante namens Mariano Torres, der typische Knastmacker, hatte neue Streitereien im Trakt angefacht. Ich hatte vorher schon Probleme mit ihm gehabt. Ich hegte eine tiefe Abneigung gegen ihn: er hatte nĂ€mlich vor Jahren einen Freund von mir von hinten niedergestochen, mit Hilfe anderer Gefangener. Dieses Mal verwickelte er sich beim Hofgang in eine Diskussion mit LolĂ­n, angefeuert von einer Gruppe Gefangener, die ihn unterstĂŒtzte, und forderte ihn fĂŒr den nĂ€chsten Tag zum Zweikampf heraus. Mein Freund schickte mir eine Nachricht, in der er um ein Messer bat und mir erklĂ€rte, was passiert war. Er wollte sich ihm stellen. Er wĂŒrde keine Chance haben, weshalb ich ablehnte. Ich sagte den anderen Bescheid, damit sie ebenfalls ablehnen wĂŒrden: Ohne Messer wĂŒrde er nicht kĂ€mpfen können.

Meine persönliche Entscheidung war es, jenes Subjekt von dort zu entfernen, damit fĂŒr die Zukunft jedes weitere Problem ausgeschlossen sein wĂŒrde. Ich wollte ihm nebenbei einen Denkzettel verpassen, aus Rache. Weder ich noch meine Freunde hatten die Messerstiche auf unseren Freund in Teruel vergessen. Ich verschaffte mir ein Stilett. Ich schickte es ĂŒber die Cafeteria in den Hof und gab Anleitungen, damit es in den Toiletten versteckt wĂŒrde. Aus Vorsicht teilte ich niemandem meine Absichten mit.

Am Nachmittag des 12. Februar 1989 war ich in derselben Gruppe wie mein Widersacher mit dem Hofgang an der Reihe. Ich passierte den Metalldetektor ohne Probleme und ging in den Hof hinunter. Selbstsicher ging Mariano in Begleitung eines anderen Roma von einer Seite auf die andere. Ich ging in die Toiletten, holte das Stilett aus seinem Versteck und steckte es offen in die Jackentasche. Danach ging ich in die Cafeteria und bestellte drei Tassen Kaffee durch das Fenster der Bedienung. Anschließend rief ich ihn:

»Was willst du?« reagierte er.

»Ich bestelle Kaffee. Ich lade euch ein, ich will ein bisschen ĂŒber die Sache mit LolĂ­n reden.«

»OK.«

Ich ging den Hof mit auf und ab, wĂ€hrend die anderen ihre ZuckerstĂŒcke unter den Kaffee rĂŒhrten. Ich war mir sicher. Bei der geringsten Unaufmerksamkeit des Schließers im WachhĂ€uschen wĂŒrde ich ihm einen Messerstich in den Unterleib verpassen, dort, wo es wirklich weh tut. Das wĂŒrde die Schließer davon ĂŒberzeugen, dass er hier Probleme haben wĂŒrde und sie wĂŒrden ihn in einen anderen Trakt bringen.

Sie gingen mit mir zusammen ĂŒber den Hof. Wir drei gingen mit heißem Kaffee in der einen und Zigaretten in der anderen Hand spazieren.

»Mariano«, sagte ich, »es kann nicht so weitergehen, wir mĂŒssen die Vergangenheit begraben«, log ich ihn an.

»Solange ihr euch nicht in meine Angelegenheiten einmischt, ist alles in Ordnung, Che. Du musst nicht den Kopf fĂŒr jemanden hinhalten, der es nicht versteht, sich alleine zu verteidigen. Wir sind hier im GefĂ€ngnis und so lĂ€uft das nicht, verstehst du?«

»Schau mal«, antwortete ich ihm und wechselte auf seine rechte Seite, »du weißt genau, dass du, wenn du etwas gegen meine Freunde machst, mich zwingst, mich in die Angelegenheit einzumischen. NatĂŒrlich bin ich moralisch gezwungen zu verhindern, dass ihnen Schaden zugefĂŒgt wird.«

»Das ist dein Problem, nicht meins…«

WĂ€hrend er antwortete, beobachtete ich, dass der Schließer begonnen hatte, Zeitung zu lesen. Bei der Kehrtwende in Richtung auf die andere Hofseite steckte ich die Hand in die rechte Tasche und erfasste den Griff des Stiletts. Ich sah ihm in die Augen und tat so, als ob ich aufmerksam darauf hörte, was er sagte, obwohl ich schon nur noch hörte, wie mein Herz in der Brust heftig pochte. Auf Höhe der TĂŒr zum Friseur verpasste ich ihm einen Stich in die Magengegend und stieß ihn auf die TĂŒr zu, wo er zusammengekrĂŒmmt hinfiel und sich mit den HĂ€nden den Magen hielt. Ich richtete mich an seinen Begleiter:

»Und was ist mit dir?« drohte ich ihm.

»Nichts, Che… bleib bitte ruhig.«

Andere Gefangene kamen herbei. Ich vereinbarte mit ihnen, dass niemand etwas ĂŒber das Vorgefallene sagen wĂŒrde, weder zu Gefangenen noch zu Schließern. Wir vereinbarten einen Verschwiegenheitspakt. Ich wickelte das Stilett in Plastik und warf es auf den Hof von Trakt zwei, wo sie es verschwinden lassen wĂŒrden. Alles war gutgegangen, nur eins nicht: Der Messerstich war zu hoch gewesen. Die Klinge war anstatt geradezu in die DĂ€rme einzudringen nach oben abgerutscht und hatte die Hauptschlagader im Unterleib getroffen: Ich hatte ihn umgebracht.

Nach der Hofgangsstunde brachten sie uns zu den Zellen hoch. Sie bemerkten, dass ein Gefangener fehlte und gingen hinunter, um ihn zu suchen. Sie fanden ihn tot, wie ich vermutet hatte. Die Ironie des Schicksals hatte gewollt, dass das Messer, was sein Leben beendet hatte, dem Mann gehört hatte, den er Jahre zuvor feige von hinten niederstach; er starb als Opfer seines eigenen Gesetzes. Er hatte in demselben Moment die Möglichkeit akzeptiert umzukommen, in dem er sich sein eigenes Gesetz anmaßte und einen anderen Menschen tötete. Alle, die eine Waffe tragen, innerhalb oder außerhalb des Gesetzes, setzen sich der Gefahr aus, getötet zu werden, sobald sie das Recht zu töten fĂŒr sich akzeptieren. Das war das ungeschriebene Gesetz, nach dem sich die Welt seit Anbeginn gerichtet hatte.

Wir wurden auf richterlichen Erlass isoliert. Die den Verschwiegenheitspakt mit mir eingegangen waren, hielten ihr Wort, den wiederholten Drohungen der Verwaltung zum Trotz. Doch das brachte nichts. So wie die Dinge standen, brannte das Stilett, das ich auf den Hof von Trakt zwei geworfen hatte, den Gefangenen in den HĂ€nden. Obwohl ich gebeten hatte, es zu verstecken, ĂŒberließen sie das einem vollstĂ€ndig Unbekannten, was unverantwortlich war. Sobald er merkte, was er da in seiner Zelle versteckt hatte, ĂŒbergab dieser Gefangene es den Schließern. Ich bekam das mit, als einer der Dienstleiter mit dem Messer in der Hand zu mir kam. Er zeigte es mir.

»Jetzt haben wir euch, TarrĂ­o. Das ist doch deins, oder? Ihr werdet alle dafĂŒr bĂŒĂŸen.«

»Ich weiß nicht, wovon sie reden, mein Herr…«

»Das Messer hat mir gerade einer deiner MithĂ€ftlinge aus Trakt zwei gegeben und es klebt noch Blut daran. Jetzt bist du geliefert…«

Als er gegangen war, dachte ich ĂŒber alles nach. NatĂŒrlich hĂ€tten sie in KĂŒrze die Spuren an dem Stilett gesichert; was das Blut anging, so wĂŒrde kein Zweifel bestehen. Es ĂŒberraschte mich, das Messer in der Hand des Schließers zu sehen, immer noch in Plastik eingewickelt. Ich verfluchte meine Mitgefangenen wegen ihrer Inkompetenz und fragte mich, wer es gewesen war. Doch es war zu spĂ€t: der Vogel war verschwunden, verlegt an einen anderen Ort, den wir nicht kannten. Egal, wir wĂŒrden uns vor Gericht sehen. An den folgenden Tagen wurden wir stĂ€ndig auf das Polizeirevier und ins Gericht gefahren um verhört zu werden. ÜberwĂ€ltigt von den Indizien gestand ich schließlich meine Verantwortung fĂŒr jenen Tod und nahm meine Mitgefangenen von jeder MittĂ€terschaft aus. Das war das korrekte Verhalten.

NormalitĂ€t kehrte in die Anstalt zurĂŒck. Ich wurde erneut in den tubo geschickt. Ein Jahr vor meiner Freilassung wĂŒrde ich mich nun wegen Mordes verantworten mĂŒssen. Ich zahlte einen hohen Preis fĂŒr meinen Exzess, doch tat mir der Tod jenes Mannes nicht leid; nicht einmal fĂŒhlte ich mich unglĂŒcklich angesichts dessen, was mich nun ĂŒberrollen wĂŒrde. Sie ließen mich meine Mutter ĂŒber Telefon sprechen. Sie befand sich in der Schweiz, zusammen mit meinen Geschwistern; vor Jahren waren sie dorthin ausgewandert. Ich erzĂ€hlte ihr, dass ich einen Menschen getötet hatte. Es war ein schwerer Schlag fĂŒr sie, jene Worte aus dem Mund ihres Sohnes zu hören. An diesem Tag tötete ich auch in ihrem Inneren etwas. Trotz allem war sie die einzige Person, die mir echte und bedingungslose Liebe anbieten wĂŒrde, immer.

Unterdessen kam eine Gruppe Gefangener aus Carabanchel nach Zamora. Dort hatten sie mehrere AufstĂ€nde angefĂŒhrt. Zamora hatte zu jener Zeit einen ziemlich schlechten Ruf in den ĂŒbrigen spanischen Anstalten, es war zum Synonym fĂŒr Folter geworden. Die PrĂŒgel und die AmtsmissbrĂ€uche verhĂ€rteten sich, wĂ€hrend die Generaldirektion des Strafvollzugs die Augen vor der RealitĂ€t weiterhin geschlossen hielt.

Eines Morgens, ich war gerade vom Hofgang zurĂŒckgekommen, konnte ich durch ein Fenster sehen, wie eine Gruppe Gefangener dabei war, von Trakt zwei aus auf das Dach zu steigen. Es war ein Aufstand. An der Spitze Chafi, Graña und El Bolas aus Madrid. Ich befand mich auf dem oberen Geschoss, im tubo. Sie kamen bis zu meinem Zellenfenster und sprachen mich vom Dach aus an.

»Qué pasa, Che? Wie du siehst, wir haben die Schnauze voll von diesen Schweinen und sind hier rauf, um Forderungen zu stellen«, sagte Chafi.

»Ihr seid toll, doch passt auf wenn die SpezialkrĂ€fte kommen, mit Gummigeschossen und Rauchgranaten. Seht zu, was ihr machen könnt, um uns hier rauszuholen… Schöne Scheiße, die ihr da macht!«

»Einverstanden.«

Sie warfen uns Betttuchstreifen an die Fenster, an die wir mehrere Messer banden, damit sie sich verteidigen könnten. In der Zwischenzeit versuchten sie, durch das Dach zu brechen, um uns herauszuholen, doch das war zu schwierig. Sie wĂŒrden allein aushalten mĂŒssen.

Nur zwei Stunden spĂ€ter fanden sich die SpezialkrĂ€fte auf dem GelĂ€nde ein. Die Genossen, die sich auf dem Dach befanden, bauten Barrikaden aus aufgeschichteten Dachziegeln, die auch als Munition dienen sollten. Beide Seiten versuchten, einen Dialog zu fĂŒhren, doch man kam zu keinem endgĂŒltigen Ergebnis.

»Lassen Sie von Ihrem Handeln ab, sonst sehen wir uns gezwungen einzuschreiten«, schrie der Kommandant der Gruppe von mindestens sechzig Polizisten.

»Fick dich ins Knie, du Arsch«, antwortete einer der Gefangenen.

Die Feindseligkeiten steigerten sich weiter, und wir waren ohnmĂ€chtige Zeugen der Schlacht, die sich vor unseren Augen abspielte. Einige von uns unterstĂŒtzten die Aktion und schlugen die Zellen kaputt, mehr konnten wir nicht tun. Die Stimmung war geladen mit Schreien und dem Knallen der Gewehre, die den Regen aus Schindeln, der vom Dach herkam, mit Gummigeschossen beantworteten. FĂŒnf Minuten lang Krach; danach eine große Stille. Eines der Gummigeschosse hatte meinen Freund Chafi im Gesicht getroffen und hatte ihm ein Auge vollstĂ€ndig zu Brei zerdrĂŒckt. El Bolas rettete ihm das Leben, er hielt ihn im letzten Moment fest, fast wĂ€re er hinunter gefallen. Dieser Vorfall setzte dem Kampf und dem Aufstand den Schlusspunkt. Die Gefangenen gaben auf, damit Chafi baldmöglichst ins Krankenhaus gebracht werden konnte, in die Notaufnahme.

Nach der Revolte kam die Depression. Zelle fĂŒr Zelle beschlagnahmten Schließer und SpezialkrĂ€fte unsere Habe, einschließlich unserer Kleidung, sie ließen uns nackt in den Zellen zurĂŒck. Mehrere Genossen wurden zusammengeschlagen. Als Reaktion vereinbarten wir, in Hungerstreik zu treten. Wir verweigerten in beiden Trakten die Nahrungsaufnahme. Gegen unsere Maßnahme erging eine Reihe von Drohungen seitens der Direktion, deren einziges Ziel es war, unter uns eine Spaltung herbeizufĂŒhren, mittels Terror. Doch sie konnten niemanden mehr erschrecken, und obwohl eine große Anzahl Gefangener den Streik abbrach, machte die Mehrheit bis zum Ende mit.

Am nĂ€chsten Tag mietete die Gruppe »MĂŒtter gegen Drogen«aus Madrid mehrere Autobusse fĂŒr die Fahrt nach Zamora. Mission: Was mit uns dort geschah, publik zu machen. Mit Megaphon ausgestattet stellten sie sich vor den Trakt und begannen, die Schließer zu beschimpfen:

»Lasst die Kinder in Ruhe, Amtsmissbraucher, Kanaillen…«, schrie die Sprecherin.

Als wir sie hörten, stellten wir uns an die Fenster, zogen uns an den Gittern hoch und zeigten ihnen unsere Nacktheit als beste Beschreibung unserer Situation. Die erschrockene Direktion schickte ihre TotschlĂ€ger, um uns mit Gewalt von den Fenstern herunterzuholen, doch es war zu spĂ€t. Die MĂŒtter machten mit ihrem öffentlichen Protest mutig und verwegen weiter, die Schließer mit der ein oder anderen verdienten Beschimpfung beleidigend. Die meisten hatten ihre Kinder hier oder in anderen Anstalten. Viele von ihnen hatten sie verloren, wegen Drogen oder wegen AIDS. Ihre enorme Liebe brachte diese tapferen MĂŒtter bis auf jenen HĂŒgel, um im Rahmen ihrer Möglichkeiten gegen die Ungerechtigkeit im Strafvollzug zu kĂ€mpfen, die von den berufsmĂ€ĂŸig mit dem dreckigen GeschĂ€ft der Rache Betrauten ausging. Sie waren es, die gewannen. Die Direktion ordnete an, uns allen Besitz wieder auszuhĂ€ndigen. Das Recht auf Hofgang wurde wiederhergestellt und die Misshandlungen hörten auf. Mehrere Verantwortliche, allen voran der Direktor, mussten ihre Posten auf Druck der Generaldirektion aufgeben, die auf diese Weise ihr Gesicht vor der Öffentlichkeit wahrte.

In der Zwischenzeit schrieb die Presse Artikel ĂŒber mafiöse Seilschaften in den GefĂ€ngnissen, hinter denen ihrer Ansicht nach Chafi und ich steckten, um was dort stattgefunden hatte irgendwie zu rechtfertigen. Falls sie es schafften, uns vor der Gesellschaft als Mafiosi hinzustellen, wĂŒrde diese die zu unserer Repression eingesetzten Mittel billigen. Die Journalisten ekelten mich an, sie trauten sich, das alles zu schreiben, und waren nie selbst in einem GefĂ€ngnis gewesen.

Sie logen unverhohlen und veröffentlichten Artikel, die von der Verwaltung diktiert worden waren, mit dem einzigen Zweck, ihr geschÀdigtes Image zu reparieren.

Obwohl ich bei dem anfĂ€nglichen Aufstand nicht dabei gewesen war, wurde ich fĂŒr einen der RĂ€delsfĂŒhrer gehalten. Man bereitete meine Verlegung in ein anderes GefĂ€ngnis vor.

La Parda, GefÀngnis von Pontevedra, April 1989

Das GefĂ€ngnis war siebzig Jahre alt. Es war alt, sehr alt. Ich usste mich beim Eintritt ausziehen, um die Aufnahmeprozedur zweier merkwĂŒrdiger Schließer zu absolvieren. Anschließend wurde ich in die Isolationsetage gebracht. Sie hatten dieselbe gerĂ€umt, um mir Einsamkeit und viel Ruhe zu garantieren, was Teil der aus Madrid angeordneten repressiven Sonderbedingungen war. Ich sollte vom Rest der Gefangenen ferngehalten werden. Sie wiesen mir eine ekelhafte, sehr kleine Zelle zu, deren Fenster auf einen kleinen Hof wies. In einer seiner Ecken sah ich deutlich den Guardia Civil auf einem der WachtĂŒrme des GelĂ€ndes, nicht weiter als zwanzig Meter entfernt. Er war die einzige Gesellschaft, die ich dort haben wĂŒrde.

Trotz der Isolation konnten mehrere Freunde von mir, die sich in diesem GefĂ€ngnis befanden, Kontakt mit mir aufnehmen. Sie ließen mir eine Nachricht zukommen. Es waren Rolando, Miguel ExpĂłsito und sein Bruder Javier. Sie teilten mir neben ein paar persönlichen Dingen mit, dass der Gefangene, der fĂŒr die Essensausgabe eingeteilt war, mit Vorsicht zu genießen sei; er war ein Spitzel. Zu wissen, dass ich nicht ganz so allein war wie die Verwaltung es wollte, gab mir Auftrieb.

UngefĂ€hr um sieben Uhr dieses Nachmittags kam das Abendessen. Es brachte der Gefangene, vor dem ich gewarnt worden war. Ich streckte das Tablett hinaus, stellte es auf den Fußboden und bat höflich um die Suppenkelle.

»Gib mir die Kelle, ich fĂŒlle mir selber auf…«

Er gab sie mir. Ihn begleitete ein Schließer auf dem Gang und ein anderer, der hinter dem Gitter geblieben war, das in die Etage fĂŒhrt. Ich servierte mir ein wenig warme Suppe und ein StĂŒck Tortilla. Danach richtete ich mich auf und ohne ein Wort zu verlieren schlug ich ihm ins Gesicht, mit der Kelle. Er schrie auf und fĂŒhrte sich die HĂ€nde ans Gesicht.

»Ich will dich hier nicht mal als GemÀlde sehen«, warnte ich ihn.

»TarrĂ­o, beruhigen Sie sich, was ist los?« mischte sich der Schließer ein.

»Nichts, was Sie etwas angeht.«

Ich nahm das Tablett auf, ging zurĂŒck in die Zelle und ließ die Kelle auf dem Fußboden liegen. Ihn sah ich dort nicht mehr wieder.

Die Tage in La Parda vergingen langsam. Dieser Hof nervte mich, mit dem Schließer, der mich die ganze Zeit von der einen Seite beobachtete, und dem Guardia Civil auf der anderen. War das Teil der Strafe fĂŒr meine unverhohlene Rebellion? Ein Schmerzzuschlag zusĂ€tzlich zur Ungewissheit einer zukĂŒnftigen Haftstrafe wegen Mordes? Ich fĂŒhlte mich auf Null reduziert.

Mein Vater kam, um mich zu sehen, in Begleitung der Familie Rolandos.

»Hallo JosĂ©, wie geht’s?« grĂŒĂŸte er mich.

»Schlecht, sie halten mich in Isolation gefangen, allein. Ich sehe niemanden, kann mit niemandem sprechen… ich werde noch verrĂŒckt…«

Wir redeten die ganze Besuchszeit lang von diesen Dingen. Als sie zu Ende war, verabschiedeten wir uns. Auf dem RĂŒckweg in die Isolation konnte ich mit meinen Freunden sprechen. Einer von ihnen gab mir beim Handschlag einen Zettel. Ich verbarg ihn vor den Augen des Schließers, der mich eskortierte. In der Zelle las ich ihn. Ich erkannte Miguels Schrift:

Che, ich habe einen Fluchtplan erarbeitet, zusammen mit meinem Bruder. Es geht darum, die Schließer gefangenzunehmen, einen der GitterstĂ€be in den Besuchszellen durchzusĂ€gen und von dort aus aufs Dach zu gelangen. Das alles wĂ€hrend des Tages. Vom Dach aus springen wir auf das Dach des WachdienstgebĂ€udes, was sich unterhalb befindet, etwa vier Meter. Der Sprung ist nicht sehr schwer, und von dort aus auf die Straße… Kommst du mit?

Ich wartete auf den nĂ€chsten Besuchstermin, um ihnen mitzuteilen, dass ich mitgehen wĂŒrde, dass ich dabei war. Es mĂŒsste der richtige Moment abgewartet werden und es mĂŒssten mehrere Messer hergestellt werden. Die anderen wĂŒrden herunterkommen, um mir aufzumachen, nachdem die Schließer gefesselt und geknebelt waren. Es war ein guter Plan und ich fĂŒhlte Dankbarkeit meinem Freund gegenĂŒber: Er hatte an mich gedacht. Er war Realist und wusste, dass mir viele Jahre GefĂ€ngnis bevorstanden, wegen des Todesfalls in Zamora. Vielleicht mehr, als mir meine Krankheit zum Leben ĂŒbrig lassen wĂŒrde. Jedenfalls wĂŒrde jede Möglichkeit rauszukommen immer besser sein, als langsam in einer Zelle zu sterben, untĂ€tig. Ich zog die Gefahr einer Maschinenpistolensalve dem GefĂ€ngnis vor. Ich glaubte, der wirkliche Wert des Lebens bestehe nicht in dessen Erhaltung um jeden Preis, sondern darin, das Risiko einzugehen etwas Besseres zu suchen: Die wirkliche Freiheit, die mir die Chance eröffnen wĂŒrde, mich selbst zu realisieren. Das Leben befand sich außerhalb jener Mauern.

Als ich mich an diesem Nachmittag fertig machte, um auf den Hof zu gehen, brachte mir einer der Schließer die Neuigkeit, die wir erwartet hatten.

»Tarrío, wissen Sie, heute ist Rolando niedergestochen worden.«

»Ach Quatsch, Sie scherzen…«, antwortete ich ihm.

»Nein, nein, es ist die Wahrheit! Wir haben ihn so schnell wie möglich ins Krankenhaus gebracht.«

»Idiot«, dachte ich fĂŒr mich, wĂ€hrend ich ĂŒber den Hof ging. Stunden spĂ€ter brachte Radio Nacional in den Nachrichten, was wir hören wollten: Mehrere Personen waren mit Pistolen bewaffnet in das Krankenzimmer von Rolando Cancela Veiga eingebrochen, hatten die zwei Polizisten entwaffnet, die ihn bewachten, und flohen anschließend alle zusammen. Das wĂŒrde meine Freunde und mich bei unserem Vorhaben ermutigen.

Am 27. Juni, mehrere Tage nach Rolandos Flucht, brachte Radio Nacional neue Nachrichten aus der GefĂ€ngnisunterwelt. Eingeweiht 1982, erlebte das berĂŒhmte GefĂ€ngnis von Puerto de Santa MarĂ­a seinen zweiten Aufstand in sieben Jahren. Die Gefangenen FernĂĄndez Varela, Maya Martos, Hidalgo GarcĂ­a, OrtĂ­z JimĂ©nez und Zamoro DurĂĄn fĂŒhrten ihn an. Sie hatten mehrere Schließer als Geiseln genommen, um die Verhandlungen zu erleichtern. Diese Gefangenen, massiv unterstĂŒtzt durch den Rest der inhaftierten Bevölkerung, brachten ein Tonband mit einer Reihe Forderungen in Bezug auf die Haftbedingungen in Puerto heraus. Auch forderten sie eine Reform des Strafgesetzbuchs. Sie forderten unabhĂ€ngige und nicht der Behörde angehörige Ärzte fĂŒr den SanitĂ€tsdienst in den GefĂ€ngnissen, die sofortige Freilassung der AIDS-Kranken in terminaler Phase und andere fĂŒr die in spanische GefĂ€ngnisse eingesperrten MĂ€nner und Frauen wichtige Dinge. Ich fĂŒhlte wie sie und fand mich in ihren Forderungen wieder. Ich verfolgte den Verlauf der Geiselnahme die ganze Nacht hindurch ĂŒber das Radio. Das Tonband war dem Anstaltsdirektor Eduardo Roca ausgehĂ€ndigt, jedoch nicht veröffentlicht worden. PlĂĄcido Conde, Gouverneur von CĂĄdiz, forderte den Einsatz der GEOS an, und das Leben in der Provinz kam zum Erliegen. In jenem GefĂ€ngnis befanden sich zu langen Haftstrafen Verurteilte; es waren hartgesottene und gefĂ€hrliche MĂ€nner. Falls die Polizei einschritt, konnte es ein Massaker geben. Innerhalb der Anstalt wurden Barrikaden und Molotowcocktails gebaut, mit aus der Krankenstation entwendetem Alkohol. Draußen umkreisten mehrere Hubschrauber das GefĂ€ngnis, wĂ€hrend die GEOS Position zum Sturmangriff einnahmen. Es konnte alles Mögliche passieren. Nach zwanzig langen Stunden der Verhandlungen gaben die Gefangenen allerdings auf und ließen die Geiseln frei. Die fĂŒnf HĂ€ftlinge, die den Aufstand angefangen hatten, wurden anschließend in die traurig berĂŒhmte Anstalt Herrera de La Mancha ĂŒberfĂŒhrt und unter Sonderbedingungen gestellt, bewacht von der Guardia Civil. Sie wĂŒrden es teuer bezahlen, es gewagt zu haben, sich mit dem System anzulegen und dessen Methoden öffentlich anklagen zu wollen.

Das Schicksal meinte es immer noch nicht gut mit mir. Mitten in der Fluchtvorbereitung ĂŒberraschte mich die Nachricht einer erneuten Verlegung. Ich musste meine Sachen packen und die Anstalt in Richtung La Coruña verlassen, von wo ich am nĂ€chsten Tag ins HochsicherheitsgefĂ€ngnis von Daroca, Zaragoza, fahren wĂŒrde. Meine AusbruchstrĂ€ume waren fĂŒr den Augenblick zerplatzt, doch ich wĂŒrde nicht von ihnen ablassen: ich wĂŒrde bei der geringsten Chance auf einen Erfolg die Flucht versuchen.

Im GefĂ€ngnis von La Coruña wurde ich in die zweite Etage gebracht, CorrecciĂłn. Ich konnte Kontakt mit JosĂ© MarĂ­a ExpĂłsito aufnehmen, der mir zwei SĂ€geblĂ€tter und ein Stilett zukommen ließ. Ich verstaute die Klinge desselben zusammen mit den SĂ€geblĂ€ttern in einem zylindrischen PlastikgefĂ€ĂŸ, welches ich mir verschlossen in den After einfĂŒhrte. Jene MetallstĂŒcke könnten zum SchlĂŒssel fĂŒr meine Freiheit werden; in meinem Leib wĂŒrden sie sie nie finden. Ich fĂŒhlte mich sicherer.

GefÀngnis Daroca, Zaragoza, Juli 1989

Die Anstalt Daroca, ein modernes GebĂ€ude in gelblichem Farbton, galt als HochsicherheitsgefĂ€ngnis. Es gab fĂŒnf verschiedene Trakte, alle belegt von Gefangenen im geschlossenen Vollzug, erster Grad, im Alter zwischen einundzwanzig und fĂŒnfundzwanzig Jahren. Das GebĂ€ude wurde dominiert von einem zentralen Turm, der es erlaubte, die DĂ€cher aller fĂŒnf Trakte stĂ€ndig zu ĂŒberwachen. Auf jeder Außenmauer standen WachtĂŒrme, von denen aus jeweils drei Guardias Civiles Wache hielten. Niemand dĂŒrfte sie ĂŒbertreten, das war ihr Job. Es halfen ihnen dabei eine Anzahl Kameras, an strategischen Punkten auf das ganze GelĂ€nde verteilt, und ein paar deutsche SchĂ€ferhunde, die der Guardia Civil gehörten.

Ich war fĂŒr Trakt eins, erste Phase vorgesehen. Dort traf ich auf meinen Freund Musta. Wir umarmten uns.

»Na, du Ganove, hast du meine Nachricht erhalten?« fragte er mich.

»Ja, deine Freundin hat sie mir gegeben bei einem Besuch, den sie mir gemacht hat.«

WĂ€hrend wir weitersprachen, gingen wir den Hof auf und ab.

»Mir war von Anfang an klar, dass du hinter der Geschichte mit Torres steckst. Wie ich schon gesagt habe, du kannst fĂŒr alles auf mich zĂ€hlen; ich komme bald raus. Verstanden, Kollege?«

»Das wusste ich.«

Wir gingen weiter spazieren und schmiedeten ZukunftsplĂ€ne. Unser Alltag hier hatte denselben Ablauf wie in den anderen Anstalten. Menschen gingen hin und her, Schritte, die nirgendwohin fĂŒhrten; Vom GefĂ€ngnis brutalisierte Menschen, die von dem getrennt worden waren, was sie am meisten schĂ€tzten oder liebten. Eine Unterwelt voll Freundschaft und voll LĂŒge, voll Blut, Hass, Schmerz und Repression. Das GefĂ€ngnis war die Kloake, die MĂŒllhalde, wo die Guten und AnstĂ€ndigen sich der Menschen entledigten, die in der Gesellschaft Fehler gemacht hatten. FĂŒr mich war dieses PhĂ€nomen nicht neu; ich hatte das alles zuvor im Internat und in der Erziehungsanstalt gesehen. Sie nahmen dich als Kind mit und ließen dich als Greis los. Das war Teil des Business.

Der StraffĂ€llige wurde nicht verfolgt, weil er asozial war, man entfernte etwas von der Straße, weil es störte. Wie man einen Vater aus dem Haus wirft und ihn in ein Altenheim einschließt. Die Ge- sellschaft funktionierte so. Falls wir wĂ€hrend unseres langen Aufenthalts im GefĂ€ngnis hĂ€tten beobachten können, dass diese Gesellschaft, die wir bestohlen und der wir den Krieg erklĂ€rt hatten, in Wirklichkeit besser war als wir glaubten, gerechter, humaner, tatsĂ€chlich anstĂ€ndig, hĂ€tten viele von uns glaube ich wohl versucht, mit ihr zusammenzuleben. Doch wir sahen in ihr nur Egoismus, Eitelkeit, Wettbewerb und Scheinheiligkeit. Man hatte eine fĂŒrchterlich hĂ€ssliche und ungerechte Gesellschaft geschaffen, die uns alle hier und jetzt nach ihrem Vorbild formte. Wir alle trugen einen Teil der Verantwortung; niemand konnte sich rĂŒhmen, die Wahrheit fĂŒr sich gepachtet zu haben. WĂ€hrend wir hier schimpften und kĂ€mpften, erfreuten sich die Politiker ihres Sonnenplatzes an der Macht und ihrer destruktiven Doktrin, armselig aus Leidenschaft. Wir, die StraftĂ€ter, waren nicht die wirklichen Feinde der Gesellschaft, wenigstens nicht die schlimmsten; die echten Feinde der Gesellschaft sind die Politiker und ihre LĂŒgen, ihre uneingelösten Versprechen, ihre Kriege. Indem man viele Menschen einfach so in die GefĂ€ngniskloake warf, wurden zahllose Ungerechtigkeiten begangen. Doch wen interessierte das?

Mehrere Monate nach meiner Ankunft in Daroca bekam ich mit, dass eine Flucht vorbereitet wurde, vom Krankenhaus aus. Mir sagten sie als Erstem Bescheid, worĂŒber ich mich freute. Ein Gefangener war soeben aus dem Krankenhaus gekommen und hatte die Fenstergitter dort halb angesĂ€gt hinterlassen. Nun fehlte nur noch ein Plan, um die Verlegung von Anxo und eines Madrileños namens Julepe zu provozieren; sie wĂŒrden nach mir an die Reihe kommen.

Ich prĂ€parierte den Schließern einen Köder, inspiriert von Rolandos Flucht: sie selbst wĂŒrden mir die Hinfahrkarte ausstellen. Ich sprach mit einem vertrauenswĂŒrdigen Genossen und bat ihn, mir einen Messerstich in den Magen zu verpassen, sobald wir auf den Hof hinausgehen wĂŒrden.

»Du darfst mir nur die halbe Klinge hineinstechen, einverstanden?«

»Sei unbesorgt.«

Ich ĂŒbergab ihm ein Messer und wir bewegten uns auf eine der Ecken des Hofes zu, wo die Schließer in den WachhĂ€uschen uns nicht sehen wĂŒrden. Ich ergriff seine Schulter.

»Los jetzt«, sagte ich zu ihm und spannte den Bauch. Ich bereitete mich auf das Theaterspiel vor.

Ein fester Stoß, und die Klinge drang ein. Ich merkte es kaum. Ich ließ meinem Genossen Zeit, sich zu entfernen und das Messer zu verbergen, lief auf die Schließer zu und schrie:

»Man hat auf mich eingestochen, man hat auf mich eingestochen!«

Die anderen Gefangenen, die ja von der Wirklichkeit nichts wussten, umringten mich. Ich stellte mich schwer verletzt. Sie brachten mich auf die Krankenstation, wo man mir die Kleidung herunterzog und die Tiefe der Wunde maß.

»Er muss ins Krankenhaus«, ordnete der Arzt an.

Geschafft. Ich gratulierte mir.

Der Krankenwagen ließ nicht lange auf sich warten und ich wurde ins Krankenhaus gebracht. Dort checkte man mich durch, machte mehrere Tests und stellte dabei fest, dass die Magenwand nicht durchschnitten worden war. Trotzdem hielten die Ärzte es fĂŒr angebracht, mich fĂŒr einige Tage einzuweisen, falls irgendeine Komplikation auftreten sollte. Sie steckten mich in den Saal fĂŒr HĂ€ftlinge. Dort traf ich auf einen Gefangenen portugiesischer Staatsangehörigkeit. Er erklĂ€rte mir:

»Schau, dieser ganze Abschnitt des Gitters ist angesÀgt. Es fehlt nur noch ein bisschen, wir sind seit vierzehn Tagen daran.«

»Es kommen noch zwei Genossen. Wir werden zwei Tage abwarten, ob sie es schaffen, eingewiesen zu werden. In der Zwischenzeit sÀgen wir weiter, einverstanden?«

»Gut…«

Ich blieb auf dem Bett liegen und blickte die Decke an. Vier uniformierte Bullen bewachten uns hinter der gepanzerten und mit Sicherheitsglas bestĂŒckten EingangstĂŒr. Wir befanden uns im dritten Stock. Ich hoffte, meine Genossen wĂŒrden so schnell wie möglich eintreffen, damit wir bald hier heraus kĂ€men. Es wĂŒrde leicht sein. Wir wĂŒrden nur mit dem SĂ€gen fertig werden mĂŒssen, aus Bettlaken ein Seil knĂŒpfen und uns im Schutze der Nacht in den Garten abseilen, der zum Krankenhaus gehörte. Ein Kinderspiel von dort zu entkommen. Dieses Fenster bedeutete fĂŒr mich und meine Genossen das Ende der Haft. Ich hatte nicht den leisesten Zweifel, dass wir es schaffen wĂŒrden, weshalb ich mir die Zeit mit dem Überdenken technischer Details vertrieb: Wohin gehen und was tun, das war der wichtigste Teil.

UngefĂ€hr um neun hatte es mein Freund Anxo geschafft eingewiesen zu werden und stieg in das Projekt ein. Diese Nacht arbeiteten wir ein bisschen an dem Gitter. Den Rest wĂŒrden wir in der kommenden Nacht durchsĂ€gen. Falls Julepe nicht auftauchte, wĂŒrden wir ohne ihn gehen.

Am nĂ€chsten Morgen erhielten wir Visite von den Ärzten.

»Sie zwei sind gesundgeschrieben«, sagte einer von ihnen und zeigte auf mich und auf Anxo.

»Hören Sie mal! Mir geht es sehr schlecht…«, sagte ich.

»Es tut mir leid, doch Sie haben genau wie Ihr Kollege nur eine Perforation des Bauchmuskels. Ihre MĂ€gen sind in perfektem Zustand, weshalb es nicht mehr nötig ist, dass sie hier fĂŒr lĂ€ngere Zeit verbleiben.«

Stunden spĂ€ter befanden wir uns auf dem RĂŒckweg ins GefĂ€ngnis. Einmal mehr hatte der Zufall meine Ausbruchshoffnung zerstört. Doch ich wĂŒrde es wieder versuchen. Ich gab nicht leicht auf, auch wenn es Schwierigkeiten gab. Der Portugiese versuchte es allein, scheiterte jedoch. Mir tat das leid, seinetwegen und wegen der verpassten Gelegenheit, denn das Krankenhaus wĂŒrde die Sicherheitsmaßnahmen verstĂ€rken.

In Daroca spielte die landsmannschaftliche Herkunft die Hauptrolle. Wir Gallegos hatten den grĂ¶ĂŸten Einfluss in Trakt eins. Dort galten die Bedingungen der ersten Phase: die Gefangenen wurden in Zehnergruppen auf den Hof gelassen, zwei Stunden tĂ€glich. Wir kontrollierten die Cafeteria und die Essensausgabe, was uns grĂ¶ĂŸere Bewegungsfreiheit verschaffte, Nahrungsmittel, Zigaretten und Kaffee. Genauso war es in Trakt zwei mit den Madrileños. Dort durften die Gefangenen vier Stunden am Tag auf den Hof und hatten das Recht auf einen Fernsehraum. In Trakt drei gab es sechs Stunden Hofgang, mit Anrecht auf Sportfeld und visavis-Besuchstermine. Dort ĂŒbten die Catalanes den grĂ¶ĂŸten Einfluss aus. In Trakt vier waren die unter Artikel 10 Gestellten und die Protegidos untergebracht. Der fĂŒnfte war der Isolationstrakt. Wir waren ungefĂ€hr 150 Gefangene in diesem GefĂ€ngnis. Bei Gelegenheit kam es zu Streit zwischen uns, der mit dem ein oder anderen Verletzten gipfelte, wenn nicht mit einem Toten. Doch generell lösten wir unsere Probleme, indem wir miteinander redeten. Es herrschte ein gewisser Respekt, und Anmaßungen waren in der inhaftierten Bevölkerung nicht gerne gesehen. Man bemerkte eine gewisse Reife, die in den JugendstrafgefĂ€ngnissen nicht existierte. Trotzdem war die landsmannschaftliche Herkunft immer noch eine der hauptsĂ€chlichen Problemfaktoren, denn wenn zwei Gefangene aneinandergerieten, rissen sie den Rest ihrer Landsleute und Freunde mit. Wir machten den hĂ€sslichen Fehler, mit dieser BeschrĂ€nktheit weiterzumachen und nicht zu realisieren, dass wir alle einfache Strafgefangene waren, dass nur wir fĂŒr uns da waren, und dass echter Respekt individuell erworben wird und nicht als Gruppe. Die Verwaltung tat nichts, um dies zu verhindern. Sie stellte keine WerkstĂ€tten bereit, damit wir Gefangenen beschĂ€ftigt sein konnten, uns einen Lohn verdienen oder sogar einen Beruf erlernen. Kein Kulturprogramm, keine Hilfestellung fĂŒr die Besuche der Familien, die hunderte von Kilometern zurĂŒcklegten, um uns im GefĂ€ngnis zu sehen. Nichts von alledem wurde gemacht; zu teuer, zu viel Geld. Um ein paar Peseten zu sparen, brachte die Verwaltung gefĂ€hrliche MĂ€nner hervor. Das wĂŒrde die unmittelbare Zukunft zeigen.

Gegen Ende des Jahres kam Musta frei. Ein Verwandter von mir holte ihn in Daroca ab und nahm in mit, damit er La Coruña kennenlernte, wo ihm einige meiner Freunde vorgestellt wurden. Wie wir vereinbart hatten, gab man ihm eine Pistole, und ein Freund von mir beging mit ihm zusammen einen BankĂŒberfall, damit er sich selbst finanzieren konnte.

Von draußen kam die Nachricht der Flucht meines Freundes Chafi aus dem GerichtsgebĂ€ude von La Coruña. Ich stellte den Kontakt zu Musta her, und beide gingen nach Vigo, um sich Waffen zu besorgen. Meine Befreiung sollte vorbereitet werden, wobei Edmundo Balsa Franco, el Yando, mitmachte, den ich von draußen kannte, also alles Genossen. Meine Freunde besuchten Bankfilialen in verschiedenen Orten Galiziens, und mit der Beute finanzierten sie den Aufbau von Strukturen in Vigo und Orense. StĂ€ndig schickten sie mir Nachrichten und Fotos meiner neuen Bleibe. Alles war vorbereitet; jetzt fehlte nur noch, dass ich nach La Coruña gebracht wurde, zu einem der vielen Prozesse, die gegen mich noch anhĂ€ngig waren. Dort wĂŒrden sie versuchen, mich zu befreien.

In der Zwischenzeit schaffte ich es, an einen Posten im Economato von Trakt eins heranzukommen, was mir tĂ€glich sechs Stunden Zeit auf dem Hof verschaffte, abzĂŒglich der Zeit, die ich mit Servieren von Kaffee und der Bedienung der Gruppen beschĂ€ftigt war, die zum Hofgang herunterkamen. Weihnachten stand vor der TĂŒr, und wir schafften, versteckt in ein Essenspaket von draußen, fĂŒnfzehn Gramm Haschisch zu uns hinein, die ich mit Anxo und anderen Freunden teilte.

Hasch war die einzige Droge, die ich noch zu mir nahm; den Rest hatte ich geschafft hinter mir zu lassen, was mich in meinem Selbstvertrauen stÀrkte. Wir rauchten ein paar Joints, um 1990 zu feiern, wÀhrend unsere Gedanken nur um den einen Wunsch kreisten: Freiheit.

Doch 1990 brachte keine guten Neuigkeiten: Im Verlauf eines Überfalls auf ein Nachtlokal, dessen Beute kaum das Risiko hĂ€tte aufwiegen können, schossen meine Freunde auf den Besitzer der Bar, als dieser versuchte, sich in ein BĂŒro einzuschließen, um die Polizei zu rufen. Zwei GewehrschĂŒsse zerbarsten eine Stelle in der HolztĂŒr, groß genug, dass Musta mit mehreren PistolenschĂŒssen durch das Loch sein Leben beendete. Ich erinnerte mich in der Zelle an seine Worte: Keine Gnade. WĂŒtend beglichen meine Freunde ihre offene Rechnung mit der Gesellschaft auf ihre Weise.

Einen Monat nach diesem Vorfall, am Karnevalstag, erhielt ein HeroinhĂ€ndler Besuch von drei Maskierten, die ihm ein Projektil des Kalibers 12 in ein Bein verpassten. Jene unnötigen Aktionen erregten die Aufmerksamkeit der Polizei. Diese ging nach den ĂŒblichen Methoden vor, um DiebstĂ€hle oder andere kleine Straftaten aufzuklĂ€ren. Doch sobald Waffen im Spiel waren und Menschen, die bereit waren, sie zu benutzen, rauften sie sich zusammen und ermittelten die Wirklichkeit. Und das war gefĂ€hrlich. Die Dezernate fĂŒr RaubĂŒberfĂ€lle aus La Coruña, Pontevedra, Orense und Vigo krempelten die Ärmel hoch und brauchten lediglich dreißig Tage, um den Ort ausfindig zu machen, wo in der Stadt Orense sie sich versteckt hielten, in Begleitung von drei Frauen. Sie hatten sie lokalisiert und schmiedeten nun den Plan zu ihrer Verhaftung: sie wĂŒrden nicht lange fackeln.

Jenes Morgens verließ Musta in Begleitung eines anderen Mannes das Domizil, in dem sie sich versteckt gehalten hatten. Beide stiegen selbstsicher in ihr Mietauto und setzten sich in Richtung Innenstadt in Bewegung. An der ersten Ampel, an der sie hielten, stĂŒrmte eine Gruppe bis an die ZĂ€hne bewaffneter Polizisten auf das Auto zu und hielt ihnen die Waffen vor. Sie gaben auf. Eine halbe Stunde spĂ€ter ging Yanko aus dem GebĂ€ude und in Richtung Busbahnhof, um in seine Wohnung in La Coruña zu fahren. Eine Gruppe Polizisten verfolgte ihn. Im selben Augenblick brach eine weitere Gruppe Polizisten die TĂŒr zu der Wohnung ein, in der sich Chafi befand, drang ein und nahm ihn fest. Es fehlte nur noch einer, um die Operation komplett zu machen.

In der NĂ€he des Busbahnhofs entschied sich die Polizei, in Aktion zu treten und den dritten Mann festzunehmen. Mehrere Polizisten nĂ€herten sich ihm. Mein Freund merkte, was los war, und es begann eine Schießerei ĂŒber mehrere Straßen von Orense, die mit seiner Festnahme endete, nachdem er sich in einen Fluss gestĂŒrzt hatte. Alle waren eingefahren. Es hinterblieben eine zerstörte Familie und ein toter BĂŒrger. Diese wĂŒrden den Preis bezahlen fĂŒr eine schlechte Strafvollzugspolitik, die den Hass und das Böse in jenen Ex-StrĂ€flingen potenziert hatte. Die SchlĂ€ge, die AmtsmissbrĂ€uche und die gemeinste Ungerechtigkeit der in spanischen GefĂ€ngnissen an jenen MĂ€nnern stattfindenden Rachenahme hatten viel mit der Entwicklung dieser Bestien zu tun. Eine Sache ist es, jemanden zu zwingen, eine Haftstrafe zu verbĂŒĂŸen, doch eine ganz andere ist es, ihn konstant zu misshandeln mittels PrĂŒgel und unverhĂ€ltnismĂ€ĂŸigen Sondermaßnahmen, Armseligkeiten, die im GefĂ€ngnis an der Tagesordnung waren. Jener Todesfall erschien mir nicht trauriger als die Tode der Menschen, die im Morgengrauen an einem Strick aus Bettlaken hingen; nicht trauriger, als das schreckliche Siechen der terminal AIDS-Kranken, die in einer kalten Zelle starben, fern ihrer Lieben, ohne Hoffnung.

Meine Bestimmung war weiterhin der Economato. Mein aufbrausender Charakter ließ mich zuweilen hitzige Diskussionen mit einigen Gefangenen fĂŒhren, die allerdings zu nichts weiter fĂŒhrten. Meine Art brachte mir hĂ€ufig solche Probleme ein. Ich war ein echter Asozialer. Im GefĂ€ngnis triffst du auf alles mögliche, und ich konnte manchmal nicht verhindern, einigen dieser Subjekte gegenĂŒber Abneigung zu empfinden. FĂŒr mich waren es keine Genossen, denn die suchte ich mir selbst aus. Zu zwanghaften LĂŒgnern gemacht verdrehten sie alles, was sie erzĂ€hlten. Einige kritisierten mich hinter vorgehaltener Hand; niemals wĂŒrden sie den ausreichenden Mut zusammenbekommen, um es von Angesicht zu Angesicht zu tun. Sie redeten schlecht ĂŒber mich, und am nĂ€chsten Tag boten sie die Hand an, grinsend, als Demonstration ihrer Falschheit. Andere krochen am Boden, wimmernd wie servile WĂŒrmer, ohne jedes Bisschen Persönlichkeit oder Stolz. Die Schlimmsten spionierten dich aus, um dich an die Verwaltung zu verraten, im Tausch gegen vergĂŒnstigte Haftbedingungen. Alle Trakte, alle Etagen, alle Höfe hatten ihre Spitzel. Immer gab es jemanden, der seine Freiheit auf Kosten der anderen zu erlangen suchte. Doch abgesehen von diesen Elementen war die Mehrheit der Gefangenen im ersten Grad, die ich kennenlernte, aufrechte und ehrliche Menschen, mit deren Diskretion man rechnen konnte. Einer derjenigen Gefangenen war Javier Ávila Navas, el Niño, wie wir ihn in unseren ZusammenhĂ€ngen besser kannten. Er kam verlegt aus der Anstalt AlcalĂĄ-Meco 1, damals eine der hĂ€rtesten in ganz Spanien. Gemeinsam mit anderen Gefangenen hatte er dort gerade eine Geiselnahme angefĂŒhrt, um seinen Freund Juan Redondo FernĂĄndez aus den harten Sonderhaftbedingungen herauszubekommen, unter die man diesen gestellt hatte. Ich besorgte ihm Tabak, Nahrung und Kaffee. Mit mehreren Kaffeebechern in der Hand gingen wir zusammen ĂŒber den Hof spazieren; ich wollte unbedingt erfahren, was geschehen war.

»Was war da los, in Meco, Niño?« fragte ich ihn, wÀhrend wir schlenderten.

»Willst du, dass ich’s dir erzĂ€hle? Es ist eine ziemlich lange Geschichte…«

»Egal, wir haben genug Zeit. Los, erzĂ€hl’ sie mir.«

»OK«, er zĂŒndete sich eine Zigarette an und begann zu erzĂ€hlen.

»Am 29. Dezember vergangenes Jahr verlegte man mich ins zentrale Justizvollzugskrankenhaus in Madrid, um mich an der Verrenkung zu operieren, die ich in der Schulter habe und die mir die UEI beim Sturmangriff auf Trancho und mich in Ciudad Real beigebracht haben, wĂ€hrend einer anderen Geiselnahme. Das war im Januar und Februar, und ich traf dort meinen Freund Redondo. Ihm ging es schlecht; nie hatte ich ihn so gesehen. Er war buchstĂ€blich am Boden zerstört. Nur Haut und Knochen, kaum fĂ€hig, zwei ganze Wörter zu sprechen. Ich half ihm bei seinem Bad und redete mit ihm…«

»Was war mit ihm?« fragte ich neugierig.

»Sie hatten ihn in Trakt sieben, Isolation, in AlcalĂĄ-Meco gesteckt, du weißt ja, wie das ist. Mir kamen fast die TrĂ€nen, als ich ihn in diesem Zustand sah. Sie hatten sich unverschĂ€mt grausam an ihm ausgelassen. Ich bat ihn, mir zu erzĂ€hlen, was mit ihm passiert war. Sie ließen ihn ohne Essen, sie rotzten ihm hinein oder sprĂŒhten ihm ein Spray drauf. Sie hielten ihn völlig isoliert von den anderen Gefangenen und hatten sogar versucht, ihn mit AIDS zu infizieren, mit einer gebrauchten, blutigen Spritze… zumindest haben sie ihn damit bedroht.«

»Scheiße, und warum ließ er das zu?«

Ich holte eine Zigarette heraus, er gab mir Feuer. Wir gingen weiter ĂŒber den Hof, im Kreis.

»Was sollte er machen? In Trakt sieben in Meco ist alles vollautomatisch und man hat zu keiner Gelegenheit Kontakt mit den Schließern, außer wenn sie hereinkommen, um dich zu schlagen, und wenn sie das tun, tun sie es in der Horde. Er konnte nichts tun.«

»OK, klar…«

»Er hatte die Gefangenen, die er kannte und die in den anderen Trakten waren, seine Situation mitbekommen lassen. Doch niemand tat etwas, außer Anzeige zu erstatten, und das fĂŒhrte zu nichts, denn du weißt, dass sie sich mit den Anzeigen den Arsch abwischen. Die Wahrheit ist, dass sie eingeschĂŒchtert waren und sich nicht trauten, etwas zu tun. Sie fĂŒrchteten die Repressalien der Schließer, das war normal. So standen die Dinge, als ich nach Meco kam«, er hielt einen Moment inne, als ob er im Kopf unvergessliche Erinnerungen ordnete, dann fuhr er fort: »Ich musste meinen Freund da rausholen, zu jedem Preis, und redete mit Conde und Losa, kennst du die?«

»Nur vom Hörensagen.«

»Na ja, jedenfalls redete ich mit denen und bat sie, mir zu helfen, die Schließer im Trakt zu entfĂŒhren, um Juanito aus der Sieben herauszuholen. Sie sagten zu. Am Valentinstag also legten wir los«, er machte eine Pause und sprach weiter: »An diesem Morgen gingen Losa und Conde auf meinen Vorschlag hin hinunter zum Wachdienst und fragten nach einem Putzlappen, um den Essenswagen zu wischen. Das war kein Problem, denn die beiden waren eingeteilt, das Fressen zu verteilen. Den Schließern kam nichts verdĂ€chtig vor. Als sie ihnen aufschlossen, ĂŒberwĂ€ltigten sie sie und nahmen sie mit hoch in die DuschrĂ€ume, wo ich mit einem anderen Schließer wartete, den ich festgenommen hatte.«

Ich unterbrach ihn und fragte: »In welchem Trakt wart ihr?«

»In Trakt drei war das…«

»OK, erzĂ€hl’ weiter…«

»Wir warteten bis die Ärzte vorbeikamen und nahmen sie fest. Es waren zwei junge Frauen: eine Ärztin und eine Assistentin. Ich erklĂ€rte ihnen, dass sie nichts zu befĂŒrchten hatten, wenn sie tun wĂŒrden, was ich sagte. Mir war unwohl dabei, die beiden Frauen dort festzuhalten, doch sie waren die einzige Garantie gegen die StĂŒrmung«, erklĂ€rte er mir. »Ich beeilte mich, den anderen Gefangenen aufzuschließen und sagte ihnen, sie sollten mit Zeitungspapier und Matratzen alle Fenster des Trakts dichtmachen. Die Direktion hatte inzwischen mitbekommen, was los war und uns den Strom abgestellt. Sie forderten uns auf, die Geiseln frei zu lassen. Ich sagte nein; nur unter der Bedingung der Verlegung meines Freundes aus Trakt sieben, und der von Zamoro DurĂĄn, Ortiz JimĂ©nez, Maya Martos und den anderen unter den Sonderbedingungen in Herrera de La Mancha, und dass ihnen die Verlegung in andere Anstalten garantiert wĂŒrde. Außerdem gab ich ihnen eine Liste mit einer Reihe an Forderungen, unter anderem das Ende der Misshandlungen in den spanischen GefĂ€ngnissen und die Freilassung Sterbenskranker.«

»Das ist sehr gut, wir sollten das alle öfter machen.«

»Schlussendlich fanden sich ein Inspektor der Generaldirektion und Jiménez de Parga ein.«

»Und wer ist das?«

»Ein Idiot, er ist SekretĂ€r des Defensor del Pueblo. Ich las ihnen die Forderungen vor, die ganze Geschichte, du weißt…«

»Ja, aber was ist schließlich passiert?«

»Wir erreichten, dass das Ganze auf Radio Nacional gesendet wurde und dass sie Juanito aus der sieben herausholten, was nicht wenig ist, findest du nicht?«

»Absolut, das war eine schöne Geste…« sprach ich aus.

»Ja, das war es.«

Es war schwierig, echte Freundschaft in Haft zu beobachten, doch wenn sie auftrat, konnten enorme GefĂŒhle daraus entstehen, die die Freunde bis zum bitteren Ende zusammenschweißte. Geschichten wie diese begeisterten mich. Das GefĂ€ngnis barg nicht nur WĂŒstlinge. Es gab wahrhaftige Menschen; Menschen des Worts, ehrliche Menschen mit ihren Prinzipien, MillionĂ€re der WĂŒrde, des Stolzes und der Rebellion. Doch im Allgemeinen herrschte zwischen den Gefangenen Kameradschaft, nicht Freundschaft; die war den Herzen vorbehalten, die echter Liebe fĂ€hig waren, und nur denen.

Die Verhaftung derer, die mir hĂ€tten helfen können, aus dem GefĂ€ngnis zu fliehen, schĂŒchterte mich nicht ein. Ich war nach wie vor entschlossen auszubrechen und wĂŒrde jede Gelegenheit nutzen, solange meine Gesundheit es zuließ und mir Kraft blieb. Ich hatte den Termin fĂŒr einen Prozess in La Coruña mitgeteilt bekommen, im Monat September. Dort wĂŒrde ich etwas versuchen; inzwischen wollte ich mich in Form bringen.

Im MĂ€rz verlegte man mich wegen guter FĂŒhrung nach Trakt zwei. Dort traf ich meinen Freund Bolas wieder. An einem jener Tage tötete ETA einen Schließer in der Anstalt Basauri in Bilbao mit einem Kopfschuss, als Repressalie fĂŒr die schlechte Behandlung, die einige politische Gefangene in Haft erhielten. Daraufhin entschlossen sich die Schließer, in der Mehrheit Mitglieder der Gewerkschaft CESIF, in allen Anstalten in Streik zu treten. Das wĂŒrde Chaos bedeuten. Wir hatten davor etwas Angst, denn ihr Recht auf Streik ausĂŒbende Schließer wĂŒrden uns nicht auf den Hof hinausbegleiten, nicht in die Duschen, zu den Besuchsterminen und so weiter. Zwei Tage spĂ€ter begannen die Schließer zu streiken. In Daroca brach aus, was sich schon vor langer Zeit zu entwickeln begonnen hatte: Gewalt.

Mein Freund Bolas kam zu mir.

»José, wir gehen aufs Dach, kommst du mit?«

»Jetzt gleich?« fragte ich ĂŒberrascht.

»Klar, heute Vormittag beginnt der Streik und sie werden uns nicht mehr auf den Hof lassen.«

»Wer ist noch alles dabei?«

»Auf unserem Hof alle.«

»Na dann los, aber ihr mĂŒsst hochkommen, um uns die Zellen zu öffnen.«

Die anderen Gefangenen machten ohne Ausnahme mit und der Aufstand begann. Einer nach dem anderen kletterten die HĂ€ftlinge, die sich auf dem Hof befanden, auf das Dach, unter den verblĂŒfften Blicken der Schließer und der Guardias Civiles. Die Trakte waren in zwei Abteilungen aufgeteilt und hatten verschlossene Dachfenster, durch die Tageslicht auf die GĂ€nge fiel. Eine Gruppe mit Messern und Eisenstangen bewaffneter Genossen schaffte es, eines dieser Fenster zu zerschlagen und in den Trakt einzudringen. Sie rissen Eisenstangen vom Dach ab und brachen damit unsere ZellentĂŒren auf. Befreit gingen wir in Gruppen in die Trakte eins, drei und vier, wo wir die restlichen Gefangenen herausließen, die bei der Revolte mitmachen wollten. Unter ihnen befanden sich Ávila Navas und Juan JosĂ© Garfia RodrĂ­guez. Eine Stunde spĂ€ter bot die Anstalt Daroca einen verheerenden Anblick. Die elektrischen Leitungen waren abgerissen, die Laternen kaputtgeschlagen, die Zellen praktisch zerstört, genau wie die Solarzellen, die Economatos, WerkstĂ€tten usw. Siebzig Gefangene liefen von Trakt zu Trakt, bewaffnet mit Messern und Eisenstangen. Die Guardia Civil wartete bewaffnet mit KnĂŒppeln und Gewehren auf den Moment zum Einschreiten. Dieses Chaos gab zusammen mit den RauchsĂ€ulen, die von brennenden Matratzen an verschiedenen Ecken des Dachs ausgingen, ein apokalyptisches Bild ab.

Die Nachricht durchlief alle Anstalten ĂŒber die Medien. Nanclares de Oca, CĂĄceres 2, AlcalĂĄ-Meco und Foncalent schlossen sich uns an. Die Verwaltung musste auf die SicherheitskrĂ€fte des Staates zurĂŒckgreifen, um diese Lawine zu aufzuhalten.

Mit scharfen MPs und Gewehren mit Gummimunition kam der Sturmangriff der Guardia Civil ĂŒber uns. Sie tauchten plötzlich auf und schossen auf alles, was sich bewegte. Sie zwangen uns zum RĂŒckzug. Einige gingen in die Trakte hinunter; wir anderen stiegen auf die höchsten DĂ€cher und verschanzten uns. Wir deckten uns mit Matratzen vor den Gummigeschossen und Rauchgranaten, die ĂŒber unsere Köpfe flogen, und beantworteten von dort aus den Angriff, indem wir schwere GegenstĂ€nde hinunter warfen. Allerdings beschossen sie uns mit so viel Material, dass wir die ganze Zeit flach auf dem Dach liegen mussten. Es gab einen Moment der Panik, als es schien, das Dach wĂŒrde durchbrechen; Wir mussten vorsichtig sein und keine ĂŒbertriebenen Bewegungen machen, sonst wĂŒrde die leichte Dachpappe brechen. WĂ€hrend alles dies geschah, hörte ich Bolas rufen:

»Eh, JosĂ©…! JosĂ©!«

Ich hob den Kopf leicht an und blickte in seine Richtung. Er lag auf dem Dach, und in seinem Gesicht stand ein Ausdruck von Schmerz, ich vermutete, er war von einem Gummigeschoss getroffen worden. Ich stand schnell auf und rannte ĂŒber die Körper anderer Genossen hinweg bis zu seiner Position. Eine Rauchgranate flog pfeifend an meinem Kopf vorbei.

»Was ist passiert?«

»Ein Geschoss, ich kann kaum atmen…«

»Tut es dir sehr weh?«

»Ja.«

Ich ĂŒberdachte die Situation. Wir waren verloren und das Aufgeben war nur eine Frage der Zeit. Ich stand mit erhobenen Armen auf und schrie:

»Nicht schießen, nicht schießen…«

Die Guardias Civiles hielten inne. Der befehlshabende Offizier ordnete Feuerpause an und wandte sich an mich:

»Was willst du?«

»Ich habe hier einen verletzten Genossen, er ist am Ersticken. Ich will ihn runterbringen, damit er behandelt wird; ich glaube, er hat ein paar Rippen gebrochen.«

»In Ordnung, doch nur, wenn ihr alle runterkommt, einverstanden?« Er erpresste mich.

Ich besprach mich mit den Genossen, und sie waren damit einverstanden, den Aufstand zu beenden. Wir vereinbarten, dass ich als Erster hinuntergehen wĂŒrde, um zu sehen, was passiert.

»OK, wir geben auf«, rief ich ihm zu. »Aber ihr mĂŒsst uns garantieren, dass ihr niemanden verprĂŒgelt.«

»Du hast mein Wort, mein Junge.«

Ich hob meinen Freund an der Schulter hoch und brachte ihn bis zur Dachkante. Von dort stieg ich hinunter und schaffte es mit Hilfe anderer Gefangener, Bolas herunterzuholen. GegenĂŒber die Gruppe Guardias Civiles, die Gewehre im Anschlag. Ich hatte Schiss.

»Alles klar, jetzt die anderen«, forderte uns der Offizier auf. Die anderen machten sich an den Abstieg. Alles war zu Ende.

GlĂŒcklicherweise hatte JironĂ©s nichts weiter Schlimmes, nur ein HĂ€matom in der Brust vom Aufprall des Gummigeschosses. Sie steckten uns in Gruppen in die Zellen von Trakt fĂŒnf. Alle aufstĂ€ndischen Gefangenen waren schon ĂŒberwĂ€ltigt und wieder eingesperrt worden. Wir waren die letzten. Die Guardia Civil hielt ihr Wort, die Schließer aber ließen sich ihrerseits so richtig an den Gefangenen aus, die Mehrheit wurde zusammengeschlagen. Ich war bis zu diesem Zeitpunkt von PrĂŒgel verschont geblieben, wusste aber, dass sie mir frĂŒher oder spĂ€ter einen Besuch abstatten wĂŒrden. Da gab es keinen Zweifel, es war die ĂŒbliche Methode.

Als sie die Anstalt wieder unter ihrer Kontrolle hatten, begann die Selektion der fĂŒr RĂ€delsfĂŒhrer des Aufstands gehaltenen Gefangenen. Schlussendlich ließen sie nur fĂŒnfzehn Gefangene in Trakt fĂŒnf, darunter Ávila Navas, JironĂ©s, Julepe, Anxo, ich und andere aufstĂ€ndische Genossen. Doch nur fĂŒr el Niño und Julepe beantragte man die Verlegung ins GefĂ€ngnis von Herrera de La Mancha. Beide waren ungerechterweise zu den Verantwortlichen fĂŒr jenen Aufruhr gemacht worden. Einmal mehr strafte die Verwaltung willkĂŒrlich, ihr war jede Ausrede recht, um sich an denjenigen zu rĂ€chen, die ihnen Scherereien verursachten und die störten.

Die Guardia Civil war wĂ€hrend der Streiktage fĂŒr die Anstalt verantwortlich. Sie teilten uns das Essen aus, mit Gewehren, geladen mit Gummigeschossen, Schilden und Schlagstöcken, bereit, uns bei der geringsten verdĂ€chtigen Geste zu Brei zu schlagen. Die ersten Tage ließen sie niemanden auf den Hof, gaben uns keine BettwĂ€sche und Decken und ließen uns nicht duschen. Doch schließlich normalisierte sich die Situation und wir bekamen Zugang zu unserer Habe, zum Hof und den Duschen. Lange Tage der Isolation warteten auf uns.

Eines nachts kamen mehrere Schließer zu mir, bewaffnet mit KnĂŒppeln. Sie öffneten die ZellentĂŒr.

»TarrĂ­o, ziehen Sie sich aus und kommen Sie auf den Gang, wir mĂŒssen Sie durchsuchen.«

Nach dem Ausziehen ging ich auf den Flur hinaus und stellte mich mit den Armen an die Wand. Mit den HÀnden umklammerten sie ihre Schlagstöcke.

»Machen Sie die Beine breit«, befahl mir einer, den wir La Gitana nannten.

Ich gehorchte.

»Noch weiter, los!«

Ich gehorchte wieder. Dann regnete es eine Reihe KnĂŒppelhiebe, einer davon zwischen die Beine. Ich hielt den Schauer so gut ich konnte aus. Als sie von mir abließen, ging ich zurĂŒck in die Zelle. Jene Aktion wiederholte sich an den folgenden Tagen regelmĂ€ĂŸig bei diversen Durchsuchungen anderer Mitgefangener. Es war Teil der Spielregeln, ein WĂŒrfelspiel mit der Macht, von vornherein verloren. Im GefĂ€ngnis ist der Gefangene weniger wert als eine Kakerlake; er ist nur eine Nummer, ein Paket. Sie konnten mit einem machen, wozu auch immer sie Lust hatten. Wer konnte es sehen? Wer wĂŒrde das filmen? Wie wĂŒrde ein Gefangener belegen, dass er misshandelt worden war? Und falls er es belegen konnte, wer wĂŒrde ihm zuhören? Die Strafvollstreckungsrichter waren mehr- heitlich Teil der Verwaltung. Die gelehrte Justiz war dem Umerziehungssystem gegenĂŒber höchst nachsichtig, was sich klar an den hunderten von Verfahren erkennen ließ, die auf von Gefangenen erstatteten Anzeigen beruhten und zu deren Nachteil ausgingen oder eingestellt wurden.

Am 30. versetzte eine gute Nachricht den Trakt in Aufregung. Mehrere Stunden nachdem die Guardia Civil ihn zur Überstellung nach Herrera de La Mancha abgeholt hatte, war Javier Ávila Navas zum zweiten Mal erfolgreich ausgebrochen, durch einen Durchbruch im Boden des Gefangenentransporters, welcher mittels mehrerer SĂ€gen geöffnet worden war. Wir begrĂŒĂŸten diese Nachricht mit Jubel und Applaus und wĂŒnschten ihm viel GlĂŒck.

Im Monat Mai endete unsere Bestrafung, und man holte uns aus der Isolation. Wir kamen nach Trakt eins, wo die Genossen uns mit großer Freude begrĂŒĂŸten. Wir gingen wieder begleitet und in Gruppen hinaus, womit der GefĂ€ngnispuls wieder normal war. Ich freundete mich mit Izquierdo Trancho an, einem StrĂ€fling aus LeĂłn, der ausgezeichnete menschliche QualitĂ€ten besaß. Immer gingen wir zusammen spazieren. Wie ich war er ein Ausbrecher, wir sprachen dieselbe Sprache. Wir entschlossen uns dazu, einige draußen in Freiheit verĂŒbte DiebstĂ€hle zu gestehen, damit sie uns ins Gericht brĂ€chten und wir zusammen einen Versuch machen konnten. Wir wollten alles auf eine Karte setzen.

Ich organisierte mehrere Arbeitsniederlegungen, bei denen die Mehrheit der Gefangenen aus Trakt eins mitmachte. Wir ließen es sein, den Trakt zu putzen und verteilten kein Essen mehr. Wir riefen einen vollstĂ€ndigen Streik aus. Der Direktor wollte mich sehen, in Begleitung eines Dienstleiters und mehrerer Schließer.

»TarrĂ­o, packen Sie ihre Sachen, Sie kommen wieder in Isolation«, kĂŒndigte er mir an.

»Ich?« fragte ich ihn, mich dumm stellend, »Aber ich habe doch gar nichts gemacht«, fĂŒgte ich noch zynisch hinzu.

»Sie haben nie etwas gemacht! Los jetzt…«

Ich rĂ€umte meine Sachen in ein paar TĂŒten und ging ĂŒber die Flure der Abteilung bis nach Trakt fĂŒnf. Die Gefangenen riefen mir von ihren ZellentĂŒren aus hinterher:

»He, Che, wo bringen sie dich hin?«

»In die Isolation. Sagt Trancho Bescheid, OK?«

Verschiedene Beschimpfungen drangen durch die TĂŒren.

»Arschlöcher, Schweine, Hurensöhne…«

Wir fĂŒhlten uns durch die jĂŒngsten Geschehnisse sehr einig, eine außerordentliche Kameradschaft.

In Trakt fĂŒnf wiesen sie mir eine Zelle zu. Der Direktor sprach zu mir in autoritĂ€rem Ton:

»Hier bleiben Sie. Und Sie haben Bedingungen der ersten Phase. Sie werden dieselben Rechte haben wie bis jetzt, doch Sie werden alleine auf den Hof gehen und sind von den anderen getrennt, bis Sie lernen, sich wie eine zivilisierte Person zu benehmen, und nicht wie ein Wilder.«

»Machen Sie, was sie wollen, doch ich bezweifle, dass Sie etwas damit erreichen.«

»Das werden wir schon sehen, Tarrío.«

Nachdem sie das Gitter und die ZellentĂŒr geschlossen hatten, holte ich BĂŒcher aus meinen TĂŒten, BettwĂ€sche, Decken und ein Radio, und machte das Bett. Ich legte mich darauf, zĂŒndete mir eine Zigarette an und fing an, den King Lear von Shakespeare zu lesen, der mich sehr fesselte. Seit nunmehr drei Jahren befand ich mich in Haft stĂ€ndiger Isolation unterworfen, ich hatte die Angst vor solcher Strafe verloren, und vor anderen Strafmaßnahmen auch, die die Direktion einsetzen wollte, um mich zu erpressen und zu beherrschen, jeden Tag. Das GefĂ€ngnis jagte mir keine Angst mehr ein. Ich verfolgte meine Projekte und wartete nur auf deren Reife, nichts weiter. Die Strafen wĂŒrden mich nicht davon abhalten.

Zwei Wochen spĂ€ter holten sie mich dort heraus und ich kam zurĂŒck nach Trakt eins, wo Ruhe herrschte. Ich begann eine Freundschaft mit Juan JosĂ© Garfia RodrĂ­guez, einem bekannten Banditen aus Valladolid, und dank ihm bekam ich einen neuen Po- sten im Economato, den wir nun beide zusammen fĂŒhrten. Wir verbrachten den ganzen Tag mit Plaudereien ĂŒber AusbrĂŒche und mit Schachspielen; wir nutzten auch den Sportraum, der endlich im Trakt eingerichtet worden war. Aus Bequemlichkeit fand ich mein gutes Benehmen wieder. Juanjo erzĂ€hlte mir seine Geschichte. Sie hatten ihn in Valladolid nach einer Schießerei verhaftet, in der zwei Polizisten gestorben und einer verletzt worden waren. Sein Bruder Carlos hatte im Verlauf des Schusswechsels auch mehrere Kugeln abbekommen. Er stand vor einer Strafe von 112 Jahren GefĂ€ngnis, seine einzige Hoffnung war die Flucht. Er hatte es einmal geschafft, aus dem GerichtsgebĂ€ude von Las Palmas zu flĂŒchten. Doch er wurde beim Betreten eines GebĂ€udes erkannt und ein paar Stunden nach seiner Flucht gefasst. Jetzt wartete er auf seine Gelegenheit. Eine Gelegenheit, die einige Jahre spĂ€ter kommen und die ihn zu Spaniens Staatsfeind Nummer Eins machen sollte.

Im August erhielt ich Besuch von meiner Mutter und meinen Geschwistern. Sie hatten 1.500 Kilometer zurĂŒckgelegt, um mich zu besuchen, und diese Schweine wollten uns nur eine halbe Stunde zum Reden zugestehen, durch eine dreckige Plexiglasscheibe. Ich war stinksauer.

»Hallo, mein Sohn«, grĂŒĂŸte mich die unbestrittene Königin meines Herzens.

»Hallo Mutter, wie geht es dir?«

»Na ja, ziemlich mĂŒde nach der langen Reise, doch es hat ja alles geklappt. Schau, das ist dein Bruder Marcos!«sagte sie mir und hob ihn hoch auf den Stuhl.

Ich winkte ihm zu, und er lĂ€chelte schĂŒchtern. Es war das erste Mal, dass ich meinen kleinen Bruder sah. Ein SentimentalitĂ€tsanfall ĂŒberkam mich, doch ich konnte mich beherrschen. Ich spielte mit dem Kleinen durch die Scheibe.

»Mein Sohn, was hast du gemacht? Der Direktor ist auf mich zugekommen und hat mir erzÀhlt, du machst ihm viele Probleme.«

»Hör’ nicht auf ihn, Mutter. Ein Mann, der nicht erlaubt, dass wir uns umarmen nach so vielen Jahren, und der uns nur dreißig Minuten Besuchszeit gibt nach der langen Reise, ist nicht der geeignetste, um mir Lektionen in gutem Benehmen zu erteilen.«

»Na, ist egal, aber wie geht es dir?«

»Gut.«

»Ich weiß nicht, ich finde, du siehst gestresst aus.«

»Das ist, weil dieses Arschloch mich ankotzt…«

Wir redeten weiter. Ich begrĂŒĂŸte meine Geschwister und Antonio, den Ehemann meiner Mutter, ein Freund von mir, ein sehr anstĂ€ndiger Mensch. Sie waren gekommen, um mich zu sehen, und danach wĂŒrden sie nach Galizien fahren, um den Familienurlaub dort zu verbringen. Die vorgeschriebenen dreißig Minuten Besuchszeit verstrichen, und wir verabschiedeten uns mit einem LĂ€cheln, das die Traurigkeit ĂŒberdecken wollte, die diese Situation uns bereitete. Jener Schmerz im Gesicht meiner Mutter war die wirkliche Strafe, und nicht das GefĂ€ngnis. Ich sagte ihr nichts von meiner Krankheit.

Im September wĂŒrde ich in die Anstalt von La Coruña verlegt werden. Dieser Wechsel wĂŒrde mir eine Chance zum Ausbruch bieten. Ich wĂŒrde versuchen, die Kenntnisse, die ich von diesem GefĂ€ngnis hatte, fĂŒr die Flucht zu nutzen. Es begann fĂŒr mich der mĂŒhselige Weg in die Freiheit…

Zweiter Teil: Auf dem Weg in die Freiheit

»Wenn alle GefÀngnisse der

Welt alle ihre Gefangenen

freigelassen haben, weil man

keinen Grund findet,

sie nach dem Gesetz

einzusperren…«

GefÀngnis von La Coruña, September 1990

Um drei Uhr dreißig nachmittags hielt der Transporter der Guardia Civil vor dem GefĂ€ngnis von La Coruña. Ich fĂŒhlte mich mĂŒde und schwindelig von der Reise, wollte endlich aus diesem KĂ€fig heraus und wieder frische Luft atmen. Man holte uns in Handschellen heraus, paarweise, und wir nahmen unsere Decken aus dem Kofferraum, um uns dann, stĂ€ndig ĂŒberwacht von der Guardia Civil, in das Innere der Anstalt zu begeben. Dort in den Eingeweiden dieses alten GefĂ€ngnisses nahm man uns die Handschellen ab. Ich wurde von den ĂŒbrigen Gefangenen getrennt und einer vollstĂ€ndigen Durchsuchung unterzogen. Dann kam ich in den Isolationstrakt in der dritten Etage, den man »Bunker« getauft hatte. Ich verabschiedete mich mit einer freundschaftlichen Geste von denen, die meine ReisegefĂ€hrten gewesen waren.

Der Isolationstrakt war vor Kurzem auf derselben Etage wie die Abteilung fĂŒr Jugendliche gebaut worden, gegenĂŒber den Besuchszellen, der Krankenstation und der Frauenabteilung. Es war der sicherste Ort der Anstalt, denn er befand sich in dem fĂŒr das Klettern unzugĂ€nglichsten Bereich. Dieses Mal wĂŒrde man mir es nicht leicht machen. Sie wiesen mir eine der sechs Zellen zu, aus denen der Trakt bestand. Allein gelassen, legte ich mich auf die Matratze und schlief ein; ich war erschöpft.

Mehrere Stunden spĂ€ter wachte ich auf. Man schloss mir auf und ĂŒbergab mir TĂŒten mit Kleidung.

»TarrĂ­o«, sagte einer der Schließer, »Sie haben zwei Stunden Hofgang. Ich lasse Ihnen die Duschen offen, falls Sie duschen wollen.«

»Ich mĂŒsste im Economato einkaufen und Kaffee trinken«, antwortete ich ihm.

»In Ordnung, gleich kommt einer vom Economato und nimmt Ihre Bestellung auf.«

Ich zog mir einen Bademantel an, suchte saubere WĂ€sche zusammen, Seife und ein Handtuch, und ging auf den Hof, wo sich die Duschen befanden. Die Zellenfenster befanden sich nur einen Meter ĂŒber dem Fußboden. In einer der Zellen befand sich ein Mann. Ich ging auf sein Fenster zu, klopfte an die Scheibe und rief ihn.

»Hallo«, grĂŒĂŸte ich ihn, »wer bist du?«

»Ich heiße Javier, hast du vielleicht eine Zigarette?«

»Jetzt nicht, aber spÀter bringen sie mir welche aus dem Economato, ich gebe dir welche ab. Jetzt gehe ich erstmal duschen, spÀter reden wir weiter.«

Nach einer langen Dusche ging ich auf den Hof, wo Javier spazieren ging. Ich schloss mich ihm an. Ich stellte mich vor:

»Ich heiße JosĂ©, obwohl man mich hier mehr als Che kennt.«

»Ich habe von dir gehört.«

»Warum bist du hier?« fragte ich ihn.

»Eine Kugel mit Drogen fiel auf das GelÀnde und ich bin hingelaufen, um sie aufzusammeln.«

»Und der Guardia Civil?« wollte ich wissen.

»Ist nicht da. Der Wachturm ist im Umbau seit einigen Tagen…«

Super, dachte ich.

»Sag mal, warum gehst du so gekrĂŒmmt?«

»Das ist, weil sie mir alle vierzehn Tage eine Injektion Lagartil verpassen, dann lassen sie mich ĂŒber eine Woche liegen. Doch die Wirkung lĂ€sst nach.«

Sein Blick war leer. In seinen Augen konnte man den Beginn von VerrĂŒcktheit erkennen, eine fortgeschrittene geistige Umnachtung, die seine Persönlichkeit insgesamt ernsthaft in Mitleidenschaft zog. Man war daran, ihn in ein menschliches Wrack zu verwandeln, mit Injektionen und andauernder Isolierung. Dieser Mensch brauchte Hilfe und Gesellschaft, nicht Ketten und Isolation. Trotz meines reservierten und menschenscheuen, oft teilnahmslosen Charakters interessierte ich mich fĂŒr ihn und seinen Fall.

»Lass’ dir keine Injektionen mehr geben«, riet ich ihm.

»Ja klar«, er sah mir in die Augen, »einmal wollte ich mich weigern und sie verpassten sie mir mit Gewalt, nach einer Tracht PrĂŒgel.«

»Ich weiß nicht, Javier, doch wenn sie dir weiter dieses Zeug spritzen, landest du im Irrenhaus.«

»Ich weiß…«

Wir gingen jetzt jeden Tag zusammen auf den Hof. Ich gewöhnte ihn daran, mit mir zusammen Sport zu treiben, indem ich ihn an der Tenniswand herausforderte. Danach duschten wir und spazierten ĂŒber den Hof, tranken den ein oder anderen Kaffee, den man uns vom Economato herunter brachte. Meine Gesellschaft half ihm, und sein Gehirn begann normal zu funktionieren. Er erholte sich und fĂŒhrte geistesgegenwĂ€rtige Konversationen mit mir, jeden Tag.

Einige Tage nach meiner Ankunft in La Coruña erhielt ich Besuch von meinem Onkel Suso. Wir sahen uns in der Besuchszelle.

»Hallo Che, wie geht es dir?«

»Gut, und Chico?«

»Gestern habe ich ihn gesehen; er hat mir diesen Zettel fĂŒr dich mitgegeben«, antwortete er, holte ein StĂŒck Papier aus seiner Tasche und hielt es an die Scheibe, damit ich selbst lesen konnte:

»Lieber Freund: Ich habe ernste Probleme mit der Polizei, sie suchen mich wegen mehrerer ÜberfĂ€lle. Ich muss aus La Coruña fĂŒr einige Zeit verschwinden. Ich nehme die Waffen mit, ich werde sie brauchen. Ich habe deine Nachricht erhalten: Deine Bitte an mich muss eine Weile warten. Zur Zeit bin ich allein und ich habe Probleme. Sobald ich kompetente Leute an der Hand habe, die mir helfen, dich dort herauszuholen, kommen wir. Hab Vertrauen und Kraft. Wir werden es schaffen…«

Als ich das gelesen hatte, fĂŒhlte ich mich ein bisschen von ihm allein gelassen. Doch ich merkte, dass er es nicht so meinte, und dass er mich nach wie vor sehr schĂ€tzte. Er war nicht so unorganisiert, wie ich es gewohnt war, und er spielte nicht mit offenen Karten wenn er nicht sicher war, sein Ziel zu erreichen. Er kalkulierte die Risiken. Ich konnte ihm das nicht vorwerfen und auch nicht von ihm verlangen, sein Leben oder seine Freiheit fĂŒr mich aufs Spiel zu setzen, einfach so, obwohl ich es fĂŒr ihn getan hĂ€tte. Über allem stand unsere Freundschaft, auch ĂŒber meinem Egoismus, und das war es, was er mir mitteilte. Ich wĂŒnschte ihm GlĂŒck und gab ihm Anleitungen, damit er sich mit mir so bald wie möglich in Kontakt setzen konnte.

»Onkel, ich hoffe, euch zu Hause geht es allen gut. Gib Chico meine Nachricht und sag ihm, er soll auf sich aufpassen.«

»Uns geht es gut. Pass

»Sei unbesorgt.«

ZurĂŒck in der Zelle legte ich mich hin, um ĂŒber den Verlauf des Besuchs nachzudenken. Sobald er sich organisiert haben wĂŒrde, kĂ€me Chico, um mich herauszuholen, dessen war ich sicher. Ich erinnerte mich an Fragmente aus der Vergangenheit. Ich hatte ihn zweimal aus Internaten befreit, einmal in CĂĄceres und einmal in Logroño; ich erinnerte mich an die hunderte von Kilometern, die wir zusammen zurĂŒckgelegt hatten, auf der stĂ€ndigen Flucht, in die sich unser Leben verwandelt hatte, auf der Flucht zurĂŒck in die Straßen von La Coruña.

Oder als wir beide mit seinem Bruder Yves, mit Rolando, Julio El Carroña, JosĂ© MarĂ­a ExpĂłsito und anderen zusammen an einem Tunnel gearbeitet hatten, damals vor Jahren, in der Abteilung fĂŒr Jugendliche jener Haftanstalt. Wir waren nicht davor zurĂŒckgeschreckt, eines nachts dreihundert Meter ĂŒber ein Feld zu robben, bis zur Mauer des GefĂ€ngnishofs der Jugendlichen, und darĂŒber zwei in Zellophan eingewickelte Pakete zu werfen, die Meißel, Maßband, einen eisernen Vorschlaghammer ohne Stiel und einen Pickel enthielten. Falls sie uns ĂŒberrascht hĂ€tten, wĂ€re es schwierig gewesen, die Guardias Civiles davon zu ĂŒberzeugen, dass wir keine entlaufenen StrĂ€flinge waren. Einen Schritt weiter, und wir hĂ€tten uns eine Kugel eingefangen. Es ging jedoch alles gut; die Pakete landeten im Hof, wo sie ein Gefangener zu sich nahm und versteckte. Er hatte vorher einen Teil seines Fenstergitters durchgesĂ€gt. Obwohl der Tunnel schließlich wenige Meter vor der Fertigstellung entdeckt wurde, war es die MĂŒhe wert gewesen, es zu versuchen. Es war schön, einem gefangenen Menschen bei der Flucht zu helfen; das oder selbst zu fliehen, war die höchste Erfahrung, die ein libertĂ€rer Mensch machen konnte. Es war nicht anstĂ€ndig, einen Freund in einem Kerker verfaulen zu lassen, gezwungen, sich einer miserablen Behandlung zu unterwerfen.

Ich entschied mich schließlich, auf eigene Faust zu handeln und es ĂŒber den Wachturm in der dritten Etage zu versuchen, welcher sich laut Javier ja im Umbau befand. Ich wollte diese Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, und auch nicht dasitzen und darauf war- ten, dass jemand kommt, um mir die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Ich wĂŒrde fĂŒr mich selbst einstehen. Ich schickte Nachrichten an die Frauen, an die Jugendlichen und die ĂŒbrigen Abteilungen der Anstalt, damit sie fĂŒr mich die vier WachtĂŒrme des GelĂ€ndes beobachteten. Ich hatte Freunde und Freundinnen, die ohne weiteres dazu bereit waren. Durch die Fenster der dritten Etage, die zu dem Hof wiesen, auf den ich jeden Nachmittag hinausging, erreichten mich mehrere SĂ€tze BettwĂ€sche und Farbe im Ton der Fenstergitter. Auf die gleiche Weise erhielt ich mehrere FĂŒnftausender Geldscheine, die mir bei erfolgreicher Flucht sehr helfen wĂŒrden, fĂŒr die ersten Ausgaben. Ich verwahrte sie im Mastdarm, zusammen mit einem Paar SĂ€geblĂ€tter. Das Stilett ließ ich verschwinden. Das GefĂ€ngnis war ein harter Dschungel, wo man nur ohne grĂ¶ĂŸeren Schaden ĂŒberlebte, wenn man sich von allen möglichen Vorurteilen und Komplexen befreite.

Mein Stolz hing damals an der FĂ€higkeit durchzuhalten, bis ich es schaffen sollte zu fliehen. Ausbrechen war nicht leicht; es erforderte Aufopferung, Zeit und Kopfzerbrechen. Und GlĂŒck… viel GlĂŒck.

Eines Morgens bekam mein Freund Javier Probleme. Mehrere Schließer gingen in Begleitung des Arztes zu ihm, um ihm eine Injektion zu setzen, und wie wir es vereinbart hatten, weigerte er sich. Man drohte ihm damit, die Injektion zu erzwingen, und ich mischte mich ein.

»Was ist los, Javier?« fragte ich ihn und ging auf das SchließerhĂ€uschen auf dem Hof zu, wo er mit dem Arzt diskutierte.

»Sie wollen mir eine Spritze verpassen, und ich will nicht…«

»Hören Sie mal«, sagte ich zu dem Arzt, »dem Jungen geht es gut. Er macht seit einer Woche Sport mit mir und braucht diesen Mist nicht…«

»Halten Sie sich da raus, Tarrío. Der Arzt bin ich, und ich beurteile, ob er eine Injektion braucht oder nicht.«

Die Leichtigkeit, mit der dieser Bastard mit Nervenarzttitel ĂŒber die Gesundheit und das Leben meines Mitgefangenen entschied, machte mich wĂŒtend. Das war inakzeptabel.

»Sieh mal, du Schleimscheißer«, verkĂŒndete ich ihm durch das Fenster, »falls es dir einfallen sollte, unseren Trakt zu betreten, bringen wir dich um. Und das gilt auch fĂŒr euch«, fĂŒgte ich noch hinzu, mich an die Schließer wendend.

Sie kamen nicht herein, benachrichtigten aber den Dienstvorsteher, der seinerseits zu uns in den Trakt kam, um mit uns zu reden.

»Tarrío«, sagte er zu mir, »geht das schon wieder los?«

»Schau, weder ich noch meine Mitgefangenen haben uns mit jemandem angelegt, bis diese Typen kamen und damit drohten, ihm zwangsweise Spritzen zu setzen«, sagte ich zu ihm, auf den Arzt und die Schließer zeigend.

»Also, Javier, wollen Sie die Spritze oder nicht?« fragte er ihn.

»Nein, ich fĂŒhle mich gut ohne sie.«

Nach dieser BestĂ€tigung sprach der Dienstvorsteher mit dem Arzt, und jener ersetzte die Spritzen schließlich durch Beruhigungsmittel in Tablettenform. Wir hatten einen großen Schritt in Richtung auf seine Genesung getan.

Als wir am nĂ€chsten Tag ĂŒber den Hof spazierten, fielen gleichzeitig mehrere um Batterien gewickelte Nachrichten herunter, aus Richtung des Hofs der Frauenabteilung, welcher von dem unseren nur durch eine Mauer getrennt war. Einer der Schließer im WachhĂ€uschen forderte mich auf, sie ihm herauszugeben.

»Tarrío, geben Sie das her.«

Ich ging auf das HĂ€uschen zu, wickelte die Nachrichten vor seinen Augen auseinander und zeigte ihm die beschriebenen Zettel von Weitem.

»Sehen Sie, ich habe hier keine Drogen oder etwas anderes Verbotenes. Was den Inhalt der Nachrichten angeht: Der ist privat.«

»Geben Sie mir die Zettel«, er bestand darauf.

»Kommt nicht in Frage…«

Der Dienstvorsteher kam am nĂ€chsten Morgen zu mir, als ich mich in meiner Zelle befand. Er wies seine Kollegen an zu gehen, und man ließ uns allein. Er hieß Alberto und wir kannten uns schon seit langer Zeit.

»Sie Àndern sich nie, was, Tarrío?«

»Und Sie anscheinend auch nicht.«

»Was war da los, gestern mit dem Beamten?«

Ich zĂŒndete mir eine Zigarette an und antwortete:

»Nichts Schwerwiegendes. Es gibt da eine Frau, mit der ich Schriftkontakt habe. Und da man nicht erlaubt, dass wir uns besuchen, schreibe ich ihr also Nachrichten, und sie schreibt mir. Was ist schon dabei?«

»Es ist verboten«, sagte er, wÀhrend er sich flink eine Zigarette aus der Schachtel fingerte, »Gibst du mir Feuer?«

Ich gab ihm Feuer und antwortete:

»Schauen Sie, ich will ehrlich sein. Seit langer Zeit bin ich weg von Galizien und in eine Zelle gesperrt. Ich komme hierher, um meine Familie und meine Freunde zu sehen; um meine Ruhe zu haben, nichts weiter«, log ich ihn an, »Deshalb bitte ich Sie einfach, mich in Frieden zu lassen. Wenn Ihnen das mit den Nachrichten nicht passt, geben Sie uns einen Besuchstermin und fertig.«

»Wer ist die Frau?«

»Eine Freundin von mir.«

»Ich werde mit dem Direktor sprechen, damit ihr euch sehen dĂŒrft, aber ich will nicht, dass ihr weiter Nachrichten ĂŒber die Mauer werft, und ich will keine Respektlosigkeiten gegenĂŒber Schließern, einverstanden?«

»Ich wĂ€re Ihnen dankbar…«

Diesen Mittag nach dem Essen schickte der Direktor nach mir. Nach einer Durchsuchung wurde ich in sein BĂŒro gebracht.

»Mal sehen… was wollen Sie?« fragte er mich.

»Ich will einen Besuchstermin, und ich will in Ruhe gelassen werden.«

»Einen Besuchstermin, mit wem?«

»Trinidad Silva Iglesias.«

Er dachte einen Augenblick nach.

»Heute Nachmittag wird man Sie sich fĂŒr zwanzig Minuten in einer Besuchszelle sehen lassen. Und wenn Sie bis einen Tag vor Ihrer Verlegung Ruhe geben, gestatten wir Ihnen ein vis-a-vis von mehreren Stunden mit ihr. Vorher nicht.«

Er beabsichtigte, mich zu manipulieren und mein gutes Benehmen zu erpressen. Fortgeschrittene Psychologie fĂŒr Kinder.

»Das ist in Ordnung fĂŒr mich«, antwortete ich ihm.

Diesen Nachmittag redete ich zwanzig Minuten lang mit der Frau, wie man mir garantiert hatte. Sie war genauso schön wie damals, als wir zusammen waren; vielleicht etwas fĂŒlliger wegen der InaktivitĂ€t im GefĂ€ngnis. Es tat mir weh, sie hinter Gitter gefangen zu sehen.

»Hallo, du Schlawinerin!«

»Hallo! Wie geht es dir?«

»Wie du siehst, in Ketten, doch guten Mutes.«

»Das ist eine Überraschung, dass wir uns besuchen dĂŒrfen. Zu Anfang glaubte ich, es wĂŒrde vis-a-vis sein…«

Auf der anderen Seite der Besuchszelle lauschte eine Schließerin aufmerksam der Konversation. Auf meiner Seite, nah neben mir, tat ein Schließer dasselbe. Wie viele IntimitĂ€ten hatte er mit seiner Gegenwart vergewaltigt? Wie konnte man derart kleinlich sein und keinerlei Skrupel und Scham empfinden, um von Respekt gar nicht zu reden, und dort sitzen bleiben, sich nicht entfernen? Ohne Zweifel war das mit der Zeit und der Praxis am Ende Teil ihrer Schließerseele.

»TarrĂ­o, kommen Sie zum Schluss. Die vorgeschriebene Zeit ist abgelaufen…«

»China, pass auf dich auf und viel GlĂŒck. GrĂŒĂŸe an Pili.«

»Pass auch du auf dich auf.«

Ein Kuss auf die Glasscheibe war der kalte Abschiedsgruß. Wie viele Lippen wie vieler MĂ€nner und Frauen hatten sich auf dieses dreckige Glas gedrĂŒckt, wie viele Botschaften der Liebe und Zuneigung? Jene Bedingungen fĂŒr fiktive Besuche waren erniedrigend, es war grausam. Was konnte schlecht daran sein, dass zwei Befreundete sich kĂŒssten? Was konnte schĂ€dlich daran sein, dass jene BĂŒrger, die Familienmitglieder in Haft besuchten, sie anfassen konnten, umarmen, kĂŒssen? Die Verwaltung verfĂŒgte ĂŒber ausreichende Mittel, um jene schmutzigen und vergitterten Kabinen in kleine SĂ€le umzubauen, wo die Gefangenen, ihre Familien und Freunde ihre EmotionalitĂ€t auf eine menschlichere Art und Weise entwickeln könnten, in wöchentlichen vis-a-vis– Besuchen. Verdienten die Familien der Gefangenen als steuerzahlende BĂŒrger nicht erst recht eine bessere Behandlung, wĂŒrdiger, menschlicher?

Ich begann die Vorbereitungen zu treffen. Niemand hatte es jemals geschafft, jene Mauern zu erklettern. Einmal hatte ein Gefangener es versucht, doch beim Ersteigen des Dachs lösten sich die Ziegel und er fiel ins Leere. Obwohl er sich alle Knochen brach, ĂŒberlebte er den Aufschlag, was an ein Wunder grenzte. Vom Hof bis zum Dach waren es etwa dreißig Meter. Ich war körperlich in bester Form vom Gewichtheben in der Anstalt Daroca. Ich fand eine Stelle, von der ich glaubte, ich wĂŒrde bis dort hinauf klettern können, meine ganze Kraft wĂŒrde ich brauchen. Ich wollte es ĂŒber die Frauenabteilung versuchen. Sie hatten die Mauer im Hof hochgezogen, damit die MĂ€nner in der dritten Etage von den oberen Fenstern aus nicht auf die andere Seite sehen konnten. Jetzt endete die Mauer nur zwei Meter unterhalb des Dachs. Der kranke Eifer, mit dem die Verwaltung jede Beziehung zwischen mĂ€nnlichen und weiblichen Gefangenen zu verhindern suchte, hatte sie dazu gebracht, diese Mauer hochzuziehen, ĂŒber welche ich wiederum Zugang zum Dach bekommen konnte. Ich war fĂŒr die Hilfestellung dankbar.

Diese Nacht begann ich damit, einen der Gitterstreben meines Zellenfensters anzusĂ€gen. Mein Freund Javier ĂŒberwachte gleichzeitig die Fenster gegenĂŒber, wo sich die Krankenstation befand. Die Hilfe der anderen Gefangenen erwies sich immer wieder als unschĂ€tzbar. In zwei NĂ€chten sĂ€gte ich das Eisen durch. Trotz der tĂ€glichen Durchsuchungen, die bei mir stattfanden, stießen sie nicht auf die zersĂ€gte Stelle, wegen der Farbe, die mir die Genossen beschafft hatten. Danke!

Eigentlich hatte ich vor, das vis-a-vis abzuwarten und die Nacht darauf in Aktion zu treten. Aber ich traute dem Direktor nicht. Ich kannte die Methoden dieser Leute und fĂŒrchtete, nach dem Besuchstermin in eine andere Zelle verlegt zu werden oder dass die Bauarbeiten beendet sein wĂŒrden. Die Freiheit hatte unbedingte PrioritĂ€t, weshalb ich auf die sentimentale Seite verzichten musste. Ich dachte, ich wĂŒrde sie vielleicht nie wieder sehen…

Die Nacht des 15. September fiel ĂŒber das GefĂ€ngnis von La Coruña und lud verfĂŒhrerisch zur Flucht ein. Ich wĂŒrde bis vier Uhr abwarten, um den Gefangenen Zeit zu geben einzuschlafen, und den Guardias Civiles, vor Langweile einzudĂ€mmern. Um diese Zeit wĂŒrde es kalt sein, was sie dazu veranlassen sollte, sich in den WachhĂ€uschen aufzuhalten.

In der Zwischenzeit flocht ich ein Seil. Als es fertig war, feuchtete ich es an, um ihm grĂ¶ĂŸere WiderstandsfĂ€higkeit zu geben. Ich hoffte es hielt. Ich zog mir eine schwarze Sporthose und eine Sturmhaube ĂŒber, die mir beim SpĂ€hen ĂŒber die Dachkante nĂŒtzlich sein wĂŒrde. Man wĂŒrde mich im dunklen Bereich des Dachs nicht entdecken. Ich wickelte mir das Seil um den Leib. Um Punkt vier Uhr brach ich das Eisen aus dem Fenstergitter und kletterte nach draußen. Von diesem Moment an war ich physisch frei, ich hatte mich meiner Haft entzogen; und ich wĂŒrde es bleiben, bis zu dem Moment, in dem sie mich wieder in einen jener Kerker steckten. Ich ging zu Javiers Fenster, und nach einem festen HĂ€ndedruck ĂŒbergab ich ihm einige Fotos meiner Familie und eine Adresse, an die er sie schicken sollte.

Nach diesen Details begann ich mit dem Klettern. Ich stieg auf die Fensterbank des Wachturms und von dort auf dessen kleines Dach. Von da aus kletterte ich an der Mauer vor den Besuchszellen hĂ€ngend bis zum Dach einer kleinen Werkstatt neben der Krankenstation. Dann kletterte ich an einem Abflussrohr die Wand hinauf, von Fenster zu Fenster. Ich konzentrierte mich nur darauf, dort hinauf zu kommen, und versuchte, den Gedanken an einen Sturz zu unterdrĂŒcken. Am Fenster des dritten Stocks machte ich eine kurze Pause, hielt mich an dessen Gitter fest und holte Luft. Ich musste darauf vertrauen, dass es niemandem einfiel, das Fenster in diesem Moment zu öffnen und mich dort am Gitter hĂ€ngend zu finden. Einen Meter weiter das Rohr hinauf, und auf der Höhe der Mauer zog ich mich an ihr hinauf und ruhte noch einen Moment aus, rittlings auf der Mauer sitzend. Danach stellte ich mich auf die Mauer, mit einem Fuß hinter dem anderen, denn sie war nur einen Ziegelstein breit. In dieser Position reichte ich mit der Brust an die Dachkante. Ich machte nicht den Fehler, den der Gefangene gemacht hatte, der sich vor mir daran versucht hatte, jene WĂ€nde zu erklimmen, rĂ€umte einige Dachziegel zur Seite und legte so festen Untergrund frei, um mich aufzustĂŒtzen. Ich befĂŒhlte den Zement mit den Fingern und suchte die ideale Stelle um mich hochzuziehen. Das Dach fiel steil ab, was mir bewusst machte, dass ich herunterfallen wĂŒrde, wenn ich es beim ersten Versuch nicht schaffte. Die Mauer, auf der ich stand, war zu schmal. Ich beruhigte mich mit tiefen AtemzĂŒgen durch die Nase und holte Luft, um meine ganze Kraft auf den Sprung zu konzentrieren. Ich machte einen Satz und landete mit dem Magen oberhalb der Dachkante. FĂŒr einen Augenblick bemĂ€chtigte sich meiner eine schreckliche Angst, doch ich schaffte es, sie zu vergessen, nahm noch einmal Schwung und schaffte es, mit Hilfe der Ellenbogen endgĂŒltig hinauf zu kommen. Uff! Von unten hatte mein Genosse die ganze Kletterei verfolgt und winkte mit der Hand. Ich grĂŒĂŸte zurĂŒck.

Ich schlich ĂŒber das Dach der Frauenabteilung bis zum Dach des Trakts fĂŒr Jugendliche und die Isolation. Ich ließ mich auf das Dach der Werkstatt herab, gegenĂŒber des Wachturms, und stellte fest, dass der sich tatsĂ€chlich im Umbau befand und leer war. Die Sturmhaube warf ich auf den Hof, denn ĂŒber die DĂ€cher hatte ich es geschafft und wĂŒrde sie nicht mehr brauchen. Ich wickelte das Seil aus und wartete ab bis zum Wechsel der Wachschicht. Eine Zigarette rauchend sah ich auf die Stadt hinaus. Eine Menge Erinnerungen kamen mir hoch.

Um fĂŒnf fand der Wachwechsel statt. Ich gab ihnen noch eine Weile, bis sie anfingen, sich arglos zu langweilen, und bereitete mich auf das möglichst gerĂ€uschlose Abseilen vor. Ich fĂŒhrte das Seil ĂŒber einen Vorsprung, an dem der Stacheldraht angebracht war, den ich ĂŒberwinden musste, um hinab zu gelangen. Ich band es nicht fest, sondern schlang es ĂŒber den Vorsprung, wie man einen Faden durch ein Nadelöhr fĂŒhrt und hatte so ein doppeltes Seil. Auf diese Weise wĂŒrde ich es von unten mit einem Zug ablösen können. Ich ließ die Enden auf das GelĂ€nde hinunter fallen. Eine halbe Stunde spĂ€ter kletterte ich ĂŒber den Draht und ließ mich am doppelten Seil hinab bis auf den Boden ohne gesehen zu werden. Ich holte mit einem Ruck das Seil herunter und ĂŒberquerte das GelĂ€nde, eng an der Mauer entlang, unterhalb des unbesetzten Wachturms. An einem der Seilenden war ein aus mehreren großen Batterien gefertigtes Gewicht angebracht, welches ich ĂŒber das Metallgitter werfen musste. Ich wollte mich an beiden Seilenden hochziehen, so, wie ich auch herunter gekommen war. Vom Wachturm gegenĂŒber, von der anderen Ecke des GelĂ€ndes sah ein Guardia Civil nach draußen. An seiner Seite, an die Wand gelehnt, ruhte sein Sturmgewehr. Zu meiner Linken ging sein Kollege auf und ab, ohne meine Anwesenheit zu bemerken. Er war abgelenkt von der Musik aus dem Radio, das er zu seiner Unterhaltung dabeihatte. Ich warf das Seil ĂŒber das Gitter, packte beide Enden und begann flink daran hochzuklettern. Aber als ich das Metallgitter schon fast mit den HĂ€nden greifen konnte, gab ein Knoten des Seils nach und brach auf, und ich fiel hinab. Ich schaffte es, auf die FĂŒĂŸe zu fallen und es so vermied es so, mich zu verletzen, aber die Guardia Civil bemerkte mich und schlug Alarm.

»Eh, du da!« schrien sie mir von den TĂŒrmen aus zu und zielten mit ihren Waffen auf mich. »Bleib bloß stehen.«

Von der anderen Seite aus gab der Guardia Civil seinen Kollegen auf der Wache Bescheid. Ich hatte schon wieder verloren. Bald erschienen mehrere bewaffnete Guardias Civiles und nÀherten sich mir.

»Wirf dich auf den Bauch, die HĂ€nde auf den RĂŒcken«, wies mich einer an. Ich gehorchte.

Er warnte mich: »Lass dir keine krummen Sachen einfallen«, gab seine Pistole einem Kollegen und sagte zu ihm: »Wenn er irgendwas macht, schieß.«

Danach kam er zu mir und legte mir Handschellen an. Ich richtete mich mit seiner Hilfe auf und wurde in die RĂ€ume der Wache gebracht. ich fĂŒhlte mich erschöpft und niedergeschlagen. Mein starrer Blick auf den Zementfußboden gab meine Niederlage wieder.

Auf der Wache brachten sie mich in einen kleinen Raum und wiesen mich an, mich auf einen Stuhl zu setzen. Einer von ihnen fragte mich: »Bist du schon lange außerhalb deiner Zelle?«

»Nein«, log ich ihn an.

»Warst du allein?«

»Ja.«

Er sah mich direkt an und fragte nach meinem Namen. Ich sagte ihn: »Ich heiße JosĂ© TarrĂ­o GonzĂĄlez.«

Von draußen, durch die TĂŒren hindurch, hörte ich die Schließer aufgeregt mit den Guardias Civiles diskutieren. Sie wollten mich so schnell wie möglich zurĂŒck ins Innere des GefĂ€ngnisses bringen, wogegen sich die Guardia Civil verwahrte. Sie mussten mich in Gegenwart eines Anwalts verhören. Wir befanden uns in einem Rechtsstaat und es galten gewisse Gesetze… zumindest schien es so.

UngefĂ€hr um zehn Uhr morgens brachten sie mich ins Innere der Anstalt. Es eskortierten mich mehrere Guardias Civiles, meine HĂ€nde waren hinter dem RĂŒcken gefesselt. Eine hĂŒbsche Schließerin beobachtete erstaunt die Szene vom GefĂ€ngniseingang aus. Sie war dafĂŒr da, die Ausweise der Familienangehörigen einzusammeln, die kamen, um ihre in dieses absurde Universum des Bösen eingesperrten Lieben zu besuchen. Ich Spaßvogel grinste sie breit an, mir fiel nichts anderes ein.

Hinter den Sperrgittern wartete eine Gruppe Schließer angefĂŒhrt vom wachhabenden Dienstleiter auf meine Ankunft. Sie nahmen mir die Fesseln ab und behandelten mich zu meinem Erstaunen höflich und korrekt:

»Gut, TarrĂ­o, Sie haben verloren. Wir werden uns also weitere Fluchtversuche aus dem Kopf schlagen und uns die Zeit, die uns hier noch bleibt, ruhig verhalten. Wir werden Ihnen einige Ihrer Sachen wiedergeben und anderes einbehalten. Du weißt, wie immer«, verkĂŒndete mir einer der Schließer, um dann noch hinzuzufĂŒgen: »Ich habe Befehl, Sie zu keinem Zeitpunkt auf den Hof zu lassen, weshalb Sie vierundzwanzig Stunden in Ihrer Zelle bleiben werden.«

»Nicht in meiner Zelle, in einer der Ihren wird es sein…« antwortete ich ihm und klĂ€rte dieses MissverstĂ€ndnis auf, das war mir wichtig.

Es war nicht meine Zelle, sondern eine Zelle des Staates und der Gesellschaft, in der man mir meine Freiheit und meine Rechte gegen meinen Willen entzog.

»OK, Tarrío, wir lassen es damit gut sein, einverstanden?«

»Von mir aus, ja.«

In Wirklichkeit waren meine Absichten ganz andere als ihre PlĂ€ne. Ich hatte beobachtet, dass der Eingang in die Frauenabteilung nicht mit einer Schließerin besetzt war und offen stand. Die TĂŒr fĂŒhrte auf das GelĂ€nde gegenĂŒber des WachdienstgebĂ€udes und sie lag genau neben dem Besucherbereich, und das hieß, dass ich, falls ich es bis dorthin schaffte, versuchen konnte, das GefĂ€ngnis zu verlassen, unter die Familienangehörigen gemischt, die mich nicht verraten wĂŒrden. Daran dachte ich, als ich wieder in den Bunker gebracht wurde, den sie eigens gerĂ€umt hatten, und ich blieb allein. Sie ließen mich in die Zelle, die man mir angewiesen hatte, ein paar Decken, ein Radio und einige BĂŒcher mitnehmen.

Ich war wieder isoliert, in meiner gewohnten Umgebung. Ich legte mich auf die Matratze und blickte an die weiße Decke mit einer bis zum Überdruss wiederholten Geste, eine Sturmflut von Gedanken im Kopf. Über mir befand sich die Galerie der Ă€lteren Strafgefangenen. Das hieß, ich konnte ĂŒber die Fenster Dinge in Empfang nehmen, mittels BindfĂ€den. Ich brauchte ein Messer. Sonst nichts. Damit wĂŒrde ich den Schließer im Trakt in Schach halten, vielleicht sogar mehrere, denn wahrscheinlich wĂŒrde nie einer alleine kommen, um meine Zelle zu öffnen, doch das sollte kein Problem bedeuten.

Vor einem Messer, vor einer höheren Gewalt, hörten die TotschlĂ€ger des Staats auf, TotschlĂ€ger zu sein, wurden zu bescheidenen und sehr menschlichen Wesen. Nein, die wĂŒrden nicht das Problem sein. Die Schließer ĂŒberwĂ€ltigt und gefesselt in den Zellen, wĂŒrde ich mit den Decken ein Seil knĂŒpfen und in den Hof der Frauenabteilung springen; ich wĂŒrde die dortigen Schließerinnen ĂŒberwĂ€ltigen, eine oder maximal zwei, und sie mit den anderen Gefangenen einsperren, falls eine etwas Dummes machen oder man spĂ€ter andere der Kollaboration mit mir anklagen wollte. Das wĂŒrde uns allen Probleme ersparen. Ich wĂŒrde die SchlĂŒssel an mich nehmen und unter den Besuch gemischt hinausgehen, denn es wĂ€re Vormittag, wenn alle dreißig Minuten ein Besuch stattfindet. Falls es draußen auf dem GelĂ€nde schwierig werden sollte, nĂ€hme ich die hĂŒbsche Schließerin am Eingang als Geisel. Hatten die mich etwa mit RĂŒcksicht behandelt? War ich nicht selbst Geisel der Beamten? Ich wĂŒrde die Gefangenschaft nie akzeptieren und diese Einstellung konfrontierte uns auf ewig. Die Idee war akzeptabel, gefiel mir und ich entschied mich, sie so schnell wie möglich in die Tat umzusetzen.

Zwei Tage spĂ€ter bat ich die andere Galerie um ein Messer. Am selben Nachmittag schickten sie es mir. Sie warfen es in eine Sportjacke gewickelt in den Hof, von einem Fenster aus. Ich musste es nur noch holen. Mit einem Haken an einem langen Faden wollte ich die Jacke hochfischen. Damit war ich beschĂ€ftigt, als sich die TĂŒr zum Hof öffnete. Eine Gruppe Schließer nahm Jacke und Messer an sich. Gleichzeitig kamen zahlreiche Schließer in meine Zelle und legten mir Handschellen an.

»Diesmal bist du zu weit gegangen, TarrĂ­o«, sagte der Chefschließer mit drohender Stimme.

»Aber, was ist denn los?« fragte ich nutzloserweise.

»Spiel dich nicht auf, TarrĂ­o. Man hat dir ein Messer aus dem Galeriefenster geworfen, wir haben gesehen, wie du es holen wolltest, und da du ja allein im Trakt bist, ist klar, gegen wen du es gebrauchen wolltest«, erklĂ€rte mir einer von ihnen mit einer Urteilskraft, die mich bei so einem Typen erstaunte. Man brachte mich in die Isolation fĂŒr Jugendstrafgefangene, steckte mich in eine Zelle, die Nummer Vier, gegenĂŒber der WachtĂŒrme der Guardia Civil. Dort schlossen sie mir die HĂ€nde an das Bett und machten mich bewegungsunfĂ€hig.

»So wirst du bleiben bis du von hier fortkommst…«

Um mich nach dorthin zu verlegen, hatten sie vorher den Trakt gerĂ€umt und die dort Einsitzenden herausgeholt. Sie wollten mich unbedingt alleine haben, obwohl ich in der Tat auch so schon einen großen Einfluss auf die anderen Gefangenen ausĂŒbte. Sie wollten jeden Kontakt zu ihnen verhindern. Ich bereitete mich auf die Nacht vor. Diese Stellung bereitete mir große Schmerzen in den Armen, doch das lehrte mich, die Dinge bei anderer Gelegenheit besser zu machen. Das war Teil des Spiels. Ich schlief die ganze Nacht nicht. Viele Dinge sausen einem in solchen Momenten durch den Kopf.

Am nĂ€chsten Tag wurde ich in das Gericht von La Coruña gebracht, wo gegen mich wegen der Straftat des versuchten Haftentzugs verhandelt wurde. Im Lauf der Verhandlung informierte ich die Richterin ĂŒber meine derzeitige Situation im GefĂ€ngnis, doch sie hörte nicht zu und achtete nicht auf meine BeitrĂ€ge. Ich fuhr sie wĂŒtend an:

»Du Hundstochter! Das verstehst du also unter Gerechtigkeit? Ihr schickt die Leute munter ins GefĂ€ngnis, im Namen der Gerechtigkeit, und spĂ€ter vertuscht ihr die Folter und die UnregelmĂ€ĂŸigkeiten, die dort vorkommen. Ihr prostituiert euren Beruf der WillkĂŒr der Behörden. Und du willst ĂŒber mich richten? Sie sind bestimmt eine Frigide mit Minderwertigkeitskomplexen, was sich auf ihr PygmĂ€engehirn auswirkt, mit dem Sie geschlagen sind…«

Meine Worte riefen Unruhe im Saal hervor. Die Richterin war rot geworden. Sicherlich war sie an die schĂ€bige UnterwĂŒrfigkeit der meisten StraffĂ€lligen gewöhnt, die tĂ€glich hier vorgefĂŒhrt wurden, um verhandelt zu werden, meine ErklĂ€rung hatte sie beleidigt und schwer angegriffen.

»FĂŒhren Sie ihn aus dem Saal«, brachte sie hervor, die Wut zurĂŒckhaltend. »Und Sie wissen«, fĂŒgte sie an mich gewandt hinzu, »dass gegen Sie ein Verfahren wegen Missachtung des Gerichts eröffnet wird.«

»Señora!« antwortete ich ihr schon von der TĂŒr aus, »mit ihren Urteilen wisch’ ich mir den Arsch ab, glauben sie mir…«

Die Polizei brachte mich aus dem Saal und in einem Fahrstuhl bis in den Keller hinunter.

»Ganz schön unverschÀmt, was, Tarrío?« sagte mir einer von ihnen.

»Nein, diese Arschlöcher machen mich fertig, ich kann sie nicht ertragen.«

Ich redete mit ihm in freundlichem Ton weiter, um ein Klima des Vertrauens zu schaffen, denn ich hatte vor abzuhauen, wenn sie mich zum Transporter bringen wĂŒrden. Und in der Tat. Wir kamen nach draußen, wo der Zellenwagen geparkt stand. Der Polizist fĂŒhrte mich an den Handschellen, die meine HĂ€nde auf dem RĂŒcken banden, als die anderen einige Meter Vorsprung bekamen. Da handelte ich. Ich nutzte eine SĂ€ule des GebĂ€udes, stieß mich mit dem Fuß daran ab, warf mich mit aller Gewalt nach hinten und streckte den Polizisten zu Boden, der die Handschellen allerdings immer noch mit einer Hand festhielt. Er schrie auf, ich antwortete mit mehreren Hackentritten in sein Gesicht, wĂ€hrend ich ihn hinter mir her schleifte, ohne Erfolg. Schnell stĂŒrzten die anderen Bullen herbei, mit ihren Waffen, ĂŒberwĂ€ltigten mich und schleiften mich bis zum Wagen.

»Wenn wir im GefÀngnis ankommen, kannst du was erleben«, drohten sie mir.

Im GefĂ€ngnis angekommen, stießen sie mich aus dem Transporter. Einer zog an meinen Haaren und drehte mein Gesicht nach oben. Der Rest hielt meine Arme. An der Eingangskabine zum Besucherbereich bedachte ich die Schließerin mit einem gewollten Grinsen, und sie sah mich wieder einmal sprachlos an. Sie fragte einen der Bullen neugierig: »Was ist passiert?«

»Er hat versucht abzuhauen und dabei einen Kollegen verletzt, der Hund.«

Wir gingen in das Innere der Anstalt. Mich erwartete eine Tracht PrĂŒgel aus Rache, das war in so einem Fall normal. Der Polizist allerdings, den ich angegriffen hatte, benahm sich wie ein echter Mensch und sagte, als wir gegenĂŒber standen:

»He! Hast du gesehen, was du angerichtet hast?«

»Ich habe nichts gegen dich persönlich, ich wollte nur fliehen…«

»Das ist in die Hose gegangen«, antwortete er schon ruhiger, »aber du hast was drauf. Wie alt bist du?«

»Zweiundzwanzig.«

»Nehmt ihm die Fesseln ab«, wies er seine Kollegen an, und fĂŒgte an mich gewandt hinzu: »Hoffentlich hast du beim nĂ€chsten Mal mehr GlĂŒck, aber nicht bei mir«, er lĂ€chelte.

»Danke. Sie sind ein netter Typ.«

Ich vergaß die Geste dieses Mannes nie, er hatte mir das Recht auf Flucht zugestanden, das bewies seinen Wert als Mensch. So etwas war ein ehrenhafter Gegner: er hatte es ausgeschlagen, sich an einem Wehrlosen auszulassen, obwohl seine Kollegen ihn dazu ermuntert hatten.

An der Gittersperre holten mich der Dienstleiter und seine Bande ab. Nachdem ich neu gefesselt war, brachten sie mich in die Zelle, die ich heute morgen verlassen hatte. Ich wurde wieder an das Bett gebunden.

»Willst du essen?« fragte einer von ihnen.

»Ja. Und ich will Papier und Kugelschreiber, um ĂŒber das hier an das Strafvollzugsgericht zu schreiben.«

Einer der Schließer lachte: »Der Strafvollzugsrichter war es, der Ihre Ruhigstellung autorisiert hat, TarrĂ­o, bis man Sie nach Daroca bringt.«

Sie brachten mir Essen auf einem Plastiktablett und machten eine meiner HĂ€nde los, damit ich essen konnte. Ich aß langsam, um meinen Armen Zeit zu geben, sich zu erholen. Ich aß mit der linken Hand, auf dem Bett sitzend und mit dem Tablett auf den Knien, wĂ€hrend ich die Gruppe Schließer beobachtete, die mit Spray und KnĂŒppel bewaffnet um mich herum stand. Meinem Blick wichen sie aus. Sie fĂŒhlten sich nicht wohl. Ich kannte sie alle aus frĂŒheren Aufenthalten im GefĂ€ngnis, vor Jahren, bei den Jugendlichen. Ich redete mit dem ein oder anderen um Zeit zu gewinnen.

»Wozu hast du diesen KnĂŒppel?« fragte ich ihn.

Diese direkte Frage ĂŒberraschte ihn und es schien einen Moment lang, als ob er sich der LĂ€cherlichkeit dessen bewusst wĂŒrde, vor einem mit einem Arm ans Bett gefesselten Mann.

»Na ja, TarrĂ­o, du weißt schon…«

»Du weißt schon, du weißt schon… Sie wissen eben nichts anderes zu sagen.«

»Ich handle auf Befehl, TarrĂ­o. Außerdem sind Sie in letzter Zeit sehr gewalttĂ€tig. So werden Sie nichts erreichen…«

»Das heißt, dass Sie daran denken, mich mit dem Ding anzugreifen, stimmt’s?« war meine Antwort.

»Gegebenenfalls ja. Wenn Sie sich benehmen, nicht…«

»Kann ich rauchen? Meine Zigaretten liegen in der anderen Zelle.«

»Nur eine Zigarette«, mischte sich der Dienstleiter ein.

Man ĂŒbergab mir eine spanische Winston. Ich zĂŒndete sie vorsichtig an und rauchte langsam. In der Zelle herrschte eine spannungsgeladene Stimmung und ein großes, ungemĂŒtliches Schweigen. Als ich mit der Zigarette fertig war, schlossen sie meine linke Hand erneut an das Bett und gingen.

Es brach die Nacht herein. Die Arme schmerzten mir ziemlich wegen meiner BewegungsunfĂ€higkeit, und die Gedanken sausten mir gewaltig im Kopf herum. Ich musste pissen, doch ich konnte niemanden rufen. Sie wĂŒrden mich von hier aus nicht einmal schreien hören. Und wenn mir in dieser Lage etwas zustieße? Nichts wĂŒrde passieren.

Der Richter wĂŒrde dafĂŒr sorgen, dass alles nach einem natĂŒrlichen Tod aussĂ€he, sie wĂŒrden meine Leiche meiner Mutter ĂŒbergeben und ihr zynisch des Staates Beileid ausrichten.

Diese Strafe regte mich auf. Sie schien mir nicht gerechtfertigt. Sollte ich nicht auf den Weg gebracht werden, meine Fluchtinstinkte im Zaum zu halten und fĂŒr die Sicherheit der dort arbeitenden Schließer keine Gefahr darzustellen? Die hatten wohl das Recht sich zu verteidigen, ich gestand ihnen das zu – doch nicht auf diese miserable Art und Weise! Ich war nur auf eine erfolgreiche Flucht aus gewesen und nicht darauf, jemanden zu verletzen. Doch sie waren darauf aus, dem Menschen weh zu tun. Seine Moral zu brechen, seinen physischen Widerstand, seinen Willen. Bei der Anwendung ihrer Strafen zog die Behörde nicht den physischen und moralischen Schaden in Betracht, den sie bei dem StrĂ€fling anrichtete, sondern achtete einzig und allein auf ihre eigenen Interessen. Eine primitive Lösung. In den Augen der Behörde und auch der Gesellschaft war diese Bestrafung legitim, doch Strafen war eine schwerwiegende illegitime Aggression seitens des Staats, war doch der Bestrafende um keinen Deut besser als der Bestrafte, allein schon wegen der UnverhĂ€ltnismĂ€ĂŸigkeit der Strafe. Nie ist es legitim, zu strafen, denn mit Strafen erzieht man nicht, Strafe ist Rache. Warum? Es liegt auf der Hand: Strafe resozialisiert niemanden, was ja der eigentliche Zweck der Behandlung ist, sondern ist einfach Bestrafung, repressive Aggression, der Gebrauch von Zwang auf physischer und nicht moralischer Grundlage. So wird einzig erreicht, dass sich das Individuum entsprechend umsichtig verhĂ€lt, vorĂŒbergehend, unter dem Druck der EinschĂŒchterung durch die Beamten und ihren Kanon an Machtmitteln und Strafmethoden.

Es war lĂ€cherlich, diese beschĂ€mende Doppelmoral. Wie wollten sie jemanden umerziehen, wo sie doch nicht einmal zu verzeihen wussten? Wie wollten sie gerecht sein, wo die Strafe ohne Vergebung zur bloßen Rachenahme wurde? Behörde und Gesellschaft sollten erwachsen genug sein, Neid und Bosheit, Niedertracht und Rache zu ĂŒberwinden. Wie wollte man mir so zeigen, dass meine Regelverletzungen erforderten, dass sie die Verantwortung fĂŒr mich ĂŒbernahmen, dass ich Strafe verdiente, wo ich jeden Tag sehen konnte, wie die Vollstrecker jener Strafe an mir das Gesetz ĂŒbertraten, ohne selbst bestraft oder dabei auch nur eingeschrĂ€nkt zu werden?

Am nĂ€chsten Morgen zum ZĂ€hlappell wurde mir verweigert, auf die Toilette zu gehen, und ich konnte nicht mehr anhalten und machte mir in die Hosen. Man gab mir kein FrĂŒhstĂŒck, und sie kamen nicht einmal herein, bis zum Mittagessen. Sie brachten mir ein Tablett mit warmen gekochten Kartoffeln, die ich hungrig unter den wachsamen Augen meiner Henker aufaß. Man erlaubte mir weder, die Kleidung zu wechseln oder zu duschen, noch kam ein Arzt, um mich zu untersuchen. Ich blieb den ganzen Tag lang auf dieselbe Weise gefesselt. Ich wĂŒrde den nĂ€chsten Tag abwarten mĂŒssen, die Guardia Civil wĂŒrde kommen um mich abzuholen. Es kam mir komisch vor, doch ich wĂŒnschte sie so schnell wie möglich herbei, damit sie mich aus dieser Lage heraus holte.

Diese Nacht war mir sehr kalt. Ich versuchte zu schlafen, doch ich schaffte das nur in AbstÀnden. Die Arme quÀlten mich die ganze Zeit, obwohl die Matratze und die Kleidung, die ich anhatte, es etwas ertrÀglicher machten.

In der Tat kam am nĂ€chsten Tag frĂŒh morgens die Guardia Civil und holte mich ab. Die Schließer brachten mich in Handschellen bis ans Gitter. Als ich eskortiert den Hof ĂŒberquerte, verabschiedeten sich die Gefangenen aus der Jugendabteilung von mir:

»Alles Gute, Che, pass auf dich auf!«

»Sowieso«, antwortete ich ihnen und lÀchelte ihnen zu.

Auf der anderen Seite des Gitters tauschten sie meine Handschellen gegen welche von der Guardia Civil, die waren anders. Sie fesselten mich allein, die anderen Gefangenen befanden sich zu Paaren aneinander geschlossen. Sie alle wĂŒrden mitfahren. Wir begrĂŒĂŸten uns alle bevor es los ging. Einer der Schließer warnte den Vorgesetzten der Guardia Civil vor mir:

»Passt auf mit dem, der ist Ausbrecher und ziemlich unruhig.«

»Wissen wir«, antwortete er. Dann wandte er sich an mich:

»TarrĂ­o, ich hoffe, wir werden eine ruhige Fahrt haben. Du bleibst alleine. Wenn du auf die Toilette willst, drĂŒckst du auf die Klingel im KĂ€fig und wir holen dich raus. Komm nicht auf dumme Gedanken und zwing mich nicht dazu, dich die ganze Fahrt ĂŒber an den Sitz zu schließen, OK?«

In seiner Stimme lag keine Anmaßung, sondern Ruhe und Bereitschaft zum Übereinkommen. Er wusste mit mir umzugehen und tat dies mit TaktgefĂŒhl, weshalb ich ihn beruhigen wollte und antwortete:

»Immer mit der Ruhe, wenn sie mir eine Weile aufschließen, um im Gang die Beine zu strecken und aufs Klo zu gehen, reicht das. Was das Übrige angeht, es wird keine Probleme geben.«

»Gut.«

Sie brachten uns zum Transporter hinaus. Meine Mitreisenden zuerst, ich nach allen anderen. Mehrere Guardias Civiles begleiteten mich. Draußen am Eingang, lĂ€chelnd, die Schließerin, die die PĂ€sse einsammelte. Sie bewegte den Kopf hin und her, und ich dachte, die spinnt. Ich belohnte sie mit meinem schönsten LĂ€cheln und zwinkerte ihr komplizenhaft zu. Als ich an ihr vorbeikam, fand sie folgende Worte:

»Sie hören wohl nie auf zu lÀcheln, was, Tarrío?«

»Ich habe eben viel Spaß. Bis bald, guapa«, antwortete ich ihr gut gelaunt.

»Viel GlĂŒck!«

Sie steckten mich in einen der zwanzig KĂ€fige des Transporters. Ich war froh darĂŒber, alleine zu fahren, denn so hatte ich mehr Bewegungsfreiheit. Die Zellen waren so dreckig wie eh und je, doch schmutzig und vollgepisst, wie ich war, war mir das ziemlich egal. Außerhalb der Stadt schlossen sie mir auf, damit ich pinkeln gehen konnte. Ich ging auf dem Flur auf und ab, unterhielt mich mit den anderen Gefangenen und rauchte dabei eine Zigarette. Die anderen unterhielten sich von KĂ€fig zu KĂ€fig schreiend ĂŒber ihre Fahrtziele, ihre Strafmaße und persönliche Dinge. Ich ging aufs Klo und pinkelte so gut es ging durch jenes Loch, bei voller Fahrt, und steckte mich dann wieder in den KĂ€fig, damit der nĂ€chste an die Reihe kam. Wir lösten einander ab.

Am Nachmittag kamen wir in LeĂłn an, wo man uns in die Zellen der Aufnahmeabteilung brachte, wir sollten dort die Nacht verbringen. Ich kam mit zwei anderen in ein Zelle und konnte meinem MitteilungsbedĂŒrfnis nachgehen. Ich konnte mich in der Zelle ĂŒber dem Klo mit mehreren Eimern Wasser duschen, das tat mir mal wieder gut.

Am nĂ€chsten Morgen fuhren wir weiter bis zum Madrider GefĂ€ngnis Carabanchel. Wir kamen nachmittags um drei an, mĂŒde und erschöpft von der Reise. Dort wĂŒrden wir mehrere Tage bleiben, bis andere Transporter uns an unsere jeweiligen Zielorte brĂ€chten.

Sie begleiteten uns in Handschellen bis ins Innere der Anstalt und nahmen sie uns dort wieder ab. Die Guardia Civil hatte ihre menschliche Fracht nun abgeliefert und ging. Die Schließer fĂŒhrten uns in die RĂ€ume fĂŒr die ED-Behandlung und nahmen uns die TĂŒten ab, in denen wir unsere Habe mitfĂŒhrten. Weil wir viele waren, kamen anschließend einige von uns in amerikanische Zellen, die sich von den normalen dadurch unterschieden, dass die Frontwand ganz aus Gitter bestand, wie in einem ZookĂ€fig. Diese Zellen befanden sich im Keller, ein paar Treppen hinunter, unterhalb der Aufnahme. Dorthin also kam ich zusammen mit ein paar anderen.

Meine Compañeros scherzten und lachten. Ich machte nicht mit. Ich setzte mich auf einen Vorsprung und dachte an die Dinge, die Jahre zuvor hier geschehen waren, das hatten mir einige der Ă€ltesten Gefangenen erzĂ€hlt. Ich versetzte mich im Geiste ins Jahr 1978. Damals war ich nur zehn Jahre alt gewesen. In der dritten Galerie dieses GefĂ€ngnisses war ein Tunnel entdeckt worden, und man ĂŒberraschte darin mehrere Gefangene. Einer von denen, ein Anarchist namens AgustĂ­n Rueda Sierra war zu der Sache verhört worden. Man wollte die MittĂ€ter an diesem Tunnelbau wissen, und das Verhör fand genau in der Zelle statt, in der wir gerade saßen. Im Beisein eines Arztes schlug man ihn dort tagelang. AgustĂ­n Rueda weigerte sich standhaft, mit der Direktion zusammenzuarbeiten und die Namen der Leute zu nennen, die mit ihm ausbrechen wollten. Das hieß fĂŒr ihn: Jede Menge PrĂŒgel, mit dem Ergebnis, dass er Tage spĂ€ter tot war. Der damalige Generaldirektor der Strafvollzugsbehörde JesĂșs Haddad Blanco nahm die Schließer in Schutz, die jenen Mann geschlagen hatten bis er starb. Als Antwort auf den Tod von AgustĂ­n Rueda setzte die GRAPO dem Leben des Generaldirektors am 22. MĂ€rz mit einem Attentat ein Ende.

Ich stellte mir also die Szene vor. Ein nackter Mann, an die Gitter dieser Zelle gefesselt, weigert sich, seine Genossen preiszugeben und akzeptiert es, totgeschlagen zu werden. Ich fragte mich, wie viele Hiebe nötig waren, um dem Leben dieses Mannes ein Ende zu bereiten. Zwanzig, fĂŒnfzig, hundert? Bei diesem Gedanken stellten sich mir die Nackenhaare auf, und SchĂŒttelfrost ergriff mich. Ich empfand Bewunderung fĂŒr diesen Menschen, der gewusst hatte, Mensch zu sein, und ich empfand Ohnmacht und Schutzlosigkeit gegenĂŒber der GefĂ€ngnis-Unterwelt.

Du schwebst in meinem Schatten,

Dein Ende erfĂŒllt mich mit dunklem Rachdurst.

Du bist das versammelte ICH des Parlaments derer mit dem gleichen Namen,

Eine Stimme aus der Gesellschaft, wo die WidersprĂŒche sich zuspitzen.

Im Namen unserer Krone lebst du wirkliche LoyalitÀt,

Unsere Unterkunft möblierst du mit GefĂŒhlen,

Die ZĂ€hne der SĂ€ge wanderten von meiner zur Deinen.

Hervorragendster Mieter in der Höhle meiner reinsten Gedanken!

Auf dem Kreuzgang der TotschlÀger drehen wir die LautstÀrke aus

Und blasen wild zum Angriff

Bis unser Blut die Zweifel anderer nÀhrt,

In StÀdten aus Eisen und Beton, mit Trommelwirbel in der Brust.

Du, Genosse, lĂ€sst im Herzen sich Fackeln entzĂŒnden.

An tausend Orten tragen wir schwer an der Ungerechtigkeit

Und setzen SolidaritÀt gegen trauerndes Haareraufen.

Ein Mensch richtet seine WĂŒrde auf im, Trott der Masse

Er erklimmt Gipfel und hĂ€lt der Ideen StĂŒrme aus.

Am Höhepunkt des wilden Tanzes

Fallen aus der Leiche die WĂŒrmer

O lass die Sehnen wieder Blut pumpen,

widerspenstige Blutkörper in jede Faser,

bis dem Berg der Grund entzogen ist,

und alles im kalten Mondlicht daliegt.

In Memoriam AgustĂ­n Rueda

Stunden spĂ€ter kamen sie, um uns nach der ED-Behandlung in der Aufnahme in die amerikanischen Zellen der sechsten Galerie mitzunehmen. Man wies mir eine dieser schmutzigen und abstoßenden Zellen zu. Dort wĂŒrde ich mehrere Tage warten mĂŒssen, bis sie mich zusammen mit anderen nach Zaragoza transportierten. Beim Hofgang traf ich Lolo, El Carmona, einen Freund von mir, den ich genau hier zu anderer Gelegenheit kennengelernt hatte. Wir gingen zusammen spazieren und unterhielten uns.

»Von wo kommst du jetzt, Lolo?«

»Aus Santander«, klĂ€rte er mich auf, »und jetzt geht’s nach Daroca, erster Grad.«

»Gut, dann werden wir wohl zusammen fahren.«

Â»Ăœberm orgen, stimmts?«

»Ja.«

GefÀngnis Daroca, Zaragoza, Oktober 1990

Eine Gruppe Schließer empfing uns in Daroca, nach einer anstrengenden Reise. Sie durchsuchten uns, fĂŒhrten uns durch einen Metalldetektor und wiesen uns dann Trakt Eins zu, dem Trakt fĂŒr Querulanten. Dort traf ich auf JosĂ© MarĂ­a ExpĂłsito. Von ihm erfuhr ich, dass der Ausbruch, den seine BrĂŒder in Pontevedra vorbereitet hatten, wĂ€hrend ich dort war, von der Polizei vereitelt worden war. Das tat mir Leid.

In der Anstalt herrschte Unruhe und es roch nach Stress. Vor kurzem hatte ein HĂ€ftling in unserem Trakt einen anderen umgebracht, mit einem Stich ins Herz; ein Begleichen offener Rechnungen, ĂŒblich unter uns. Außerdem war ein geschĂ€tzter Kamerad und Genosse aus AufstĂ€nden in Zamora, den wir als Rufino kannten, gerade erst mit einundzwanzig Jahren an AIDS gestorben.

Einige Stunden vor dem Sterben ließen sie ihn heraus, schon in Agonie; er erreichte Madrid nicht lebend, starb in dem Auto, das ihn nach Hause fuhr, in den Armen seiner Mutter.

Die Vorstufe von Gewalt lag in der Luft: Zorn, weswegen wir Besuch von einem Inspektor der Generaldirektion der Strafvollzugsbehörden erhielten. Zwei Gefangene aus jedem Trakt wurden ausgesucht, um mit ihm zu sprechen. Die Probleme aller anderen sollten zur Sprache kommen. Ein Genosse und ich wurden Sprecher von Trakt eins, den wir reprĂ€sentieren sollten. Das GesprĂ€ch fand in einem BĂŒro der Krankenstation statt, das normalerweise leer stand. Mein compañero trat zuerst ein und ich wartete, bis ich an der Reihe war, bewacht von zwei Schließern in Gegenwart des Direktors. Als das Interview des anderen zu Ende war, ging ich in das BĂŒro hinein. Dort, auf einem Stuhl sitzend, fand ich einen gut gekleideten und penibel frisierten Mann vor, der mich anlĂ€chelte. Offenbar wollte er ein vertrauensvolles Klima zwischen uns beiden schaffen. Er begrĂŒĂŸte mich:

»Hallo, wie geht’s?«

Ich setzte mich auf einen Stuhl, ihm gegenĂŒber, und antwortete höflich: »Hallo…«

Sie sind JosĂ© TarrĂ­o, nicht wahr?« fragte er, wĂ€hrend er auf eine Liste mit Namen blickte, die er auf weißem Papier bei sich hatte.

»Ja. Ich komme aus Trakt eins.«

»Gut gut, ich komme, um mich mit euch zu unterhalten, falls ihr mir etwas mitteilen wollt. Ihr wisst ja, vor kurzem ist hier ein HÀftling gestorben, er wurde erstochen. Wir wollen damit Schluss machen und mit anderen Dingen, die in dieser Anstalt ablaufen, diese Anstalt hier war immer konflikttrÀchtig. Wie lebt ihr hier?«

»Schlecht, um auf Letzteres zu antworten. Was das Übrige angeht, es gibt Gewalt und wird sie immer geben, solange die GefĂ€ngnisse derart wilde Repression an den HĂ€ftlingen ausĂŒben und sich darauf versteifen, alle HĂ€ftlinge an demselben Ort festzuhalten, ohne andere, menschliche oder mindestens logische Gesichtspunkte zu berĂŒcksichtigen…«

»Was fĂŒr Gesichtspunkte?« unterbrach er mich.

»Die Gefangenen sollten in ihren jeweiligen Heimatprovinzen ihre Strafe verbĂŒĂŸen, um Konflikte wegen der Herkunft zu verhindern und die Brutalisierung zu vermeiden, die bei uns allen die Trennung von der Familie auslöst. Es ist schier unmöglich, dass unsere Familien hunderte von Kilometern zurĂŒcklegen, um uns fĂŒr nur dreißig Minuten zu sehen, durch eine Scheibe. Außerdem gibt es hier weder WerkstĂ€tten noch sonstige Angebote. Die Leute hĂ€ngen ihre ganze Hofgangszeit einfach nur herum, ohne eine andere BeschĂ€ftigung als spazieren gehen, und verbringen die restliche Zeit, zweiundzwanzig von vierundzwanzig Stunden, in eine Zelle eingeschlossen. Und so geht das jeden Tag der Woche, des Monats, des Jahres. Man verbietet uns die vis-a-vis-Besuche, wo wir doch fĂŒr Jahre getrennt von unserer Familie sind und uns mit keiner Frau ins Bett legen. Das schafft Gewalt, mein Herr, bei Menschen, die meistens zu langen GefĂ€ngnisstrafen verurteilt sind.«

Ich machte eine Pause, um Luft zu holen und die Gedanken zu

ordnen. Ich fuhr fort:

»Wir HĂ€ftlinge im ersten Grad sind von uns aus schwierig. Deshalb sperren sie uns hier ein. Wenn wir obendrein noch einer erniedrigenden Behandlung unterworfen werden und man uns Grundrechte vorenthĂ€lt, was erwarten Sie? Hier funktioniert nicht einmal die Krankenstation, wie sie es sollte; wir haben hier AIDS-kranke HĂ€ftlinge auf dem Hof, ohne wirksame medizinische Betreuung; die in dieser Anstalt hier ist wer weiß wie jĂ€mmerlich. Um einen einfachen Sportraum zu bekommen, haben wir die gesamte Anstalt zerstören mĂŒssen, was im ĂŒbrigen heißt, dass Gewalt manchmal effektiv ist, und wenn sie es nicht ist, so ist Gewalt doch das Einzige, was man uns lĂ€sst. Wegen Kleinigkeiten werden Gefangene geschlagen, und das, mein Herr, hilft nicht. Ich behaupte nicht, dass Sie die Gewalt absichtlich schĂŒren, doch ich behaupte, dass Sie sich weigern, von Ihren gemĂŒtlichen Sesseln und Ihrer menschlichen Inkompetenz aus die RealitĂ€t zu sehen. Wir Gefangenen sehen diese ZusammenhĂ€nge wohl, im Knast brutalisieren wir tĂ€glich mehr, bis zur Grausamkeit und GefĂŒhllosigkeit.«

»Caramba, sie lassen mir ja nicht viel Spielraum. Sie sehen die Dinge sehr negativ, Tarrío. Irgendetwas Gutes werden wir schon tun, nicht?« unterbrach er mich wieder. Seine rechte Hand spielte mit einem Bic-Kugelschreiber. Ich bekam Lust, zynisch zu werden:

»Sehen Sie mal. Ich weiß nicht, wozu Sie gekommen sind, doch sicherlich werde nicht ich es sein, der hier den Strafvollzugsterrorismus hochleben lĂ€sst, den Sie benutzen, um uns zu bestrafen. 1980 gab es 20.000 Gefangene in den spanischen GefĂ€ngnissen, heute zĂ€hlen Sie 40.000. Ich glaube ehrlich, dass Sie inkompetent sind, dass Sie es nicht verstanden haben, ein Problem der Gesellschaft, das Ihnen anvertraut wurde, zu lösen. Wie viele Jahre haben Sie schon dieselben Probleme auf dem Tisch? Auf einen StrĂ€fling, den Sie halbwegs resozialisieren, kommen fĂŒnf neue StraffĂ€llige. Sie haben das GefĂ€ngnis zu einem GeschĂ€ft gemacht, nicht zu einer Lösung.«

Ich holte noch einen Moment Luft und fuhr fort, ich war in Fahrt gekommen. »Das GefĂ€ngnis an sich ist Gewalt, mein Herr, es ist die Kriminalschule fĂŒr ErsttĂ€ter wie mich; die UniversitĂ€t des Bösen… Ich und meine Mitgefangenen sind das Futter, von dem eure GefĂ€ngnisse leben, eure GehĂ€lter, euer großes GeschĂ€ft. Nichts kann man von einer Person erwarten, die nicht zuhört, die keine GefĂŒhle hat und die nicht daran denkt, anderen Interessen zu dienen als strikt ihren eigenen. Guten Tag…«, schloss ich, mich somit verabschiedend, und verließ das BĂŒro.

Ich hĂ€tte mich noch eine Weile ĂŒber ihn hermachen können. Nein, die wĂŒrden nie etwas Ă€ndern. Die Strafvollzugsbehörde schickte immer diese Inspektoren, wenn etwas Schlimmes passiert war oder sie vermutete, es wĂŒrde passieren. Damit versuchten sie, die GemĂŒter zu beruhigen, mit falschen Versprechungen, die niemals in die Tat umgesetzt wurden. Dieses Interview war pure Routine, bĂŒrokratisches Papiere-und-noch-mehr-Papiere-Vollschreiben und eine Rechtfertigung fĂŒr die Arbeit jener, die von Madrid aus die Institute der Repression steuerten. Jene Papiere hielten als Belege her, mit denen sich die Verwaltung vor der Gesellschaft reprĂ€sentieren konnte, man zeigte Besorgnis ĂŒber die ZustĂ€nde in den Haftanstalten. Nein, nichts wĂŒrde dieses Interview Ă€ndern, so, wie hunderte von Anzeigen nichts Ă€nderten, die von den GefĂ€ngnissen aus ihren Weg zu den Strafvollzugs- oder Untersuchungsgerichten machten. Die Lösung fĂŒr die Probleme in den GefĂ€ngnissen hatte notwendig die Einigung der Gefangenen untereinander zur Voraussetzung. EntfĂŒhrungen, AufstĂ€nde, Unruhen, Streiks – nur mit noch mehr Gewalt konnte den zerstörerischen Haftbedingungen beigekommen werden. Ein bewaffneter Kampf in den GefĂ€ngnissen tat Not, und ein Volksaufstand, dessen Forderungen von den Medien der Bevölkerung ĂŒbermittelt wĂŒrden, genau wie die Angstschreie der zu Geiseln gemachten Henker. Der Kampf mĂŒsste alle Ecken eines jeden GefĂ€ngnisses erreichen, angefangen bei den Sonderbedingungen, ĂŒber die geschlossenen Abteilungen und weiter in den zweiten Grad. Zumindest war das, was unter den grausamen Bedingungen von Herrera de La Mancha gedacht wurde, wo sich koordiniert von Javier Ávila Navas die APRE neu grĂŒndete, zu Anfang bestehend aus fĂŒnf zu den genannten Bedin- gungen Gefangener. Mit solchen Ideen gingen Laudelino Iglesias, Luis Rivas DĂĄvila, Vicente SĂĄnchez, Antonio Losa LĂłpez und Javier Ávila Navas, ĂŒbrigens vor kurzem wieder verhaftet, zur Aktion ĂŒber und grĂŒndeten eine der gewichtigsten und stĂ€rksten Organisationen der spanischen Strafvollzugsgeschichte. Damals konnte niemand von uns und noch weniger die Behörde sich vorstellen, was kurz darauf geschehen wĂŒrde, wenn nĂ€mlich von der Theorie in die Praxis ĂŒbergegangen wurde. Vorstellbar waren auch noch nicht die Maßnahmen zur Vergeltung, die der spanische Staat ergreifen sollte.

Die Zelle in diesem Trakt, in der ich saß, war schmal aber lang, was mir erlaubte, lange SpaziergĂ€nge zu machen. Den vergangenen Monat war ich ziemlich besorgt ĂŒber meine Gesundheit gewesen; ich hatte die gewohnte Ruhe verloren, mit der ich mich stundenlang vor ein Buch setzen oder langatmige revolutionĂ€re ErgĂŒsse verfassen und an Familie und Freunde schicken konnte. Ich fĂŒhlte mich unruhig und öfters bekam ich Herzklopfen oder ErstickungsanfĂ€lle. Dann brauchte ich Platz und stellte mich vors Fenster, um die Luft auf meinem Gesicht fĂŒhlen zu können, damit dieser Druck vorĂŒber ging, der auf mir lastete. Zusammen mit dem allgegenwĂ€rtigen Gedanken an AIDS fĂŒhlte ich deswegen eine stĂ€ndige Paranoia und litt ziemlich darunter, denn ich assoziierte jedes Symptom mit dem Tod. Die Möglichkeit, dass der Tod mich im GefĂ€ngnis heimsuchte und dass diese kalten WĂ€nde mein letzter Eindruck sein könnten, drehte in meiner Vorstellungswelt ihre Runden. Mit den Ärzten hatte ich jeden Kontakt abgebrochen, denn ich hasste sie tiefgrĂŒndig wegen allem, was sie machten und was sie mit den Gefangenen geschehen ließen. Ich hielt jene unangenehmen Momente also durch, so gut es eben ging. Ich war zu stolz, um jene Bastarde in Arztkittel um Hilfe zu bitten. Sie waren die Schande des eigentlich edlen Arztberufs, dessen Aufgabe es war, den Menschen zu helfen, und nicht, sie zu zerstören. Am meisten machte mich aber die Wirkung besorgt, die Rufinos Tod auf mich gehabt hatte. AIDS hatte nur dreißig Tage benötigt, um ihn in ein Nichts zu verwandeln, in einen Haufen Knochen, der einmal ein Mensch gewesen war. Es war beeindruckend und furchtbar. Sie hatten sich bis zum letzten Moment geweigert, Artikel 60 auf ihn anzuwenden, demzufolge die Behörde die Pflicht hat, alle Straf- und Untersuchungsgefangenen in der terminalen Phase jeder Ă€rztlich bescheinigten tödlichen Krankheit freizulassen. Eine Sache war es zu sterben, und eine ganz andere, langsam dahinzusiechen in tagelanger Agonie, den Körper voll mit Nadeln, SchlĂ€uchen und eiternden Wunden.

Der Besuch des Inspektors der Generaldirektion Ă€nderte, wie wir vermutet hatten, nichts in Daroca. Die Bedingungen waren nach wie vor brutal und repressiv, zerstörerisch. Zweiundzwanzig der vierundzwanzig Stunden des Tages verbrachtest du in der Zelle, wenn sie dich nicht in die Bestrafungszellen steckten, weil irgendeinem aus Langeweile brutalem Schließer nichts besseres einfiel. Gegenseitige Hilfe war verboten. So wurde zum Beispiel jemand, der dabei erwischt worden war, Kaffee von einem Zellenfenster an das nĂ€chste zu reichen, nach Trakt fĂŒnf gebracht und dort geschlagen, damit wir es von hier aus nicht hören und aus Protest an die TĂŒren hĂ€mmern konnten. Danach schlossen sie ihn an das Metall seines Bettgestells und ließen ihn dort bis zum nĂ€chsten Tag, an dem sie ihm die Fessel abnahmen, und anschließend blieb er eine Zeit in Isolation. Unangreifbarer Terror. Manchmal verboten sie uns sogar, uns untereinander ĂŒber die Fenster zu unterhalten, worauf wir aber normalerweise nicht achteten. Das bescherte uns Isolationsstrafen zwischen sieben und vierzehn Tagen, wenn nicht eine Portion PrĂŒgel. Sie hatten die Haft ersten Grades in der Geschlossenen in drei Phasen unterteilt: Die erste fĂŒr die als böse eingestuften, die zweite fĂŒr die halbwegs Umerzogenen und die dritte fĂŒr denjenigen, den sie als an die Bedingungen angepasst einschĂ€tzten und als bereit fĂŒr den Schritt vom ersten Grad in den zweiten, offeneren Vollzugsgrad. Diese behavioristische Individualtherapie hatte zum Ziel, uns in Gruppen aufzuteilen, gegrĂŒndet auf das menschliche Verhalten beeinflussende Stimuli, sogenanntes »positives« Verhalten belohnend, »negatives« bestrafend. Wenn du dort heraus wolltest, wĂŒrdest du dich anpassen mĂŒssen, dich einer erniedrigenden Disziplin unterwerfen, die darauf aus war, den Menschen seiner Persönlichkeit und Urteilskraft zu berauben. Den Passierschein von einem Trakt in den anderen verkauften sie dir als »Fortschritt«, als wĂ€ren nicht das GefĂ€ngnis und seine Mauern das eigentliche Problem und schuld an unserer Unruhe und unserem Leiden. Um dein gutes Betragen zu belohnen, boten sie dir Besuch von deiner Familie oder deiner Frau als vis-a-vis an, einen Fernsehapparat oder Zugang zum Sportraum, als wĂ€ren dies nicht in der Strafvollzugsordnung vorgesehene Rechte. Benahmst du dich nicht entsprechend, wurden dir die »Privilegien« wieder aberkannt und du wurdest eine Phase zurĂŒckgestuft. Das war Erpressung als Erziehungsmittel: Bist du gut, darfst du deine Mutter sehen; bist du böse, darfst du es nicht. Sie behandelten uns wie Kinder, versuchten, unseren freien Geist zu unterwerfen und dass wir unsere Strafe akzeptierten, dass wir das GefĂ€ngnis verstehen und annehmen. Das war hirnlos und teuflisch, einem der ambitioniertesten, repressivsten und schĂ€bigsten Geister der Epoche entsprungen, dem des Generaldirektors der Strafvollzugsbehörden, Antoni AsunciĂłn.

Eine Woche nach jenem Besuch sandte mir JosĂ© MarĂ­a ExpĂłsito ĂŒber andere Gefangene eine Nachricht von Trakt zwei aus. Ich las den kleinen Zettel:

»Che, morgen wirst du fortgebracht, ein Schließer hat es mir erzĂ€hlt. Ich werde dir Geld schicken, und wenn du noch etwas brauchst, lass es mich wissen. Du kommst nach Teneriffa 2. Pass auf dich auf. Ánimo. Dein Freund JosĂ© MarĂ­a.«

Das war die Antwort auf meine Forderungen. Falls ich nicht weit genug entfernt war von La Coruña, schickten sie mich auf eine Insel in Afrika. In einem Anflug von Humor dachte ich, die schicken mich nicht noch weiter weg, weil sie keine Kolonien im Ausland mehr haben, wenigstens das. Könnt ihr euch vorstellen sie hĂ€tten mich nach Guinea geschickt, in die Sahara oder auf irgendeine verlorene Insel im Pazifischen Ozean? FĂŒrchterlich! Andererseits kam es mir inkonsequent vor, dass dieser Schließer diese Information hatte durchsickern lassen. Trotz der ausdrĂŒcklichen Anweisung, mir unter keinen UmstĂ€nden mitzuteilen, wann ich wohin gebracht wurde, um mich zu ĂŒberraschen, hatte jener WĂ€rter das meinem Freund erzĂ€hlt, dessen bewusst, dass jener mich seinerseits informieren wĂŒrde. Er tat mir einen selbstlosen Gefallen, einen Moment lang war er zu seiner Eigenschaft als Mensch zurĂŒckgekehrt und bevorteilte mich, wer weiß warum. Und ich hatte die Schließer fĂŒr unfĂ€hig gehalten, zu denken! Ich glaube, dass einige von ihnen unglĂŒckliche Menschen waren. Eine Minderheit war oft mit der Arbeit als Henker der Gesellschaft nicht einverstanden. Mit Aktionen wie dieser rebellierten sie ein bisschen gegen die Robotisierung und Brutalisierung, dagegen, bloßes Werkzeug zu sein, ohne GefĂŒhle, nicht mehr als ein Folterinstrument. Letzten Endes waren wir alle Menschen und wollten unser Gewissen auf irgendeine Weise zum Schweigen bringen, jene schwache Stimme in unserem Innern, die sich meldete, wenn wir Dinge gegen unsere Prinzipien taten. Oder etwa nicht?

Ich verabschiedete mich von Carmona und den anderen Kameraden. Ich packte meine Sachen zusammen und besorgte mir fĂŒr die Reise alles Geld, das ich kriegen konnte. Dann bat ich einen Gefangenen, er solle am nĂ€chsten Tag bei mir zu Hause in La Coruña anrufen und meine Familie von meiner Verlegung unterrichten. Am nĂ€chsten Morgen, als die TĂŒr der Zelle, in der ich einsaß, sich öffnete, fanden sie mich angekleidet und alle Sachen in drei TĂŒten gepackt. Ich war bereit fĂŒr den Umzug. Ich fuhr ins GefĂ€ngnis von Carabanchel, fĂŒr drei Tage meine Durchgangsstation, von wo mich ein anderer Transport in Richtung CĂĄdiz brachte. Wir ĂŒbernachteten in der Anstalt von CĂłrdoba. Dort gab es Probleme bei der Durchsuchung, denn sie sperrten uns alle zusammen in zwei Zellen und befahlen uns, die Kleidung abzulegen und nackt Kniebeugen zu machen. Das kam mir erniedrigend vor und ich weigerte mich.

»Was?« sagte einer der Schließer ĂŒberrascht, »Sie weigern sich, Kniebeugen zu machen?«

»Genau, und wenn Sie mich durchsuchen wollen, werden Sie das in einem anderen Raum tun mĂŒssen, denn ich werde mich nicht in der Öffentlichkeit nackt ausziehen.«

»Was ist los?« mischte sich ein anderer Schließer ein, »Sie sind wohl etwas Besseres als die anderen?«

»Nein, aber diese Art der Personendurchsuchung kommt mir nicht angemessen vor, und wenn die anderen das zulassen, ist das ihr Problem, nicht meins.«

Sie sperrten mich in eine der Zellen, allein. Die anderen Gefangenen nahmen sie mit ins Innere der Anstalt und kamen mich dann besuchen, in Begleitung des Dienstleiters, der stolz ein Rangabzeichen an seiner Brust trug.

»OK, Tarrío, wo liegt das Problem?« fragte er mich.

»Es gibt kein Problem, nur, dass ich mich weigere, wie Vieh behandelt zu werden.«

»Los jetzt, geben Sie uns die Kleidung.«

Ich zog mich aus und ĂŒbergab ihnen die KleidungsstĂŒcke, die ich getragen hatte, damit sie sie durchsuchen konnten. Als ich nackt dastand, befahl mir einer von ihnen: »Machen Sie Kniebeugen!«

»Nein«, antwortete ich.

Er sah den Dienstleiter fragend an und wartete auf einen Befehl. Jener wandte sich erneut an mich: »Nun gut. Wenn Sie sich so anstellen, kommen Sie direkt in die Disziplinierungszellen, ohne Tabak und Economato. Ihre Habe können Sie hier lassen, denn Sie werden sie nicht brauchen, wir werden Ihnen zwei Decken zukommen lassen.«

Nachdem ich mich angezogen hatte, brachten sie mich in die Isolationsabteilung und sperrten mich in eine Zelle. Sie war klein. In die Wand eingelassen, ein kleines Fenster, was auf die graue und triste Mauer von gegenĂŒber wies. Kaum drang das Tageslicht herein. Jede Menge Staub und Asche. Ich begann in der Zelle auf und ab zu gehen, in Gedanken. Es kam mir erniedrigend und gemein vor, dass sie uns nackt Kniebeugen machen ließen, dass wir uns gegen- seitig unsere Ärsche vorzeigen mussten, nur aus kranker Laune einer Gruppe Schließerlehrlinge. Die Kniebeugen waren eine Beleidigung, jedenfalls empfand ich sie jedes Mal, da ich sie machen musste, als Beleidigung, und ein Mensch sollte nichts machen, was seine Liebe zu sich selbst verletzt, niemals. Wir Gefangenen mussten damit aufhören, mit der Verwaltung zu kollaborieren, indem wir uns ihren Launen unterwarfen. Bestrafung war vorzuziehen. Das war in der Tat nicht das Praktischste, doch war es das WĂŒrdigste. Wir konnten nicht weiter Kniebeugen machen, nackt und öffentlich, wĂ€hrend andere Gefangene in anderen spanischen GefĂ€ngnissen PrĂŒgel und Sonderstrafe erleiden mussten, weil sie sich weigerten, mit dem Ziel, definitiv damit Schluss zu machen, endgĂŒltig Schluss zu machen mit allen GefĂ€ngnissen, Kniebeugen und erniedrigender Behandlung. Jetzt wurde ich bestraft, weil die anderen Gefangenen akzeptiert hatten, Kniebeugen zu machen. HĂ€tten wir uns alle geweigert, wĂ€re wahrscheinlich niemand bestraft worden, und wir hĂ€tten verhindert, dass dasselbe mit anderen Gefangenen gemacht wurde, bei einer anderen Verlegung. Es war eine Frage von Stolz und WĂŒrde.

Mit dem Abendessen brachten sie mir zwei schmutzige Decken, die nach FĂ€ulnis rochen. Ich warf sie in eine Ecke und ging nach dem Essen weiter spazieren, die ganze Nacht hindurch, bis zum nĂ€chsten Tag, an dem die Fahrt nach CĂĄdiz weitergehen wĂŒrde, zusammen mit den anderen.

El Puerto de Santa MarĂ­a, 1. November 1990

Das berĂŒhmte GefĂ€ngnis von Puerto de Santa MarĂ­a tauchte durch die metallischen GitterstĂ€be des Transporters der Guardia Civil vor meinen Augen auf. Gebaut aus rotem Ziegelstein stand es allein auf weiter Flur, bewacht von der PolicĂ­a Nacional. Im Wagen wurde es plötzlich still, und die HandschellenschlĂŒssel, das Gold und andere verbotene Objekte kehrten an ihre gewohnten Verstecke zurĂŒck. Das automatische Einfahrttor zum AnstaltsgelĂ€nde ging auf, der Transporter fuhr hinein und kam vor der TĂŒr fĂŒr die Aufnahme zum Stehen. Wir waren da. In Zweierpaaren stiegen wir aus dem Wagen, nahmen unsere Sachen an uns und begaben uns in die Innereien des GebĂ€udes. Dort wartete eine Gruppe Schließer auf uns, die uns nach der ED-Behandlung zu den Disziplinierungszellen brachten, die sich in der sogenannten »Kuppel«, dem obersten Stockwerk befanden. Nach einer vollstĂ€ndigen Durchsuchung von Person und Habe sperrten sie jeden von uns in eine der Zellen. Die Kerker von Puerto de Santa MarĂ­a waren außerordentlich klein und erdrĂŒckend, brutal. Es war unmöglich, in ihnen auf und ab zu gehen, und das hieß, man musste auf dem Bett sitzen oder liegen bleiben. Letzteres war inzwischen erlaubt, vor Jahren mussten die Gefangenen dort den ganzen Tag sitzen oder stehen, es war verboten gewesen, sich hinzulegen, zu rauchen oder zu reden. Ich wusch mir das Gesicht im Waschbecken und urinierte in das daneben befindliche ebenerdige Klo. Dieses Loch war mit einer mit Wasser gefĂŒllten Plastikflasche verschlossen, das war der Deckel, der GerĂŒche und nachts die Ratten fernhalten sollte. Ich blickte aus dem Aluminiumfenster: GegenĂŒber und unterhalb der Kuppel lag die Krankenstation der Anstalt. Es befanden sich mehrere Menschen darin, einer von ihnen sichtbar krank: er hatte AIDS. Das erkannte ich an seiner extremen Magerkeit. Verloren ging er durch den Saal, und seine Augen, schattig umrandet von der NĂ€he des Todes, hatten jeden Glanz verloren. Ich störte ihn nicht. Ich erinnerte mich an meinen Landsmann FernĂĄndez Mariño, der vor Jahren in diesem Saal gestorben war, an derselben furchtbaren Krankheit. Ich hatte ihn nicht gekannt, doch hatten wir gemeinsame Freunde, die mir von ihm erzĂ€hlt hatten. Er war ein echter Rebell, ein geborener KĂ€mpfer, einer der AnfĂŒhrer des ersten Aufstands mit Geiseln, der in diesem berĂŒchtigten und gefĂŒrchteten GefĂ€ngnis stattgefunden hatte. Dank ihm und dank Antonio Mateo, der ebenfalls an AIDS gestorben war, wurden die schwersten Haftbedingungen der spanischen GefĂ€ngnisse geĂ€ndert. Bedingungen, unter denen jahrzehntelang die hĂ€rtesten Kriminellen des Landes gehalten und eingeschĂŒchtert wurden. Es waren Leute wie sie, die in Begleitung von OrtĂ­z JimĂ©nez, Zamoro DurĂĄn, Maya Martos, FernĂĄndez Varela und Redondo FernĂĄndez die Geiselnahmen an Schließern mit Forderungen verbanden. Sie schlugen zurĂŒck und prangerten öffentlich, ĂŒber die Medien, die unmenschlichen ZustĂ€nde in den spanischen GefĂ€ngnissen an. Ohne Zweifel schuldeten wir ihnen viel, wir alle. Leute wie FernĂĄndez Mariño und Antonio Mateo verdienten es, dass ihrer mit vorzĂŒglichstem Respekt gedacht wurde, denn sie waren unter anderem die ersten gewesen, die sich dem Kampf gegen das System verschrieben hatten, die fĂŒr die AIDS-Kranken kĂ€mpften, die anfingen im GefĂ€ngnis zu sterben, unter den kalten, zynischen, gleichgĂŒltigen Augen der Behörde.

Am nÀchsten Tag, nach dem obligatorischen Foto und einem kurzen GesprÀch mit einer Sozialarbeiterin, wurde ich nach Trakt zwei gebracht, wo sich mein Freund Anxo befand. Ich traf ihn auf dem Hof.

»QuĂ© pasa, Anxo?« grĂŒĂŸte ich und umarmte ihn.

»Was machst du denn hier?« fragte er.

»Ich komme nach Teneriffa 2, bin hier auf der Durchreise… und du?«

»Ich komme aus Salto del Negro, Las Palmas. Sie erwischten uns noch auf dem GelĂ€nde, Garfia und mich, als wir versuchten, ĂŒber die Mauer zu springen. Jetzt weiß ich nicht, wohin sie mich bringen.«

»Schöne Scheiße. Na ja, nĂ€chstes Mal klappt’s, oder?« Ich wollte ihn aufmuntern.

»Na klar…«

Wir gingen in Kreisen im rechteckigen Hof herum, unter einem blauen und sonnigen Himmel.

»Und hier? Wie ist es hier?«

»Locker, was die Schließer angeht. Anscheinend haben ihnen die letzten Geiselnahmen zu Denken gegeben. Ansonsten ist hier nicht viel los.«

»Ja, scheint so.«

Es stimmte. Das berĂŒhmt-berĂŒchtigte Puerto de Santa MarĂ­a war nicht mehr die Hölle, die es frĂŒher gewesen war. Jetzt konnte man von Fenster zu Fenster reden, vor Jahren etwas Undenkbares. Die Gefangenen konnten denen, die in den Zellen saßen, Kaffee schicken, ohne Angst vor PrĂŒgel. Man schlug die Gefangenen nicht mehr unter jedwedem Vorwand, es gab keine nĂ€chtlichen Besuche mehr, die zur EinschĂŒchterung gedient hatten. Hin und wieder ließ ein Schließer seine schlechte Laune heraus, wĂŒtete in jemandes Zelle und schmiss jemandes Sachen durch die Gegend, nicht mehr als WutanfĂ€lle frustrierter Folterer, deren höchster Ausdruck von Leben es gewesen war, sich mittels schĂ€bigsten und niedertrĂ€chtigsten Missbrauchs selbst zu verwirklichen. FĂŒr sie gab es ohne harte Hand keinen Terror, und ohne Terror gab es keine Disziplin. Das war, was sie ihr ganzes Leben lang praktiziert hatten. Sie hassten uns, denn in ihren Augen waren wir nur der Abschaum der Gesellschaft, wo es doch auf Erden nichts miserableres gibt als den Beruf des Henkers. Sie lebten versteckt und in Angst und fĂŒrchteten stĂ€ndig um ihr Leben. Auf der Straße hatten sie keine anderen Freunde als die anderen Schließer; die Gesellschaft verachtete sie. Sie wussten das, und das machte sie noch schlimmer, sie wurden böse und intolerant. Sie ertrĂ€nkten jene RealitĂ€t im GefĂ€ngnis, wo sie sich wichtig fĂŒhlten. Ja, Puerto hatte sich geĂ€ndert, doch sie sich nicht, und bei der nĂ€chsten Gelegenheit wĂŒrden sie zu den alten Gewohnheiten zurĂŒckfinden, zur PrĂŒgel und zur verkorksten MentalitĂ€t, die sie mehrheitlich kennzeichnete. Das GefĂ€ngnis Ă€nderte sich nicht, wechselte man nicht die Schließer aus, und ohne Zweifel waren die verantwortlich fĂŒr viel Amtsmissbrauch und Folter, und solange sie blieben, wĂŒrde es damit weitergehen.

Als ich ein paar Tage spĂ€ter ĂŒber den Hof ging, brachten sie Juan JosĂ© Garfia. Ich ging bis zur ZugangstĂŒr zum Trakt und wir redeten durch die GitterstĂ€be.

»Mann!« rief er, als er mich sah, »du bist ja ĂŒberall!«

»Damit meinst du wohl eher dich, oder?« fragte ich ihn lÀchelnd.

»Was machst du hier?« fragte er mich.

»Ich komme nach Teneriffa 2.«

»Da hast du GlĂŒck, denn ich habe gehört, da kann man gut abhauen. Viel Erfolg also…«

»Und was ist mit dir? Anxo hat mir schon das von Salto del Negro erzÀhlt. Pech.«

»Ja, das war Pech.«

»Hast du Geld?«

»Nein, nicht eine Kröte. Ich hab alles auf dem Schiff fĂŒr Bier ausgegeben.«

»SpÀter schicken wir dir etwas, OK?«

»Gut.«

Zwei Wochen spĂ€ter fuhr ich los nach Teneriffa. Ich verabschiedete mich von meinen Freunden, und gegen elf wurde ich in einem kleinen Transporter bis zum Hafen von CĂĄdiz gebracht. Dort hielten wir vor einer riesigen FĂ€hre mit Namen Manuel Soto, wie ich an ihrem Bug lesen konnte. Wir warteten einige Minuten und man ließ uns ĂŒber eine HĂ€ngebrĂŒcke in die Garage der FĂ€hre einfahren, wo schon andere Transporter, Lastwagen und Autos standen. Sie holten mich in Handschellen heraus und brachten mich zu den Zellen-Kabinen, neben den MaschinenrĂ€umen, unterhalb der Wasserlinie. Der LĂ€rm der Motoren, die warm liefen, war ohrenbetĂ€ubend. In der Zelle befand sich ein Stockbett mit zwei PlĂ€tzen, ein Klo und eine Klappe in der TĂŒr, durch die hindurch man mir die Handschellen abnahm und wodurch ich mein Essen bekam. Zwei Guardias Civiles bewachten mich. Die beiden waren freundlich zu mir und kauften mir mit dem Geld, das ich ihnen gab, in der Schiffscafeteria ein paar Bier und eine Schachtel Zigaretten. Es war eine entspannte Reise.

Dritter Teil: Auf dem Weg in die Rebellion

Was ist Freiheit? Was ist Sklaverei? BestĂ€nde die Freiheit des Menschen in der Empörung gegen alle Gesetze? Nein, insofern diese Gesetze natĂŒrliche, wirtschaftliche und soziale Gesetze sind, die nicht autoritĂ€r aufgezwungen werden, sondern in den Dingen, den Beziehungen, den Situationen selbst liegen, deren natĂŒrliche Entwicklung sie ausdrĂŒcken.

Ja, insofern als es politische und juridische Gesetze sind, die von Menschen anderen Menschen aufgezwungen werden, sei es mit dem Recht der Kraft, willkĂŒrlich; sei es heuchlerisch, im Namen irgendeiner Religion oder metaphysischen Doktrin; sei es endlich kraft jener Fiktion, jener demokratischen LĂŒge, die man das allgemeine Stimmrecht heißt.

MICHAEL BAKUNIN

Kanarische Inseln, GefÀngnis Teneriffa 2, November 1990

Am dritten Tag, ungefĂ€hr um zehn Uhr morgens, lief die Manuel Soto im Hafen von Santa Cruz auf Teneriffa ein. Das kraftvolle Stampfen der Motoren verstummte und klang noch in meinen Ohren nach, als mir durch die Klappe erneut Handschellen angelegt wurden und ich zum Gefangenentransporter gebracht wurde, zusammen mit meinen Siebensachen. Von Santa Cruz ging es nach La Laguna und dort nach La Esperanza, dem Berg, auf dem das GefĂ€ngnis stand. Es war groß und seine grauen Mauern waren beeindruckend hoch. Eine lange BrĂŒcke, bewacht von einem Paar Guardias Civiles, spannte sich vom Eingang zu einer kleinen nahe gelegenen Hochebene, ĂŒberquerte das GelĂ€nde und ein kleines Tal. Nachdem wir zwei enorme automatische Tore durchquert hatten, hielt der Wagen in einer kleinen Garage, von der aus man in die Aufnahmeabteilung gelangte. Dort ĂŒbernahmen mich die Schließer, und nach der ED-Behandlung, dem nackt Ausziehen und einer vollstĂ€ndigen Untersuchung meiner Person und meiner Sachen wurde ich in einen der Trakte gebracht. Diese hatten die Form von allein stehenden HĂ€usern und waren voneinander durch asphaltierte Wege und kleine GrĂŒnanlagen getrennt. Mittendrin entdeckte ich ein Schwimmbecken. Ich muss sagen, dass mich das schon erstaunte, so etwas war neu fĂŒr mich. Mir wurde eine Zelle im Trakt fĂŒr Neuaufnahmen zugewiesen, und, Überraschung auf Überraschung, ich durfte mich im Trakt bewegen, in den Economato gehen und mit den anderen zusammen im Speisesaal essen. Seit drei Jahren hatte ich mit niemandem mehr zusammen gegessen sondern immer einsam in der Zelle – es kam mir ungewohnt vor und verstörte mich. Ich kam an einen Tisch mit zwei Afrikanern, vor denen ich mich ernst und reserviert zeigte. Es war eigenartig, doch in diesem Moment hĂ€tte ich lieber allein in der Zelle gegessen als dort unter Menschen.

Nach dem Essen ging ich zusammen mit anderen Gefangenen zum Fenster des Kaffeeausschanks. Den leitete ein Transsexueller mit fĂŒlliger Brust, den alle als Lola kannten – Transsexuelle und schwule MĂ€nner gab es dort mehrere. Ich bestellte zwei Kaffee:

»Zwei schwarze Kaffee bitte.«

»Du bist der Neue, oder?« fragte sie neugierig. »Von wo kommst du?«

»Aus Zaragoza.«

»Aah, du bist Gote, von wo denn?«

»Was soll das heißen, Gote?«

»So nennen wir hier die Leute vom Festland.«

»Ich heiße JosĂ© und komme aus La Coruña, ich bin Galizier.«

»HĂŒbsche Gegend, Galizien. Ich heiße Lola.«

»Das weiß ich.«

Als der Kaffee serviert war, verabschiedete ich mich von Lola. Zu Anfang war es nicht ganz einfach, diesen Typen als Frau zu behandeln, doch aus Respekt vor seinen GefĂŒhlen nannte ich ihn bei seinem weiblichen Namen. Das schien ihm zu gefallen, denn zur Siesta-Zeit, als er zusammen mit anderen Gefangenen den Trakt und den Essenssaal putzte, kam er bei mir vorbei. Ich war in die Zelle eingeschlossen. Deshalb redeten wir durch das vergitterte Guckloch in der TĂŒr.

»Hallo«, grĂŒĂŸte sie mich.

»Hallo.«

»Wirst du hier bleiben?«

»Ja«, antwortete ich, »aber sie werden mich bald in die Isolation bringen, denn ich bin im ersten Grad und es kommt mir schon komisch vor, dass sie mich hier lassen.«

»Dann wirst du auf die andere Seite des Trakts kommen, auf die andere Seite jenes WachhÀuschens«, erklÀrte sie mir und zeigte mit dem Finger auf ein nah gelegenes kleines GebÀude.

»Gut.«

»Warst du schon duschen?« Sie ging zum Angriff ĂŒber, mit einem vielsagenden Grinsen.

»Nein, noch nicht«, antwortete ich.

»Warum gehst du nicht jetzt?« – Sie lud mich ein.

»Nein danke«, blockte ich ab, »und hör auf, mich anzubaggern. Ich respektiere dich, wie du bist, doch das ist alles, verstehst du? Alles weitere ist ĂŒberflĂŒssig.«

»OK, einverstanden.«

Diesen Nachmittag wurde ich in den Trakt daneben verlegt, Isolation. Ich bekam eine Zelle im unteren Stockwerk. Die Behandlung war bis dahin korrekt gewesen, erstaunlich korrekt. Die Zelle, die man mir zugewiesen hatte, hatte eine Dusche neben dem Waschbecken und dem Klo, beide aus rostfreiem Edelstahl und in den Zement eingelassen. Ein steinerner Tisch und ein metallener Stuhl standen vor einem der beiden Zellenfenster, deren Gitter kreuzweise verschweißt waren. Ein Bett aus Stein und zwei kleine SchrĂ€nke zur Aufbewahrung der Habe komplettierten das Interieur. Ich rĂ€umte meine Sachen ein und machte das Bett. Dann duschte ich und dachte auf dem Bett ausgestreckt nach. Alles dort war anders als was ich bisher erlebt hatte in den GefĂ€ngnissen auf dem Festland. Die lockere und entspannte Stimmung brachte mich durcheinander. Die Schließer hatten mir gegenĂŒber Höflichkeit an den Tag gelegt, und die Zellen befanden sich in einem ziemlich bewohnbaren und hygienischen Zustand. Ich fĂŒhlte mich nicht von der Repression verfolgt wie in den Vollzugsanstalten ersten Grades, aus denen ich kam. Außerdem war ich nahezu entzĂŒckt: In diesem Komplex aus Anstaltstrakten und Mauern roch es nach der Chance auszubrechen. Die BrĂŒcke, die ich bei meiner Ankunft hatte sehen können, und die ĂŒber das gesamte GelĂ€nde fĂŒhrte, hatte ich stĂ€ndig vor Augen. Das GefĂ€ngnis war neu, und das hieß, dass sein Sicherheitssystem möglicherweise an irgendeinem Punkt auszuhebeln war. Die Frage war, an welchem. Alle GefĂ€ngnisse, absolut alle, hatten einen Schwachpunkt, aber nicht alle Gefangenen waren in der Lage, ihn auszunutzen. Am wichtigsten war, eine Gelegenheit wahrzunehmen, sobald sie sich bot und es eine Chance auf Erfolg gab. Versagte man, flickte die Direktion das Leck und verstĂ€rkte die Sicherheit in der ganzen Anstalt. So wurde auch, wenn einer von uns versagt hatte, die Generaldirektion von den von uns angewandten Methoden unterrichtet, welche sich dann darum kĂŒmmerte, die anderen GefĂ€ngnisse zu informieren. Dort wurden dann neue Maßnahmen aufgelegt, die Auswirkungen auf die Chancen anderer Ausbrecher hatten; die Hoffnung Vieler war die Flucht. Deshalb wĂŒrde ich mich vor einem Versuch aufs Beste informieren mĂŒssen, es einfach so zu versuchen, war nicht angebracht.

Am nĂ€chsten Morgen ging ich mit den ĂŒbrigen Gefangenen aus meinem Trakt auf den Hof. Zwei von ihnen waren Mitglieder von ETA, die anderen drei comunes wie ich. Wir alle kamen vom Festland und waren stĂ€ndig zusammen, und nur manchmal brachte man Gefangene aus anderen Trakten, die eine Zeit in Isolation verbringen mussten. Der Trakt hatte zwei Stockwerke, zwei kleine Höfe und einen Fernsehraum. Man erklĂ€rte mir, wie der Apparat funktionierte. Es gab reichlich und gut zu essen. Wir hatten ein wirklich professionelles Ärzteteam, einen Yogalehrer, eine gut sortierte Bibliothek und tĂ€glich vier Stunden Zugang zum Hof. Man erklĂ€rte mir auch, der Direktor wĂŒrde mich wohl rufen, um mit mir zu sprechen, und was er mir möglicherweise sagen wĂŒrde. Doch das wĂŒrde ich schon sehen.

Auf meinem Spaziergang erteilte mir einer der Ärzte Visite, in einem kleinen Zimmer fĂŒr die Sprechstunde, neben dem Aufenthaltsraum.

»Hallo, sagen Sie mir, wie Sie heißen?« fragte er mich.

»José Tarrío Gonzålez.«

»Gut. Sehen Sie, ich habe ihrer Akte entnommen, dass Sie seit mehreren Jahren TrÀger von AIDS-Antikörpern sind, weshalb wir Ihnen eine Essenszulage verschreiben werden, zusÀtzlich zum normalen Essen. Sie wissen schon, Joghurt, belegte Brote und Obst. Sind Sie damit einverstanden?«

»Das finde ich hervorragend«, antwortete ich.

»Wie fĂŒhlen Sie sich jetzt?«

»Zur Zeit gut.«

Wir fĂŒllten einige Formulare aus und verabschiedeten uns mit einem HĂ€ndedruck. Niemals hatte mich auch nur irgendein Arzt so behandelt, derart professionell, wie dieser Mann es getan hatte. Bis jetzt hatte man sich in keinem GefĂ€ngnis darum gekĂŒmmert, mir besonderes Essen zuzuteilen, und er hatte das getan, ohne dass ich ihn gebeten hĂ€tte. Jener Arzt wusste es nicht, doch es war das erste Mal, dass ich einem von ihnen die Hand angeboten hatte. Das bedeutete mir viel.

Dank dieser Zulage widmete ich mich mehrmals die Woche dem Laufen ĂŒber den Hof, um meinen Körper in Form zu halten, unerlĂ€sslich fĂŒr einen Ausbrecher, wie die Luft fĂŒr einen Vogel. Auch machte ich manchmal beim Yoga mit, ein Yogi gab uns Unterricht. DafĂŒr brachten sie uns in Gruppen in den Aufenthaltsraum des Trakts, und dort saßen wir dann auf Decken, machten Atemtraining im Lotossitz oder Übungen wie den Sonnengruß. Yoga hatte bisher meine Aufmerksamkeit nicht sonderlich erregt, doch diese einfachen Übungen sollten mir zusammen mit den YogabĂŒchern, die ich daneben las, noch von großem Nutzen sein. Überhaupt las ich wieder mehr. Es gab eine gut bestĂŒckte Bibliothek, aus der mir die Lehrerin die BĂŒcher brachte, die ich wollte, ohne Begrenzung der Anzahl. Dort entdeckte ich Albert Camus, dessen Werke mich beeindruckten, nahm Shakespeare wieder auf, und ich unterhielt mich mit Medea und den Troyanern von Euripides. Die Tragödie faszinierte mich. Jene Werke gaben eine authentische, wirkliche und wahrhaftige Wahrnehmung des Lebens wieder. Was uns diese unschĂ€tzbaren Kenner der menschlichen Psyche auf Pergament hinterlassen hatten, war das Leben an sich: Schmerz, Konflikt, Eitelkeit, AngstzustĂ€nde, Lust, die ein oder andere Freude, Depression, Neid, Wut, Liebe (und Lieblosigkeit), der Tanz um das Goldene Kalb, und, schließlich, der Tod: unsere sterilen Anstrengungen und Eitelkeiten, zu Nahrung fĂŒr die WĂŒrmer geworden, MistdĂŒnger fĂŒr die Erde.

Wie es mir angekĂŒndigt worden war, wurde ich an diesem Nachmittag in das BĂŒro des Direktors gebracht. Begleitet von zwei Schließern durchquerte ich mehrere GĂ€rten, bis in die Zentrale, wo sich die Leitung befand, neben der Krankenstation und dem Kino. Ich passte genau auf. Von dort aus gingen wir eine Treppe hinauf bis in den zweiten Stock, wo sich die Archive und die Amtsstuben der GefĂ€ngnisbĂŒrokratie befanden. Über eine Reihe GĂ€nge und TĂŒren gelangten wir bis ins BĂŒro des obersten Befehlshabers. Dort ließen sie uns allein.

»Setzen Sie sich«, wies er mich autoritÀr aber höflich an.

Ich setzte mich ihm gegenĂŒber und sah ihn direkt an.

»Ich werde klar und deutlich zu Ihnen sein, TarrĂ­o. Mir ist bekannt, dass Sie ziemlich konfliktreich und schwierig sind. Ich hoffe, dass sich das hier Ă€ndern wird und dass Sie zur Mitarbeit bereit sind. Sie werden mitbekommen haben, dass wir Ihnen eine gewisse Bewegungsfreiheit innerhalb des Trakts zugestehen. Benehmen Sie sich und Sie werden sehen, wie Ihnen das zugute kommt.« Das sagte er mir, ein Diskurs, den ich schon kannte, denn ich war ja schon ĂŒber seine rhetorischen KĂŒnste aufgeklĂ€rt worden. Nach einer Pause fuhr er fort: »Ihre Akte zĂ€hlt hier gar nichts, und Ihre Vergangenheit interessiert uns nicht, aber das, was Sie von jetzt ab tun. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja, und ich finde es in Ordnung, was Sie mir anbieten, doch mit dem, was mir die Strafvollzugsordnung auferlegt, habe ich mehr als genug, weshalb ich Sie bitte, sich danach zu richten, und von mir aus wird alles gut laufen. Ich muss sagen, die Behandlung ist korrekt, wofĂŒr ich dankbar bin. Ich bin nicht daran gewöhnt, gut behandelt zu werden, wissen Sie?« fĂŒgte ich vorsichtig hinzu.

»Wir hoffen, dass Sie mitwirken und dass wir sie bald in einen zweiten Grad ĂŒberfĂŒhren können, verhalten Sie sich also entsprechend. Das ist alles, was ich Ihnen sagen wollte.«

»Einverstanden.«

Beim Verlassen des BĂŒros, am Ende des Ganges, auf dem RĂŒckweg in den Trakt konnte ich fĂŒr einen Moment die BrĂŒcke sehen, die genau dort endete. Ich prĂ€gte mir alles ein. Ich war entschlossen, etwas zu versuchen. Das Angebot der Verwaltung kam zu spĂ€t. FĂŒr sie war es wohl bequem, die Vergangenheit der Menschen mit einem Federstrich auszuklammern und nach GutdĂŒnken Gelegenheiten und Privilegien zu verteilen. Mit was fĂŒr einer Leichtigkeit machten sie aus einem Menschen ein Instrument! Es kann sogar sein, dass das alles gut gemeint war, doch ich wĂŒrde mich nicht fĂŒr Experimente in Psychologie der PĂ€dagogik zur VerfĂŒgung stellen. Dem Vorschlag des Direktors wĂŒrde ich schwerlich folgen können: Vergessen? All die Schikane, den Missbrauch, jene stĂ€ndigen derart erniedrigenden Durchsuchungen, die PrĂŒgel und die Fesseln oder die Transporte in KĂ€figen? Die unterlassene medizinische Hilfeleistung an Tausenden von AIDS- und anderen Kranken, die Disziplinierungszellen, die NiedertrĂ€chtigkeit von Menschen, die Menschen kaputtmachen? Vergessen, dass jemand TrĂ€ger von AIDS-Antikörpern war und dass man ihn in kalten Zellen sterben ließ, nach jahrelanger Agonie, oder in den SĂ€len der GefĂ€ngniskrankenhĂ€user, ans Bett gefesselt? Die Behandlung vergessen, die man jenen Kranken angedeihen ließ, meistens junge Leute, die in die FĂ€nge der Drogen geraten und mit der Welt der KriminalitĂ€t vertraut geworden waren? Was soll ich vergessen, Herr Direktor? Dass ich eines jener verabscheuungswĂŒrdigen Wesen war, die man allzu hĂ€ufig in Haft sterben ließ, im Namen einer dĂŒsteren Rache, die den BĂŒrgern aus dem Herzen sprach? Oder sollte ich besser sagen, den Henkern? Nie hatte ich meine Ablehnung des Systems, speziell des Strafvollzugssystems, verheimlicht. Das wĂŒrde ich auch jetzt nicht tun. Ich war vollkommen davon ĂŒberzeugt: Meiner zahlreichen Defekte zum Trotz waren in meiner Banditenseele mehr GrĂ¶ĂŸe und Liebe —worauf alle mit anklagenden Zeigefingern deuteten— als in der versammelten Mannschaft derjenigen, die meine Haft geplant, an ihr mitgewirkt und sie vollstreckt hatten. Ich wĂŒrde nicht mithelfen, jenes System zu genehmigen, im Tausch gegen entsprechende Verheißungen, auch wenn das meine lebenslange Isolation bedeuten konnte.

Im Trakt herrschte Routine. Ich pflegte mich hĂ€ufig mit einem der Politischen zu unterhalten, durch das Guckloch in der ZellentĂŒr. So manchen Nachmittag lieh er mir seine Schreibmaschine, damit ich Texte verfassen konnte, die ich anschließend an die Richter sandte, die mich verurteilt hatten —ich bedrohte sie mit dem Tod. Vielleicht wĂŒrde man gegen mich ein Verfahren eröffnen, und dass wĂŒrde mir die Chance bieten, wĂ€hrend der Verhandlung öffentlich die Folter in den spanischen GefĂ€ngnissen anzuprangern, und bei jeder dieser Gelegenheiten wĂŒrde ich mehr versuchen können. Es ging mir darum, auf irgendeine Weise am Krieg gegen die Menschen und Institutionen teilzunehmen, die fĂŒr die Justiz verantwortlich waren. Und eine der besten Arten dies zu tun war auszubrechen, mit starkem Willen und Mut jene uns auferlegte Strafe zu unterlaufen, ihnen das Recht abzusprechen, uns zu bestrafen, und uns selbst zu befreien, mittels Rebellion— das war der Weg, der vor uns lag.

Ich provozierte eine Panne in meiner Zelle und versuchte so, in eine der Zellen in der unteren Etage verlegt zu werden, die auf die BrĂŒcke und die WachtĂŒrme der Guardia Civil hinaus wiesen. Das schaffte ich auch, nach einem GesprĂ€ch mit einem Schließer. Von dieser Position aus konnte ich beobachten, dass die Familienangehörigen der Gefangenen ĂŒber die BrĂŒcke in die BesuchsrĂ€ume gelangten, wie auch die Schließer, die ĂŒber die BrĂŒcke den Wachwechsel durchfĂŒhrten. Das GelĂ€nde hatte ein einziges Tor, durch das nur Versorgungslastwagen und Polizeitransporter fuhren. Der ĂŒbrige menschliche Verkehr musste durch dieses Tor stattfinden, herein und hinaus. Es gab drei Kontrollen. Die erste außerhalb der Anstalt, wo die Ausweise aller Ankommenden eingesammelt und bei Verlassen der Anstalt wieder ausgehĂ€ndigt wurden. Die zweite Kontrolle geschah von den zwei WachtĂŒrmen genau in der Mitte der BrĂŒcke aus, hier saßen zwei Guardias Civiles und blickten ĂŒber die GefĂ€ngnismauern. Die dritte Kontrolle fand in der Zentrale statt und bestand aus mehreren automatischen TĂŒren, die den Zugang ins Innere der Anstalt oder in die BesuchsrĂ€ume freigaben. Nachts war alles gut beleuchtet und die Guardias standen konstant Wache, sie setzten sich kaum ruhig hin. Doch ich fand einen kleinen Fehler in der Beleuchtung. Es war die Ausleuchtung der BrĂŒcke, die ĂŒberwiegend von rechts kam. Sie traf auf das BetongelĂ€nder und ließ die rechte Innenseite der BrĂŒcke im Halbdunkeln. Wenn ich es schaffte, auf die BrĂŒcke zu gelangen, ohne gesehen zu werden, wĂŒrde ich ganz eng am GelĂ€nder entlang ĂŒber den Boden robben können, nicht im Blickfeld des rechten Turms, und im Schatten des GelĂ€nders auch vor den Blicken aus dem linken Turm geschĂŒtzt. Außerdem wĂŒrde die NĂ€he der beiden TĂŒrme, zwischen denen nur die zwei Meter breite BrĂŒcke verlief, die Guardias Civiles nicht daran glauben lassen, jemand könnte es wagen, sie dort zu ĂŒberqueren, unter ihrer Nase. Das hoffte ich jedenfalls.

Ich erhielt Besuch von einem der Ärzte. Wir unterhielten uns in dem kleinen Sprechzimmer in unserem Trakt.

»Tarrío, wie lange ist es her, dass Sie Blutprobe und Lymphozytenkontrolle gemacht haben?«

»Die letzte war 88, in Pontevedra, aber man hat mir die Ergebnisse nicht mitgeteilt.«

»Das ist unmöglich, TarrĂ­o…« unterbrach er mich ĂŒberrascht, »mindestens alle drei Monate hĂ€tte man dich untersuchen mĂŒssen.«

»Schauen Sie in meine Akte. Ich lĂŒge Sie nicht an, in der Akte steht meine komplette Krankengeschichte.«

»Das ist schwer zu verstehen, wirklich.«

Ich lÀchelte ironisch, als ob ich ihn dazu einladen wollte, aus einem Traum aufzuwachen.

»Wie auch immer. Wir werden die Untersuchung durchfĂŒhren. Mal sehen, wie es um deine AbwehrkrĂ€fte bestellt ist, einverstanden?« Er kritzelte etwas auf ein Papier. »Wie geht es dir hier?«

»Besser als an anderen Orten, an denen ich war, aber seit einiger Zeit habe ich manchmal Herzrasen und nachts ErstickunsanfÀlle, dann geht es mir sehr schlecht.«

»Wie lange bist du schon in Haft?«

»Drei Jahre.«

»Nein, ich meinte, wie lange befindest du dich unter Isolationsbedingungen?«

»Drei Jahre.«

»Dann wundert mich das nicht«, sagte er, »sicherlich hast du AngstzustÀnde und etwas Klaustrophobie. Ich verschreibe dir etwas, mal sehen, wie es dir damit geht, OK? Wenn die Ergebnisse der Blutuntersuchung da sind, komme ich zu dir und wir besprechen das.«

»OK, danke.«

»Gern geschehen, Mann, gern geschehen.«

Die Ergebnisse der Blutprobe zeigten einen geringfĂŒgigen Niedergang meines Immunsystems, noch oberhalb des GefĂ€hrlichen, denn ich hatte etwa noch 500 T4. Ich wollte mich grĂŒndlicher informieren und redete mit einem Arzt darĂŒber.

»TarrĂ­o«, erklĂ€rte er mir, »die Krankheit ist wie du weißt unumkehrbar. Es bleibt nur die Hoffnung, dass der Virus noch eine lange Zeit braucht, sich zu entwickeln, was aber in deiner derzeitigen Lage nicht sehr wahrscheinlich ist.« Er nahm die Zigarettenschachtel, zĂŒndete sich eine daraus an und lud mich zum Rauchen ein. Ich nahm an, und er fuhr fort: »Wenn ich könnte, wĂŒrde ich dich und alle anderen kranken TrĂ€ger von Antikörpern freilassen, aber das geht nicht. Das GefĂ€ngnis ist in eurem Fall besonders zerstörerisch. Als Arzt kann ich das nicht akzeptieren, und als rational denkender Mensch auch nicht. Aber in diesem Fall steht das Kriterium der Richter ĂŒber dem der Medizin. Obwohl es hart ist, kann ich die Freilassung eines Kranken nur dann beantragen, wenn er schwer krank ist und sich in einer terminalen Phase befindet; das heißt, am Rande des Todes.«

»Das wusste ich schon.«

»Doch in deinem Fall ist alles viel schlimmer, Tarrío, denn die VerlÀngerung der Isolation beeintrÀchtigt dich ernsthaft. Die Disziplinierungszellen rufen eine schwerwiegende Reaktion aus, ein psychisches Leiden, das sich wiederum auf das vegetative Nervensystem und das Gehirn auswirkt. Das spielt im Hinblick auf das Immunsystem eine Rolle, es setzt die körpereigenen AbwehrkrÀfte herab.«

»Das heißt, die Strafe, die man mir auferlegt, fĂŒhrt dazu, dass ich schneller sterbe, oder?«

»Genau das. Logisch wĂ€re es, fĂŒr euch Zentren anderen Typs zu schaffen, offener, und eher nach medizinischen Kriterien als nach Strafvollzugsvorschriften, doch die Wirklichkeit ist weit entfernt davon.«

»Was raten Sie mir im Hinblick auf Vorsorge?«

»Das Beste fĂŒr dich wĂ€re, aus der geschlossenen Abteilung herauszukommen. Mehr Hofstunden und mehr Platz, um dem Druck der Zelle die meiste Zeit entgehen zu können. Das wĂŒrde deine AngstzustĂ€nde hemmen und das GefĂŒhl der Platzangst, das von drei Jahren in Zellen herkommt. Ich wĂŒrde dir auch raten, mit dem Rauchen und Kaffee Trinken aufzuhören, und Yoga oder andere regelmĂ€ĂŸige Übungen zu machen.«

»Ein bisschen mache ich schon.«

»Gut. Wie geht es dir mit den Medikamenten, die ich dir verschrieben habe?«

»Viel besser.«

»Also, Kopf hoch und pass auf dich auf, OK?« verabschiedete er sich.

Und es blieb nicht bei Worten. WĂ€hrend meines Aufenthalts auf Teneriffa zeigten sich die Ärzte, ausgenommen zwei von ihnen, mir gegenĂŒber uneingeschrĂ€nkt professionell und unabhĂ€ngig von der Direktion. Außerdem bestĂ€rkte mich dieses GesprĂ€ch mit dem Arzt, der sich fĂŒr meine Gesundheit einsetzte, in meinen Ausbruchshoffnungen und in meiner Haltung zum GefĂ€ngnis. Mein Kampf war legitim, wie es der Kampf aller war, die sich weigerten, im GefĂ€ngnis zu sterben oder zu leben.

Am 12. November ĂŒberraschte mich eine Meldung in Radio Nacional. Im GefĂ€ngnis von Foncalent, Provinz Alicante war ein blutiger Aufstand ausgebrochen, mit mehrfachen Geiselnahmen. Gegen halb elf Uhr vormittags hatte Antonio CortĂ©s, bekannt als El Zorro, mit einem Messer bewaffnet mehrere Schließer in Trakt vier in seine Gewalt gebracht. Von dort ging er in Begleitung anderer Gefangener, die er zuvor befreit hatte, in die Trakte zwei und drei. Dort ließen sie die ĂŒbrigen Gefangenen frei. Die gesamte Anstalt wurde kaputt geschlagen. Die Ereignisse ĂŒberschlugen sich. Es gab Streit, offene Rechnungen wurden beglichen und es gab mehrere schwer Verletzte und einen Toten. Am zweiten Tag des Aufstands entschied die Mehrheit der Gefangenen nach langen Verhandlungen, die Revolte zu beenden und in die Zellen zurĂŒckzukehren, das heißt, sie gingen nicht ĂŒber Protest und das Formulieren von Forderungen hinaus. Andere Gefangene weigerten sich aufzugeben und wollten weitermachen. Sie wollten ausbrechen. Antonio CortĂ©s, Vicente GĂłmez, Francisco SĂĄnchez, Pinteño SĂĄnchez und HĂ©ctor GuillĂ©n verschanzten sich in einer Galerie von Trakt drei, mit fĂŒnf Schließern als Geiseln. Sie forderten ohne Umschweife unter Androhung des Todes der Geiseln die Bereitstellung eines gepanzerten Transporters, Waffen und Geld. Die Verhandlungen waren hart. Die anderen Gefangenen wurden in die Zellen von Trakt zwei und drei gesperrt. In den Medien und seitens der Familienangehörigen der Verletzten und des Toten wurde deutliche und scharfe Kritik geĂŒbt.

Mir war klar, dass das GefĂ€ngnis und die Isolation diese Situation geschaffen hatten, und dass die Verwaltung entscheidend dafĂŒr verantwortlich war. Ich verstand die mörderische Wut einiger dieser MĂ€nner, die bereit waren, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, die genug von ihrer Lage hatten. In gewisser Weise fĂŒhlte ich genauso. Aber ich war nicht mit dem Tod jenes Gefangenen einverstanden und auch nicht mit den GewaltausbrĂŒchen und Messerstechereien, die unter Genossen stattgefunden hatten, als die Bestie im Menschen erst einmal freigelassen war. Ich verstand nicht, wieso sie einen Aufstand machen konnten, um sich gegenseitig umzubringen, statt sich auf gemeinsame Forderungen zu einigen, gegen die wirklich fĂŒr den Strafvollzug Verantwortlichen. Jenes zur Schau Stellen von Rohheit wĂŒrde die gesamte öffentliche Meinung unweigerlich gegen sie aufbringen, in der Folge gegen uns alle. WĂ€hrend wir alle gespannt abwarteten, was bei den Verhandlungen mit Antoni AsunciĂłn herauskam, bezogen GEOS Stellung zum Sturm auf den Trakt, wo die Geiseln festgehalten wurden.

Alles war vorbei um zehn Uhr morgens am 15., nach drei Tagen. Es geschah in einem Moment der Unachtsamkeit der Gefangenen. Pinteño und Serra gingen in eine Zelle des Trakts, und einer der Geiseln schloss hinter ihnen die TĂŒr und den Riegel. Sofort nutzten die anderen Schließer ermutigt von der Aktion ihrer Kollegen die Lage aus und ĂŒberwĂ€ltigten Francisco SĂĄnchez, El Rojo, und streckten ihn zu Boden. Dann riefen sie durch die Fenster nach draußen und die GEOS ĂŒberwĂ€ltigten schließlich alle Gefangenen, verprĂŒgelten sie mit BaseballschlĂ€gern, zogen sie nackt aus und fesselten sie. Mir tat es leid fĂŒr sie, denn sie hatten wirklich eine Menge Mut bewiesen und hoch gepokert. Ich dachte, hĂ€tten sie statt einen Gefangenen umzubringen einen Schließer exekutiert, sie wĂ€ren vielleicht an ihr Ziel gekommen. Doch denken und reden war leicht: Schwieriger war es zu handeln.

Die Medien gehorchten der eintönigen Stimme ihres Herrn und fraßen sich an dem Thema satt, bezeichneten das Geschehene als wilden Akt einer Gruppe außer Kontrolle geratener Psychopathen. In den Nachrichtensendungen wurde kein Wort darĂŒber verloren, was innerhalb der Mauern jenes GefĂ€ngnisses los war. Niemand erwĂ€hnte, dass Monate zuvor UnregelmĂ€ĂŸigkeiten im Strafvollzug in der psychiatrischen Abteilung publik geworden waren, als eine Schriftstellerin bei einem Besuch feststellen musste, dass es kein medizinisch geschultes Personal gab und dass die Schließer fĂŒr die Verabreichung der Medikamente an die Gefangenen verantwortlich waren, Leute ohne jedes medizinische Wissen, Laien in Sachen Psychologie oder Psychiatrie und ĂŒber den Hauptschulabschluss nicht hinausgekommen. Auch nicht die stĂ€ndige Folter, der die Gefangenen ausgesetzt waren, mit kalten Duschen, Fesselungen ans Bett, die ganze Monate dauerten, mit PrĂŒgel und dem willkĂŒrlichen Einsatz von Zwangsjacken. Daran erinnerte sich niemand, es wurde nicht erwĂ€hnt. Die BĂŒttel mit der Schreibfeder prostituierten sich weiterhin vorbehaltlos, was mich schon nicht mehr wunderte. Sie waren total auf Linie, unterwĂŒrfig. Den Horror im GefĂ€ngnis kannten nur die wir dort lebendig begraben waren. Was wussten jene Irren schon vom GefĂ€ngnis? Wie diese Gefangenen konnten nur völlig Verzweifelte handeln, und Verzweiflung kommt, wenn jemand alle Hoffnung verloren hat. Diese ganze Gewalt war vom GefĂ€ngnis hervorgebracht worden, von dem, was tĂ€glich zwischen diesen Mauern stattfand, von dem, was die meisten Journalisten oder BĂŒrger mit klingenden Namen sich weigerten wahrzuhaben, obwohl sie eigentlich in ihrem Inneren wussten, dass es geschah.

Ich fĂŒr meinen Teil machte mich nur Tage spĂ€ter daran, eine der Gitterstreben in meinem Fenster anzusĂ€gen. Ich sĂ€gte nur auf einer Seite, und als ich fertig war, wickelte ich ein dĂŒnnes Pflasterband um die Stelle und malte es spĂ€ter in der Farbe der Gitter an. Um sie noch besser zu verbergen, hĂ€ngte ich an das Gitter ein paar StrĂŒmpfe und eine Unterhose, wie zum Trocknen.

Eines Morgens kam einer der baskischen Gefangenen, derselbe, der mir das Pflaster und die Farbe gegeben hatte, und warnte mich vor einer bevorstehenden Durchsuchung. Er sprach mich an, als ich spazieren ging. »José, ich habe mitbekommen, dass sie eine Durchsuchung machen wollen.«

»Heute?« fragte ich.

»Ja, nachher.«

Und wirklich. Eine Stunde spĂ€ter erschien ein Trupp, angefĂŒhrt vom Dienstleiter.

»Wenn Sie meine Habe durchsuchen, will ich dabei sein. Das sieht die Vollzugsordnung so vor.«

»Es spricht nichts dagegen, dass Sie dabei sind.«

Ich ging in die Zelle, rĂ€umte alle BĂŒcher und anderes Lehrmaterial zusammen, das ich auf dem Tisch liegen hatte und packte es auf das Bett, genau wie die Kleidung. Dann setzte ich mich auf den Tisch. Mehrere Schließer mit Plastikhandschuhen fingen an, meine Sachen zu durchsuchen, wĂ€hrend andere die Fenster von draußen untersuchten. Einer von ihnen wandte sich von der anderen Seite des Fensters aus an mich. »Ist die WĂ€sche trocken?« fragte er mich und zeigte auf die

Socken.

Ich fasste sie mit den Fingern an und antwortete: »Nein, ist noch feucht. Warum?«

»Weil es nicht erlaubt ist, WÀsche in die Fenster zu hÀngen.«

»Das wusste ich nicht.«

»NÀchstes Mal hÀngen Sie sie in der Zelle zum Trocknen auf, einverstanden?«

»Ja, mein Herr…«

Zum GlĂŒck hatte ich sie am Morgen noch angefeuchtet, bevor ich aus der Zelle ging. FĂŒr den Augenblick war ich davongekommen.

Die folgende Nacht handelte ich. Ich hĂ€ngte ein Handtuch zwischen die Gitter, um zu verhindern, dass mich einer der Guardias Civiles von den WachtĂŒrmen gegenĂŒber sehen konnte. In dieser Deckung riss ich den Streben heraus, und er gab an einem Schweißpunkt am nicht angesĂ€gten Ende nach, wie ich gehofft hatte. Ich warf ihn aufs Bett und ließ mich durch das Fenster nach draußen ab. Sofort bewegte ich mich krabbelnd weiter und ĂŒberwand flink einen niedrigen Zaun. Von dort ging ich die Treppe des Trakts fĂŒr Neuaufnahmen hinab, sprang ĂŒber eine Mauer und bewegte mich auf die Krankenstation zu, durch die Gartenanlagen. Vor der Krankenstation hĂ€ngte ich mich an deren Vordach, kletterte hinauf und lief ĂŒber mehrere DĂ€cher bis zur Zentrale, wo ich ĂŒber ein BĂŒrofenster bis auf das obere Dach gelangte. Wie ein Reptil robbte ich ĂŒber das Dach und suchte die BrĂŒcke, bis ich genau ĂŒber ihr war. Ich musste auf die BrĂŒcke hinunter springen und dazu fast sechzig Meter weit robben, zur einzigen Stelle, von der ich vernĂŒnftigerweise springen konnte, ohne mir die Beine zu brechen. Ich wartete fast eine halbe Stunde, und als die Guardias Civiles fĂŒr einen Moment unaufmerksam waren, weil ein Streifenwagen um das GelĂ€nde herum fuhr, sprang ich ohne gesehen zu werden auf den Boden der BrĂŒcke und verbarg mich am GelĂ€nder auf der rechten Seite. Von dort bewegte ich mich mit dem Gesicht nach unten langsam vorwĂ€rts. Die Augen hatte ich auf den linken Guardia Civil gerichtet und wartete auf einen weiteren Moment der Unachtsamkeit. Einige Minuten spĂ€ter war es soweit. Der Guardia kehrte der BrĂŒcke den RĂŒcken zu, um den Blick ĂŒber das GelĂ€nde schweifen zu lassen, und ich kam an beiden TĂŒrmen vorbei. Ohne Zögern bewegte ich mich weiter, mit dem Geschmack des Erfolges im Mund und hĂ€mmerndem Herzklopfen. Ich hatte das GelĂ€nde verlassen, unter mir lag das freie Feld; es fehlten nur zwei Meter bis zur wiedererlangten Freiheit.

»Wenn du dich bewegst, schieß’ ich dich ab wie einen Hund, du Arschloch!« schrie ein Guardia Civil und zielte mit seiner Waffe auf meinen Kopf.

Er war aus der TĂŒr des ersten Kontrollpostens aufgetaucht, mir blieb keine Zeit zu reagieren.

»Ich hab ihn, alles klar!« rief er seinen lÀcherlich gemachten Kollegen zu, die jetzt mit ihren Gewehren hinter mir standen.

Ich wollte sterben. Mehrere Flutlichtscheinwerfer leuchteten auf meine Position. Ich auf den Knien auf dem Asphalt, mit den HÀnden auf dem Kopf, besiegt und am Boden zerstört.

Stunden spĂ€ter wurde ich wieder in den Trakt gebracht und in eine Zelle gesteckt. Ich fĂŒhlte mich mutlos wegen der entgangenen Gelegenheit. Ich hatte alles gut berechnet, aber ich hatte nicht gewusst, dass zur ersten Kontrolle eine versteckte Kamera gehörte, die die ganze BrĂŒcke abdeckte und mithilfe derer sie mich im letzten Moment entdeckt hatten. Ich war angearscht. Es wĂŒrde viel Zeit vergehen, bis ich wieder vor so einer Gelegenheit stand.

Der GefĂ€ngnisdirektor ordnete meine Isolation an. Ich ging also wieder alleine auf den Hof, was meine Beziehung zu den Schließern verschlechterte. Ich zeigte mich ihnen gegenĂŒber giftig, bedachte sie stĂ€ndig mit Beschimpfungen, ohne erkennbares Motiv. Ich ließ an ihnen den ganzen Frust aus und das ohnmĂ€chtige GefĂŒhl, an diesem absurden Ort festgehalten zu sein.

Eines Nachmittags, als ich ins BĂŒro ging, um zwei Briefe abzuholen, beobachtete ich durch die Fenster einen kanarischen HĂ€ftling im nebenan gelegenen Trakt fĂŒr Neuaufnahmen, den ich aus dem GefĂ€ngnis Daroca kannte. Er war dort fĂŒr den Putzdienst in Isolationstrakt fĂŒnf eingeteilt gewesen, wo er sich abgeschieden und ausgestoßen vom Rest der inhaftierten Bevölkerung befand — er war Vergewaltiger. In seiner Doppelfunktion als Schließergehilfe und Ordonnanz des Trakts stahl er das Geld derer, die ihm EinkĂ€ufe auftrugen oder verkaufte einzelne Zigaretten fĂŒr hundert Peseten an die Genossen, die die Lust zu rauchen nicht zurĂŒckhalten konnten — in der Isolation war das Rauchen verboten. Das alles in der Deckung des Schutzes, den ihm die Direktion angedeihen ließ. Jetzt war er hier und lĂ€chelte breit, er war im Grad aufgestiegen und plusterte sich vor seinen Landsleuten auf, die der bloße Gedanke an eine Verlegung in die Anstalten ersten Grades auf der Halbinsel ĂŒber alle Maßen in Schrecken versetzte. FĂŒr sie war jener Bastard ein richtiggehender Held. ZurĂŒck in der Zelle entschied ich, ihm eine Lehre zu verpassen und zu bestrafen, was die Direktion belohnt hatte: Das ekelhafte Verhalten jenes Misthaufens. Zu diesem Zweck fabrizierte ich in jener Nacht ein metallenes Messer mit einem aus Stoffstreifen gemachten Griff.

Am nĂ€chsten Morgen meldete ich mich beim Arzt an. Gegen Mittag kamen sie, um mir aufzuschließen, und mit dem Messer im Hosenbund verborgen ging ich auf das WachhĂ€uschen zu. Ich holte eine Packung Zigaretten aus der Tasche.

»Hören Sie«, sagte ich zu dem Schließer, der drinnen saß, »ich möchte diese Schachtel einem Freund geben, der dort drinnen ist, im Trakt fĂŒr Neuaufnahmen.«

»Wem denn?«

»Er ist vor Kurzem aus Daroca gekommen, ich kann mich jetzt nicht an seinen Namen erinnern.«

»OK, geben Sie her«, antwortete er und öffnete die TĂŒr.

Ich stĂŒrmte nach drinnen, holte das Messer aus dem Hosenbund und stieß den Schließer gegen einen kleinen Metallschrank: »Welcher Knopf öffnet die TĂŒr in die Neuaufnahmen?«

»Der hier«, antwortete er erschrocken.

Ich drĂŒckte ihn und ging ins Innere des Trakts. Das Messer hielt ich in der rechten Hand. Ich ging auf den Hof, und als ich ihn gefunden hatte, ging ich auf ihn zu. Die anderen Gefangenen gingen eilig fort, und eine große Stille erfasste den Hof.

»Na? Erinnerst du dich nicht an mich?« grĂŒĂŸte ich ihn.

»Hör mal, Che, was hast du vor?«

Ohne ein weiteres Wort stĂŒrzte ich mich auf ihn und verpasste ihm mehrere Messerstiche in die Seite, ohne Tötungsabsicht. Ich wollte ihm einen Schrecken einjagen, nichts mehr. Er fing an zu schreien und ich ließ ihn los, er rannte bis zum Wachhaus, von wo sie ihn in die Krankenstation brachten, seine neue ZufluchtsstĂ€tte. Ich gab das Messer ab und ging in die Zelle zurĂŒck. Schon in der Zelle diskutierte ich mit dem Dienstleiter, der anordnete, mir einen Teil meiner Habe wegzunehmen.

»An deiner Stelle wÀre ich schön ruhig!« drohte er mir.

»Fick dich ins Knie, du Hundesohn.«

»Der einzige Hund hier bist du, und außerdem noch rĂ€udig.«

»Du bist eine mutige Schwuchtel, so durch die geschlossene TĂŒr…«

Einige Stunden nach diesem Zwischenfall kamen sie als Gruppe, um die Zelle zu durchsuchen, in der ich saß. Wenigstens kamen sie mit dieser Ausrede.

»TarrĂ­o«, sprachen sie mich an, »wir mĂŒssen Ihre Habe durchsuchen. Wir haben Befehl vom Direktor, Ihnen Handschellen anzulegen, wĂ€hrend Sie draußen warten.«

Sie öffneten die TĂŒr und legten mir Handschellen an. Als ich gefesselt war, baute sich der Dienstleiter, den ich beschimpft hatte, vor mir auf: »Jetzt bist du schon weniger frech, was?«

Dieser Provokation folgte eine Reihe Fausthiebe, die ich mit einem Tritt beantwortete, der ihn sich krĂŒmmen ließ. Die ĂŒbrigen Schließer warfen sich auf mich und machten mit bei der SchlĂ€gerei. Sie schlugen mich, bis ich am Boden war, und schleiften mich danach in die benachbarte Zelle. Dort nahmen sie mir die Fesseln ab, zogen mir die Kleidung aus und ĂŒbergaben mir einen blauen Overall. Ein Rinnsal Blut lief von meiner Nase ĂŒber die Lippen das Kinn hinunter. Nackt zog ich mir den Overall an und wurde dann erneut in Handschellen gelegt. Allein gelassen begann ich, in der Zelle auf und ab zu gehen. Ich war starr vor Wut, obwohl ich eigentlich wusste, dass ich sie diesmal provoziert hatte, mit meinen stĂ€ndigen Beschimpfungen. Die Strafvollzugsordnung sah solche Methoden vor, es war legal. Sie erfĂŒllten ihre Pflicht als Henker, denn das war es, was ihr Beruf im Endeffekt war. FĂŒr sie war es normal und sogar heroisch, sich in der Gruppe ĂŒber einen Gefesselten herzumachen; fĂŒr mich war das nur scheußlich und feige. Ich von meinem subjektiven Standpunkt aus verstand damals nicht, dass vielleicht fĂŒr sie Feigheit bedeutete, auf einen Unbewaffneten einzustechen, wĂ€hrend es mir angemessen erschienen war. Wer war in Besitz der Wahrheit? In ein und derselben Welt lebten wir absolut verkehrte Welten. Ihr Begriff von Gerechtigkeit war Lichtjahre von meinem entfernt; was fĂŒr sie ethisch und moralisch war, bedeutete fĂŒr mich eine scheinheilige Farce. Ich tat nicht so, als wĂŒrde ich andere Gesetze respektieren als die meiner Anarchie, einer Anarchie, die mich fĂŒr die Rolle des Bösewichts vorsah. Im Laufe meines Lebens hatte ich verwundert beobachtet, wie die Fehler, die im Namen des mehrheitlichen Gemeinwohls gemacht wurden, Fehler blieben, wĂ€hrend in meinem Fall dieselben Fehler zu Straftaten wurden, weil ich sie in meiner Eigenschaft als sozial Marginalisierter beging. Wenn ein RĂ€uber von modern und bis an die ZĂ€hne bewaffneten Polizisten mit Kugeln durchlöchert wurde, fanden die Gesellschaft und die Medien dafĂŒr den Begriff »zu Fall gebracht«. War der zu Fall Gebrachte dagegen einer dieser HĂŒter des Gesetzes oder ein BĂŒrger, geschah dem Begriff eine Verwandlung, und man sprach von Mord. Das Recht zu strafen (ius puniendi) hatte einzig der Staat inne. Man konnte strafen und töten, im Namen des Staates, nicht aus Rache oder Wut. Im ersten Fall zwang man Menschen dazu, selbstĂ€ndig oder als AusfĂŒhrung eines Befehls zu strafen und zu töten, und beim MilitĂ€r bekamst du die Grundausbildung. Egal ob jemand christlich war. Im Namen Gottes und des Vaterlands war alles erlaubt und man durfte vergewaltigen, ĂŒberfallen, aufs Geratewohl plĂŒndern und ein sogenannter Held sein. Wer hatte jemals schlimmere Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen als Kirche und Staat? Wenn du dich weigertest, schickten sie dich in den Knast: Viele junge MĂ€nner saßen in spanischen GefĂ€ngnissen hinter Gittern wegen Totalverweigerung, ganze MĂ€nner eingesperrt wegen Apologie des Friedens. Im zweiten Fall wurdest du, wenn du ĂŒberfielst oder tötetest, zu einem verabscheuungswĂŒrdigen Kriminellen, zum Mörder, denn du warst nicht im Besitz der hinreichenden LegitimitĂ€t. Das System rechtfertigte seine Straftaten selbst. Es rechtfertigte sie seit dem ersten Krieg, der auf Erden stattgefunden hatte, bis zu den heutigen modernen. Und es tat das mit dieser Doppelmoral, einer in höchstem Maße zynischen Doppelmoral. Nein, sie waren nicht besser als ich, und ich nicht besser als sie; vielleicht war ich weniger scheinheilig, doch nicht besser. Wir alle waren in Evolution befindliche Tiere, und ob es uns gefiel oder nicht, es gab nichts Schlimmeres als das: Menschen, in denen noch viel von der Bestie steckte.

Drei Tage ließen sie mich unter diesen Bedingungen, Tag und Nacht in Handschellen. Am dritten Tag unter dem wiederholten Protest meiner Genossen kamen sie, um die Handschellen abzunehmen und mir Kleidung und Habe wiederzugeben. Im Monat Dezember sollte ich in die Anstalt Zamora gebracht werden, um an einem Prozess teilzunehmen. Dort wartete ein Strafantrag von neunundzwanzig Jahren Haft auf mich.

GefÀngnis Zamora, Dezember 1990

Nach Transitaufenthalten in Puerto und in der Anstalt CĂłrdoba kam ich in dieses alte GefĂ€ngnis. Ich war von der langen Reise, die ich hatte machen mĂŒssen, erledigt. Sie hatten auf dem GelĂ€nde gegenĂŒber den WachdienstgebĂ€uden einen Kaffeeautomaten aufgestellt. Aneinandergekettet blieben Antonio Jara, ein bekannter Ausbrecher, und ich vor dem Apparat stehen, und wir tranken heißen Kaffee, der uns sehr gut tat. Dann rafften wir so gut wir konnten unsere TĂŒten zusammen. In kleineren Gruppen brachten sie uns dann in das Innere des GefĂ€ngnisses. Ich wurde in den tubo gebracht, die anderen in den normalen Trakt. Alte Erinnerungen kamen in mir hoch, immerhin hatte ich in diesen zylinderförmigen Disziplinierungszellen ein Jahr meines Lebens verbracht, von Sonderstrafe zu Sonderstrafe. Die Zellen waren immer noch genauso, nichts hatten sie an ihnen verĂ€ndert, obwohl in der Anstalt im Allgemeinen vieles anders geworden war. Die Schließer legten ĂŒbertriebene Höflichkeit und Respekt an den Tag, was mir nicht dazu zu passen schien, was ich aus der Vergangenheit von ihnen kannte. Die vom neuen GefĂ€ngnisdirektor auferlegte Pflicht, respektvoll mit den Gefangenen umzugehen, krĂ€nkte sie anscheinend ĂŒber alle Maßen. Die Jugendlichen waren definitiv in die Anstalt Herrera de La Mancha verlegt worden, nach einer Reihe von AufstĂ€nden. Jetzt waren die meisten, die in Zamora einsaßen, Ă€ltere Gefangene, die vorher in Puerto de Santa MarĂ­a gewesen waren. Und das war der andere Grund dafĂŒr, dass die Schließer locker eingestellt waren: Sich an einem Haufen siebzehn- bis neunzehnjĂ€hriger GrĂŒnschnĂ€bel auszulassen und dies mit in den hĂ€rtesten Strafanstalten des Staates derb gewordenen MĂ€nnern zu tun, waren verschiedene Dinge. Um dieses entspannte Klima herstellen zu können, waren viele Jahre ins Land gegangen, und viele von uns hatten zahllose Übergriffe und Folter ĂŒber sich ergehen lassen mĂŒssen, doch unsere Anstrengungen hatten sich gelohnt. Das Zusammenleben an diesem Ort war ertrĂ€glicher geworden.

Am nĂ€chsten Morgen brachten sie mich zusammen mit den anderen Gefangenen auf den Hof hinunter. Der Trakt war immer noch fĂŒr den ersten Grad bestimmt. Ich traf meinen Freund Santiago Izquierdo Trancho, der dort seine Strafe absaß. Wir drĂŒckten uns in einer festen Umarmung.

»Hallo, du Held«, grĂŒĂŸte er mich, »wie geht’s?«

»Gut. Ich komme zum Prozess wegen des Toten. Und du?«

»Hier sitze ich ab.«

In dem Trakt hatte man einen kleinen Sportraum eingerichtet, in dem es Hanteln, einen Sandsack zum Boxen und anderes SportgerĂ€t gab; auch hatten sie die Cafeteria neu eingerichtet, mit Fernsehapparat und Videorecorder, außerdem gab es noch eine Töpferwerkstatt. Unerhörter Luxus, verglichen mit dem, was ich von frĂŒher kannte. Jetzt, da ich neben meinem Freund durch diesen Raum ging, erinnerte ich mich an die kalten Wintermorgen, die wir auf diesem Hof verbracht hatten, ohne die Cafeteria betreten zu können. Auf jeden Fall kam mir das Ganze ziemlich luxuriös vor.

»Was fĂŒr ein Strafmaß fordern sie?«

»Neunundzwanzig Jahre.«

»Rechne mit mindestens zwanzig«, weissagte er mir.

»Ja, sowas stelle ich mir vor.«

»Ich hab gerade einen Fluchtplan laufen, zusammen mit Carlos, und wir brauchen eine große SĂ€ge, denn sie haben doppelte Gitter eingebaut. Kannst du uns die besorgen?«

»Nein. Ich habe nur eine, und ich werde sie sobald ich kann benutzen.«

»Verstehe…«

Tranchos Ausdauer war bewundernswert. Er hatte auf seiner Habenseite eine lange Liste an Ausbruchsversuchen zu verzeichnen, doch nie hatte er es geschafft. Er hatte es wieder und wieder versucht, und er wĂŒrde immer so weitermachen.

Er war ein Rebell. Die zehn Jahre GefĂ€ngnis, die meiste Zeit zu Isolationsbedingungen oder in der geschlossenen Abteilung, hatten seinen Idealismus und seine Rebellion nicht untergraben können. Wie nur wenige, weigerte sich mein Freund, leichte Kost fĂŒr die Bestie Knast zu sein. Sein Verhalten machte mir Mut. Er stellte mir Carlos Esteve vor, seinen Partner bei dem Abenteuer, das er vor hatte. Sein Äußeres, insbesondere sein gutmĂŒtiges Jungengesicht, konnte mich da noch nicht die KaltblĂŒtigkeit erkennen lassen, die er hinter seiner Intellektuellenbrille versteckte. Jahre spĂ€ter sollte dieser schmĂ€chtige Mann bei einem der spektakulĂ€rsten AusbrĂŒche, die jemals in spanischen und europĂ€ischen GefĂ€ngnissen stattgefunden hatten, die Hauptrolle spielen. FĂŒr den Moment beließen wir es bei einer herzlichen BegrĂŒĂŸung.

WĂ€hrend des Spaziergangs wurde ich gerufen, um mit den Sozialarbeiterinnen zu sprechen. Man brachte mich in ein BĂŒro, wo sie auf mich warteten, in LehnstĂŒhlen sitzend, hinter ihren Schreibtischen.

»Caramba!« rief eine von ihnen, »Sie haben sich aber verÀndert.«

Ich setzte mich hin, ohne auf diese Dummheit zu antworten.

»Wie geht es Ihnen, Tarrío?« fing die andere an.

»Sehr gut…«

»Wir haben Sie gerufen«, fiel sie mir gleich ins Wort, um Sie zu fragen, ob Sie etwas von uns brauchen. Ob Sie vielleicht möchten, dass wir bei Ihnen zu Hause oder bei einem Familienangehörigen anrufen, um ihnen mitzuteilen, dass Sie hier sind. Sie wissen wahrscheinlich schon, dass jetzt vis-a-vis-Besuche erlaubt sind.«

»Ich brauche nichts von Ihnen«, antwortete ich kurz angebunden.

»Sie sind ziemlich schroff, Tarrío«, sagte die Kollegin.

»Ich bin wie immer, wie vor zweieinhalb Jahren…«

»Die Dinge haben sich geĂ€ndert…«

»Ja, aber das ist nicht Ihnen zu verdanken.«

Das gesagt, stand ich auf und verabschiedete mich. Ich war anderthalb Jahre in diesem GefĂ€ngnis gewesen und hatte alle möglichen Nöte ausgestanden, und sie waren nur ein einziges Mal zu mir in den tubo gekommen, um mich zu sehen, mit ihrem billigen nuttigen LĂ€cheln. Sie waren dermaßen falsch, dass sie es nicht einmal dazu brachten, mich ans Masturbieren denken zu lassen, trotz der Abstinenz.

Was sollte diese Farce? Zamora war etwas, das ich nie vergessen wĂŒrde, niemals. Ich war voll des Zorns auf diese Leute, ich glaubte ihnen kein Wort, ich konnte nicht glauben, etwas in oder an ihnen sei gut. Nicht nach all dem, was sie mir angetan hatten. Sie hatten ihre ZustĂ€ndigkeit nicht wahrgenommen und waren dafĂŒr direkt verantwortlich, wie auch die Erzieher, die Psychologin, die Ärzte und dergleichen institutionelle AmtstrĂ€ger. Ich ĂŒbernahm meinen Teil Verantwortung in Form jahrelanger GefĂ€ngnishaft. Sollten sie die ihre wahrnehmen! Stattdessen waren sie daran Schuld, dass viele unserer Herzen voll Hass waren, voll des GefĂŒhls der Ohnmacht und der Verzweiflung, andauernd Anmaßungen und Ungerechtigkeit aushalten zu mĂŒssen. Ein paar Tage spĂ€ter kam ich vor Gericht, um fĂŒr meine gesellschaftliche Verantwortung geradezustehen. Der Prozess lief in der zweiten Kammer des Provinzialgerichts. Ich wurde vollstĂ€ndig durchsucht und in einen Transporter gebracht, umringt von acht PolicĂ­as Nacionales. Die Zeugen waren zuvor in einem gesonderten Transporter dorthin gefahren worden, und man hielt mich ĂŒber die ganze Verhandlung getrennt von ihnen. Der Gerichtshof war vollstĂ€ndig von der Polizei besetzt, aus Angst vor einem Attentat gegen meine Person durch die Familie des Toten. FĂŒr Romafamilien war neben anderer BrĂ€uche eine solche Rache typisch. Und in der Tat waren sie die einzig legitimen RĂ€cher, und nicht diese Herde Unbekannter, die sich dazu im Recht fĂŒhlte, jedermann ihre Form von Justiz aufzuzwingen. Als wir die Treppen zum Saal hinaufgingen, fand einer der Bullen die beruhigenden Worte: »Sei unbesorgt, Junge, bei uns bist du sicher.«

Was mir noch gefehlt hatte. WĂ€re nicht Augenblicke spĂ€ter ĂŒber die Zeit verhandelt worden, die mir zum Leben blieb, mir wĂ€re das alles ziemlich komisch vorgekommen. Jetzt wĂŒrde man mich zu zwanzig Jahren GefĂ€ngnis verurteilen, um mir das Leben zu retten.

Bevor es in den Saal ging, redete ich mit meinem Anwalt. Ich hatte alles zugegeben und sie hatten die Waffe, da wĂŒrde es nichts zu holen geben außer vielleicht einer Strafminderung. Ich bat meinen Anwalt um die Akte und las mir die Aussagen meiner Mitgefangenen durch. Darunter fand ich eine Eingabe, unterschrieben von einem Gefangenen, den ich nicht kannte. Er bat die Anstaltsleitung darum, nicht als Zeuge geladen zu werden. Ich merkte mir seinen Namen und wĂŒnschte mir, sie hĂ€tten ihn geladen, damit ich ihn kennenlernen konnte. Was die anderen Zeugen anging, war alles in Ordnung, sie hatten sich in der Sache fantastisch verhalten. Im Saal wĂŒrden sie sich weigern, auf auch nur eine der Fragen des Richters und des Staatsanwalts zu antworten, wie wir es vorher im GefĂ€ngnis ĂŒber Mitteilungen verabredet hatten.

Zu Beginn der Verhandlung brachten sie mich in den Saal. Er war groß, BĂ€nke in Reihen auf braunem Holzfußboden, darauf die FettĂ€rsche von BĂŒrgern und Journalisten. Ich setzte mich, umringt von Polizisten, auf die Anklagebank, dem Gericht gegenĂŒber. Dort, wie wartende Geier, zwei Magistraten und der Vorsitzende. Sie warfen mir ihren erloschenen Blick zu, ihren Blick, der daran gewöhnt ist, MĂ€nner und Frauen in Haft zu schicken, als Routine, nichts Besonderes. Zu meiner Linken sortierte der Staatsanwalt Papiere, versunken in sein PlĂ€doyer, wĂ€hrend mein Anwalt zu meiner Rechten mich durchdringend ansah, als wolle er entdecken, was meine ernste Mine verbarg. Hinter mir eine Gruppe Fotografen bei dem Versuch, Bilder fĂŒr ihr Blatt zu schießen, um der Gesellschaft dann die Effizienz ihrer Justiz vorzufĂŒhren: Das hier war ein gefundenes Fressen fĂŒr all diese Aasgeier.

Der Prozess begann mit der Verlesung der Anklagepunkte. Danach traten die Zeugen auf. Leute, die ich ĂŒberhaupt nicht kannte und die nichts von mir wussten, traten auf den Plan und begannen unter Druck des Staatsanwalts ĂŒber mich zu spekulieren. Die Gerichtspsychiater, die Monate nach der Tat zu mir ins GefĂ€ngnis gekommen waren um mich zu interviewen, stuften mich als GewalttĂ€ter ein, als in mich gekehrt und ohne Respekt gegenĂŒber dem AutoritĂ€tsprinzip. Sie lobten mein hervorragendes Erinnerungsvermögen, wie sie sich ausdrĂŒckten, und hoben hervor, dass ich mit zwanzig Jahren Shakespeare und Nietzsche las und ohne weiteres verstand – das war fĂŒr sie außerordentlich. Diese Lobreden gefielen meinem intellektuellen Ego. Die Gefangenen, die bei den VorfĂ€llen dabei gewesen waren, weigerten sich, wie wir verabredet hatten, die Fragen des Staatsanwalts zu beantworten, trotz der Drohungen des Vorsitzenden. Der Staatsanwalt rief dann den Menschen in den Zeugenstand, der mein junges Leben ins GefĂ€ngnis gebracht hatte, zu diesen Aasvögeln mit wichtigen Titeln. Er stritt ab, dabei mitgeholfen zu haben, und obwohl der Staatsanwalt seine Aussage laut vorlas, weigerte er sich, dessen Fragen zu beantworten. Er war beklommen, ihm musste ziemlich unwohl sein in seiner Haut. Da saß er, unwĂŒrdig und verschĂ€mt, er fĂŒhlte meine Augen messerscharf auf sich gerichtet. Als er aus dem Saal ging, begegneten sich unsere Blicke kurz. Meine Botschaft war deutlich: Ich behielt mir das Recht vor, die Rechnung zu begleichen. Dann war ich dran. In meinen knappen Antworten auf die Fragen des Staatsanwalts war nichts, was nicht schon ausgesagt gewesen wĂ€re. Ich bekam langsam SchwindelgefĂŒhle und Kopfschmerzen. Wer kann echte Gerechtigkeit garantieren? Ich war nur ein Gefangener, der nach seiner Verurteilung durch den Abfluss der GefĂ€ngniskloake gespĂŒlt wurde, ob nun irrtĂŒmlich oder zutreffenderweise. Nichts hĂ€tte geĂ€ndert, jenen Eseln zu erklĂ€ren, dass ich meinen Teil Verantwortung auf mich nahm, als Akteur beim Ausgleich offener Rechnungen mit unbeabsichtigt tödlichem Ausgang, und dass ich eine unterschiedliche Auffassung von sozialer und behördlicher Verantwortlichkeit hatte. Sie wĂŒrden mich auslachen. Ich war der Angeklagte und war deshalb nicht glaubwĂŒrdig. Die Menschen waren nicht gleich vor dem Gesetz. Wie sollten wir gleich sein, wenn die mit Rechtsprechung Beauftragten sich als Höhere Wesen fĂŒhlten? Kein Mensch soll oder kann ĂŒber einen anderen Menschen richten, ohne vorher in seinem eigenen Namen ĂŒber sich selbst zu urteilen – selbst so wĂ€re es schwerlich zu schaffen, objektiv oder gar gerecht zu sein. Es spielte keine Rolle, dass das GefĂ€ngnis selbst die Gewalt schĂŒrte, die mich auf diese Bank gebracht hatte. Es war nicht dasselbe, einen einfachen StrĂ€fling abzuurteilen wie einen GefĂ€ngnisdirektor und damit das Justizministerium in die Verantwortung zu nehmen. Warum hatten sie uns alle wieder zusammengelegt, in dieses GefĂ€ngnis, trotz der Geschehnisse in Teruel? Dass dergleichen passieren musste, war klar gewesen, und nichts war getan worden, um es zu verhindern, weil es niemanden kratzte, dass sich ein paar Gefangene gegenseitig umbrachten. Was also sollte das alles hier? Weshalb richtete man jetzt ĂŒber mich, und in wessen Namen? Der Gesellschaft? Der Gesellschaft war es vollkommen egal, dass ein Gefangener gestorben war, viele freuten sich sicherlich sogar. Einer weniger, bellten einige. Was sollte also der ganze Quatsch, wenn die UmstĂ€nde, die den fraglichen Vorfall provoziert hatten, im GefĂ€ngnis immer noch an der Tagesordnung waren und weiterhin Leben und erneute unsinnige Prozesse kosteten? Ich wusste genau, dass mein Urteil von vornherein feststand und dass das alles eine Farce war, die eine hohe Strafe wegen Mordes formal legalisieren sollte. Die Wortgewandtheit des Staatsanwalts machte mir Spaß, als er jenen Gefangenen als Zeugen gebrauchte, wohl wissend, dass das leicht der Auslöser fĂŒr ein neues Verbrechen sein konnte.

ZurĂŒck im GefĂ€ngnis versprach ich mir, GerichtssprĂŒchen keinerlei Bedeutung zukommen zu lassen. Ich weigerte mich, den Richtern zuzugestehen, ĂŒber mich zu urteilen. Ich konnte ihnen nichts anerkennen, nicht einmal als Menschen, ihnen, die derart viele Leute in Haft schickten, und denen gleichgĂŒltig war, was dort mit ihnen geschah; sie kĂŒmmerte nicht, dass innerhalb der Mauern die in ihrer AmtsfĂŒhrung ach so hoch gehaltenen Gesetze gebrochen wurden. Ich wĂŒrde mich selbst befreien oder bei dem Versuch sterben, doch ich wĂŒrde die Haft nicht akzeptieren, bis zum letzten Atemzug nicht.

Weihnachten kam. Trancho lieh mir fĂŒr einige Tage seinen Fernsehapparat und ich konnte mich in der Zelle mit den Kurven der spektakulĂ€ren Marta SĂĄnchez und ihrer bedeutenden Brust unterhalten. Der Krieg im Golf von Persien war inzwischen ausgebrochen und Spanien hatte mit schĂ€bigster UntertĂ€nigkeit FlugzeugtrĂ€ger und heldenhafte Patrioten dorthin geschickt, aus Eitelkeit, SolidaritĂ€t mit den Herren der Welt zu zeigen. Ironischerweise maß sich die GrĂ¶ĂŸe eines Volkes, die GrĂ¶ĂŸe der gefeierten Demokratie nach ihrem militĂ€rischen Potential. Es war ein bescheuerter Krieg, der uns zeigte, wie unnĂŒtz Staaten und VaterlĂ€nder waren, und der uns die Notwendigkeit klar machte, uns gegen diejenigen aufzulehnen, die sich in ihrem Militarismus und ihren nutzlosen Kriegen gefielen. Wie konnte die Gesellschaft mit verschrĂ€nkten Armen dabei zusehen, wie sie junge Totalverweigerer – die einzigen Helden dieses Krieges – ins GefĂ€ngnis warfen, und wie ihre Leute, ihre Kinder, Eltern, Freunde und BrĂŒder sich auf das Abschlachten vorbereiteten. Was war an all dem heldenhaft? FĂŒhlte sich diese Gesellschaft moralisch legitimiert, ĂŒber meine Fehler zu richten und zu bestrafen? Ohne Frage war Marta SĂĄnchez sehr humanitĂ€r gewesen, sie hatte es gewagt, an den Golf zu fahren, um fĂŒr die spanischen Soldaten zu singen – nichts war zu schade, um die Moral dieser Helden zu stĂ€rken. Schließlich war doch Weihnachten, oder?

Am 28. packte ich meine Sachen und verabschiedete mich von Trancho. Ich wĂŒnschte ihm GlĂŒck bei dem Ausbruch, den er zusammen mit Carlos plante, auf dass die beiden dabei die Freiheit erreichten. Hoffentlich wĂŒrden wir uns wiedertreffen, doch nĂ€chstes Mal draußen auf der Straße. Nach einer Durchsuchung wurde ich von zwei Schließern bis zum GefĂ€ngniseingang gebracht, wo die Guardia Civil auf mich wartete. Man legte mir Handschellen an und nahm mir die FingerabdrĂŒcke ab. Mit meinen TĂŒten in der Hand ging ich dann bis zum Gefangenentransporter, packte sie ihn den Kofferraum und stieg ein. Drinnen wartete eine angenehme Überraschung auf mich, doch noch hatte ich nichts mitbekommen. Ich setzte mich in einen der KĂ€fige.

»He, José!« rief mich eine Stimme.

»Wer bist du?« rief ich zurĂŒck.

Es herrschte ein ziemliches Wirrwarr aus gleichzeitigen Unterhaltungen zwischen Gefangenen.

»Mensch, ich bins, Musta!« schrie er.

»Ach Quatsch! Wo bist du?«

»Ich bin hier, hinter dir, glaube ich. Wir fragen die Bullen, ob sie uns zusammen fahren lassen, OK?«

»Gut.«

Als die letzten Genossen eingestiegen waren, rief ich den GruppenfĂŒhrer: »Guardia, hören Sie!«

»Was willst du?«

»Ich will in einen anderen KÀfig und mit einem Freund zusammen fahren, er sitzt weiter hinten, seien Sie so nett.«

»Na gut, aber ich will eine ruhige Fahrt, verstanden?«

»Ja ja, keine Sorge…«

Als der Wagen in Fahrt war und die Guardias in ihren Kabinen, öffneten sie uns die TĂŒr und wir umarmten uns auf dem Flur. Ich bedankte mich bei dem Genossen, der den KĂ€fig wechselte, damit mein Freund und ich zusammen fahren konnten. Wir redeten in unserer Muttersprache.

»Na, wie geht’s?« fragte ich ihn.

»Mir, gut, und dir?«

»Mir auch. Ich war ĂŒberrascht, von deiner Verhaftung zu hören und von der der anderen. Was ist passiert?«

»Wir haben viele Fehler gemacht! Unsere mangelnde Erfahrung… Und obwohl ich mich damit abgefunden habe, denke ich stĂ€ndig an die Chancen, die wir hatten! Tut mir Leid fĂŒr dich, ich wĂ€re gern frĂŒher gekommen, um mit dir zusammen zu machen, worĂŒber wir gesprochen haben.«

»Egal, denn wir haben Zeit und Lust, und das ist jetzt das Wichtige. Wir mĂŒssen unsere Fehler korrigieren, und der Rest kommt von selbst«, munterte ich ihn auf. »Ich freue mich sehr, dich zu sehen, eigentlich waren wir ja nicht hier verabredet…«

»Wo fÀhrst du hin?« fragte er mich.

»Nach Teneriffa 2, da sitze ich ab. Es hat nicht viel gefehlt, um von da abzuhauen, und ich werde es nochmal versuchen.«

»Pass auf.«

»Na klar. Wo bringen sie dich hin?«

»Ich fahre zu einem Prozess nach Zaragoza.«

Wir verabredeten, wie wir kommunizieren wĂŒrden, um den Kontakt nicht zu verlieren. Es war wichtig, voneinander zu wissen und informiert zu bleiben ĂŒber Verlegungen oder andere Vorkommnisse. Es war leichter zu ertragen, wenn man die Gegenwart wahrer Freunde fĂŒhlte, die Gegenwart geliebter Personen ohne Vorbehalte. as war meine einzige wirkliche Familie. Immer war es so gewesen. Sie waren es, die mich im Internat begleitet hatten, in der Erziehungsanstalt und jetzt im GefĂ€ngnis. Und sie waren es, die mich unbedingt und bis zum Ende begleiten oder die eine Waffe in die Hand nehmen wĂŒrden, um mich zu verteidigen oder zu befreien.

Sie hatten fĂŒr die Verlegungen das GefĂ€ngnis von Carabanchel gegen das von AlcalĂĄ-Meco gewechselt, der Transporter hielt also vor Letzterem. Drinnen trennten sie uns. Obwohl wir beide im ersten Grad waren, wurden wir in unterschiedliche Trakte gebracht. Ich kam in eine Zelle zusammen mit Antonio Jara, mein Freund Musta kam in Trakt sechs. Wir wĂŒrden nach drei Tagen beide weiterfahren und uns auf der Reise wiedersehen.

Im Trakt fĂŒr Neuaufnahmen besorgte Antonio ein paar Joints von Bekannten von ihm. Er hatte außerdem eine TĂŒte mit verschiedenem leckeren französischen KĂ€se dabei, mit dem wir uns vollfraßen. Wir legten uns auf die zwei Stockbetten, die es in der Zelle gab und rauchten mehrere Joints. Antonio Jara war ein bekannter BankrĂ€uber und hatte eine der umfangreichsten Kriminalgeschichten des Landes auf dem Kerbholz. Er kannte mehrere LĂ€nder und war viermal aus spanischen GefĂ€ngnissen ausgebrochen. Ein richtiger Bandit. Ich hörte ihm gerne zu:

»Glaub mir, JosĂ©, vierzig Jahre ist das beste Alter fĂŒr einen Mann.«

»Und wie ist das so?« fragte ich ihn.

»Du hast Erfahrung, Reife, machst nicht mehr so viele Fehler wie als du jĂŒnger warst, und du kriegst immer noch einen hoch.«

»Das, wenn ich frei sein sollte, nicht?«

»Dieses Jahr noch komme ich nach Brasilien«, antwortete er ĂŒberzeugt.

»Hoffentlich haben wir GlĂŒck, das brauchen wir.«

»Wie alt bist du, José?«

»Zweiundzwanzig.«

»Versuch es weiter, mit aller Kraft, und du wirst es schaffen«, sprach er aus.

Und wie vorhergesagt sollte es einer von uns beiden im nĂ€chsten Jahr schaffen auszubrechen. Doch im Moment waren das nur TrĂ€ume, Projekte, Hoffnungen, unter deren Eindruck wir das Jahr 1991 begrĂŒĂŸten.

Wir verabschiedeten das alte Jahr mit einer weiteren Runde Joints. Man gab uns ein scheinbar weihnachtliches Essen und zwölf Trauben in schlechtem Zustand, weshalb wir sie nicht aßen. Den französischen KĂ€se aber aßen wir auf, und wir mampften sĂŒĂŸes Backwerk, das wir im Economato gekauft hatten. Wir saßen am Tisch und unterhielten uns. Dann packten wir unsere Sachen fĂŒr die Reise, die am folgenden Tag auf uns zu kam, drei Tage nach unserer Aufnahme in AlcalĂĄ-Meco.

In den amerikanischen Aufnahmezellen traf ich Musta wieder, und auch Garfia. Wir begrĂŒĂŸten uns und ich redete durch die Gitter mit meinem Freund: »Halte den Kontakt aufrecht, OK?«

»Na klar. Zweifle nicht daran. Ich verschicke die Briefe, wie du mir gesagt hast. Sei unbesorgt.«

»Vergiss nicht, mit Yanko und den anderen zu reden«, erinnerte ich ihn.

»Und du mit Alba.«

»Das ist praktisch schon passiert.«

Juanjo Garfia unterhielt sich angeregt mit Jara, Titi und Isidro, alles bekannte Ausbrecher und ging dann bis an das Gitter, wo Musta und ich miteinander redeten. »Wie sieht’s bei dir mit Geld aus?« fragte er mich.

»Beschissen.«

Er holte zweitausend Peseten aus seinem Portemonnaie und gab sie mir. Dann gab er mir noch ein paar Schachteln Zigaretten. Solche gegenseitigen Gefallen waren selbstlose Hilfe, sehr ĂŒblich unter uns Ausbrechern. Wir hatten viel VerstĂ€ndnis und SolidaritĂ€t fĂŒreinander, denn wir kannten alle unsere BedĂŒrfnisse, und das hielt uns zusammen in unserem kleinen Kreis.

»Viel GlĂŒck, José«, wĂŒnschte er mir.

»Danke, pass auch du auf dich auf, OK?«

Ich gab meinem Freund die HĂ€lfte des Geldes und der Zigaretten, ich warf sie ihm durch das Gitter zu. Als der Transporter nach CĂĄdiz bereit war, wurden ich und andere Genossen von der Guardia Civil gerufen und aufgefordert einzusteigen. Allein die Idee, schon wieder in so einen KĂ€fig zu kommen drehte mir den Magen um. Ich raffte die TĂŒten mit meiner Habe zusammen und verabschiedete mich von Juanjo mit einem festen HĂ€ndedruck. Dann ging ich an der Zelle vorbei, in der Musta steckte, ergriff fest seine Hand und verabschiedete mich: »Ich liebe dich, weißt du?«

»Das weiß ich, Bruder. Ich dich auch…«

Nach diesem Versuch GefĂŒhle zu zeigen ging ich zum Transporter. Ich legte meine TĂŒten in den Kofferraum, und als wir alle in den KĂ€figen saßen, fuhren wir los in Richtung Andalusien, ĂŒber die N-4. Ich hatte es geschafft, alleine in einem KĂ€fig zu reisen, so war die Fahrt ertrĂ€glicher. Die Verlegungen waren immer noch saumĂ€ĂŸig. Um ein paar Groschen zu sparen, behandelten uns Behörden und Gesellschaft immer noch wie Vieh.

GefÀngnis Puerto de Santa María 2, Januar 1991

In Puerto de Santa MarĂ­a angekommen, wurde ich zu meiner Überraschung in die neben dem eigentlichen GefĂ€ngnis und dem GefĂ€ngnis fĂŒr Frauen gelegene Untersuchungshaftanstalt gebracht. Beide Anstalten waren durch eine Straße voneinander getrennt, ĂŒber die die Transporter und Polizeifahrzeuge menschlichen Nachschub fĂŒr die GefĂ€ngnisse brachten. In Puerto 2 brachten sie mich – nach einer erniedrigenden Durchsuchung, in deren Verlauf ich dem Schließer meine Eier hochheben und vorzeigen musste – in die Isolationsabteilung, wo sich eine Reihe Politischer der baskischen Organisation ETA befand. Ich lernte Paco und JosĂ© Mari kennen, mit denen ich mich gut verstand, genau wie mit den anderen Politischen. Sie empfingen mich wunderbar, teilten alles mit mir, vom ersten Augenblick an. Ich wĂŒrde dort bleiben mĂŒssen, bis der Transport nach Teneriffa mich abholte. Die Zwischenzeit war richtig angenehm. Diese Menschen, die von der Mehrheit der Spanier (also nicht der Basken) fĂŒr blutrĂŒnstige Mörder gehalten wurden, zeigten mir gegenĂŒber praktische SolidaritĂ€t in jeder Hinsicht. Ihr Geld war mein Geld, ihre BĂŒcher die meinen, ihr Essen das meine. Sie fanden außerordentliche Gesten fĂŒr mich, zum Beispiel kochten sie mir abends Tee mit Honig, den sie mir mit BindfĂ€den ĂŒber das Fenster zukommen ließen. JosĂ© Mari brachte mir bei, was eine ausgewogene ErnĂ€hrung bedeutet, lieh mir BĂŒcher und schenkte mir ein kleines Radio mit Kopfhörern. Er schwĂ€rmte fĂŒr Imkerei und gab mir lange VortrĂ€ge ĂŒber das Einwirken der Bienen auf Landschaft und Ernte. Er war der geborene Naturfreak. Wir teilten viele Ansichten und es fiel uns nicht schwer uns anzufreunden.

Auf derselben Galerie befand sich auch Paco, ein ausgesprochen angenehmer RevolutionĂ€r. Er lieh mir hĂ€ufig sein elektronisches Schachspiel aus oder verwickelte mich in ernsthafte und skandalöse PrĂŒgeleien auf dem Schachbrett. Ganze Nachmittage spielten wir miteinander ĂŒber die Fenster hinĂŒber Schach. Paco schaffte ich nicht zu besiegen, und ich war gar nicht so schlecht. Ich fĂŒhlte mich wohl bei diesen Genossen. Sehr wohl. Die beiden versorgten mich mit Obst, Bienenpollen und anderen Nahrungsmitteln, damit ich die MĂ€ngel des ekelhaften GefĂ€ngnisessens ausgleichen konnte. Sie gaben mir die Essenszulage, die mir die Ärzte dieser Anstalt verweigerten, ihnen lag meine Gesundheit am Herzen. Man ließ uns auf einen kleinen Hof hinaus, wo wir uns hĂ€ufig mit Genossen von ihnen trafen, die aus der Galerie gegenĂŒber kamen. Wir unterhielten uns aus dem Fenster rufend, wenn wir Lust hatten, meistens redeten sie allerdings auf Baskisch ĂŒber ihre privaten Themen. Ich ging normalerweise mit JosĂ© Mari und Paco spazieren. Mit ihnen verstand ich mich am besten. Wir stimmten in unserer Auflehnung gegen den spanischen Staat ĂŒberein, wenn auch aus unterschiedlichen GrĂŒnden.

Eines Nachmittags bekamen wir Besuch von mehreren Inspektoren der Generaldirektion aus Madrid. Eine Zelle nach der anderen wurde geöffnet und die Insassen befragt. Als sie in meine Zelle kamen, wandten sie sich grinsend an mich: »Wie geht es Ihnen?« fragte mich einer.

»Wer sind Sie eigentlich?« fragte ich zurĂŒck.

»Wir kommen um die Anstalt zu inspizieren. Haben Sie eine Beschwerde vorzubringen?« Mehrere Schließer und ein Dienstleiter waren mit dabei.

»Oh ja. Haben Sie mitbekommen, dass vor ein paar Tagen ein Gefangener im Nebentrakt geschlagen wurde? DarĂŒber will ich mich beschweren, Sie haben also etwas zu tun. Obwohl ich Ihnen sagen möchte«, fĂŒgte ich hinzu, »dass ich nicht glaube, dass Sie in der Lage sind, auch nur irgendetwas zu tun und dass Sie das auch nicht im Ernst vorhaben.«

»Wir werden die Angelegenheit untersuchen mĂŒssen… Noch etwas?«

»Nein.«

Wir verabschiedeten uns kĂŒhl. Sie wĂŒrden nichts unternehmen; das war immer dieselbe Geschichte, tausendfach wiederholt in den spanischen GefĂ€ngnissen. Reine Scheinheiligkeit und eine inexistente bĂŒrokratische Effizienz. Bis zu dem Punkt, dass ein Jahr spĂ€ter der Direktor dieser Anstalt und andere Schließer des Betrugs ĂŒberfĂŒhrt wurden: Sie hatten persönliche Schulden mit dem Geld der Gefangenen beglichen. Als der Betrug herauskam, bei dem auch die Anstalt Ciudad Real eine Rolle spielte, wurde der betreffende Direktor in die Verwaltung von Puerto 1 versetzt, als stellvertretender Direktor. Das unterstrich den hohen Grad an Korruption in den spanischen GefĂ€ngnissen. Die Herren Inspektoren kamen vielleicht jetzt, um alles unter den Teppich zu kehren und ihren Teil zu kassieren, oder sie waren einfach inkompetent und stĂŒmperhaft bei der AusĂŒbung ihrer Kontrollfunktion. Auf jeden Fall stĂŒtzten sich in den GefĂ€ngnissen diese Leute gegenseitig, aus Korpsgeist und eil niemand von ihnen wissen konnte, ob ihm nicht morgen dasselbe passieren konnte. Deshalb machten sie sich furchtlos straffĂ€llig, denn falls sie erwischt wĂŒrden, wurden sie zwar versetzt, bekamen aber in einer anderen Anstalt einen neuen Posten, sobald der Skandal sich gelegt hatte. So tricksten sie die veröffentlichte Meinung aus. Die GefĂ€ngnismauern verhinderten nicht nur, dass wir Gefangenen abhauten, sie dienten vor allem auch dazu, dass niemand sah, was hinter ihnen passierte. So funktionierte die von Antoni AsunciĂłn geleitete Behörde, eine Verwaltung geschaffen nach seinem Bild und unter seiner Regie.

Nach diesem unangenehmen Besuch gingen wir wieder in die alltĂ€gliche Routine ĂŒber. Manchmal gingen Paco und ich mit Plastikmessern bewaffnet auf den Hof, setzten uns hin und schĂ€lten Obst, das wir dann schnitten und mit Honig, Pollen und Orangensaft mischten und an alle anderen verteilten. Manchmal saßen wir die zwei tĂ€glichen Stunden im Hof und tranken Kaffee oder Tee, den wir in der Cafeteria bestellten. Wir redeten ĂŒber meine Verlegung:

»Sieht so aus, als ob du hierbleibst, was José?«

»Anscheinend. Ich weiß nicht, was los ist…«

»Wie ist Teneriffa so?« fragte José Mari.

»Gut. Du wirst sehen, diesmal schaffe ich’s«.

»Den Satz habe ich schon oft gehört«, er lÀchelte. »Zu Anfang eines neuen Jahres sagen das alle.«

»Du hast Recht, doch sei kein Spielverderber, Mann…« sagte ich und wir lachten beide.

Trotz der Hilfe meiner Genossen fĂŒhlte ich mich wieder schlechter. Nachts schwitzte ich viel, und leichte Fieberattacken brachten mir SchĂŒttelfrost und ließen mich nicht schlafen. Ich hatte mĂ€chtige ErstickungsanfĂ€lle. Dann musste ich das Licht anschalten, die Fenster öffnen und abwarten, bis es vorbei war. Am nĂ€chsten Tag erzĂ€hlte ich Paco davon, doch nicht alles: »Es geht mir zur Zeit nachts ziemlich schlecht, es ist bedrĂŒckend. Es fĂ€llt mir sehr schwer einzuschlafen.«

»Na, ich habe da ein paar Sophrologie-Kassetten in der Zelle, die hat man mir zur Entspannung geschickt. Wenn du willst, ĂŒberspiel ich dir ein paar, damit du damit Übungen machen kannst.«

»Das wÀre toll, Paco.«

»OK, sind schon unterwegs.«

Bei der Sophrologie ging es darum, Yoga-Techniken mit Selbsthypnose zu mischen. Den Körper sollte man mit tiefen und zusammenhĂ€ngenden AtemzĂŒgen einschlĂ€fern, die Muskeln entspannen, angefangen an den FĂŒĂŸen hoch bis zum Kopf. Man spannte die Muskeln an und entspannte sie dann langsam, bis man sie nicht mehr fĂŒhlte. Das wĂŒrde mir sehr weiterhelfen, immer, wenn ich es regelmĂ€ĂŸig machte. Die Wirkung war erstaunlich. Außerdem hatte sich auf meinem RĂŒcken und auf der Brust eine Akne aggressiv breit gemacht, die stĂ€ndig eiterte und mein Hemd mit Blut und Eiter schmutzig machte. Das lag an der schlechten ErnĂ€hrung und zu viel Fett im GefĂ€ngnisessen. Das glaubte ich wenigstens. Woran auch immer es lag, es war ziemlich unangenehm, ich konnte aber nichts machen außer abzuwarten bis es besser wurde und vernarbte.

Am 20. Februar wurde mir mitgeteilt, dass ich nach Zaragoza verlegt werden wĂŒrde. Man bestellte mich zu einem Prozess. Die Fahrt nach Teneriffa wurde also verschoben. Alle gaben mir etwas Geld fĂŒr die Reise, wofĂŒr ich dankbar war. Von diesen Menschen wĂŒrde ich gute Erinnerungen mitnehmen und vor allem auch viel wertvolles neues Wissen.

GefÀngnis Zaragoza, Februar 1991

Wir waren mehrere auf der Fahrt von Madrid nach Zaragoza. Unterwegs weigerte sich die Guardia Civil, uns einen Moment die TĂŒren aufzuschließen, damit wir uns ein bisschen bewegen und aufs Klo zum Pinkeln gehen konnten. Also riss ein Genosse, dessen TĂŒr offen war, die Klinke einer KĂ€figtĂŒr ab und öffnete uns, einem nach dem anderen. Er machte dabei die TĂŒrschlösser kaputt. Die Guardias Civiles schienen nach hinten kommen zu wollen, doch das war nur ein Manöver zur EinschĂŒchterung. Sie trauten sich schließlich nicht. Wir verbrachten den Rest der Reise mit offenen KĂ€figen und unterhielten uns in Gruppen. Gegen Mittag kamen wir an unserem Ziel an und stiegen in Paaren aus dem Transporter. Wir nahmen unsere Sachen und gingen bewacht von den Guardias durch eine automatische TĂŒr nach drinnen. Dort zeigte mich einer von ihnen bei den Schließern an: »Der da«, er zeigte auf mich, »der da hat ein StĂŒck Eisen, das er von einer TĂŒr abgerissen hat. Damit hat er unterwegs allen seinen Kollegen aufgemacht.«

»OK, wo ist das Eisen?« fragte mich der Dienstleiter.

»Ich habe nichts.«

»Das werden wir gleich sehen. Bringt sie in die Amerikanischen!« befahl er seinen Untergebenen.

Sie schlossen uns in die amerikanischen Zellen. Nach einer Weile kamen sie, um die anderen in ihre Trakte zu bringen, mich ließen sie dort allein. Der Gefangene, der das Eisen von der TĂŒr abgerissen und uns aufgemacht hatte, wies jede Verantwortung von sich. Er war im zweiten Grad und wollte vor allem das nicht gefĂ€hrden. Ich nahm ihm das nicht ĂŒbel, er wahrte einfach sein Interesse. Er war ein Risiko eingegangen, als er uns alle herausließ, und ich war jetzt damit an der Reihe, auf diese Geste mit Schweigen zu antworten. Schließlich hatte der Guardia mich mit ihm verwechselt. Wir trugen recht Ă€hnliche Kleidung, und das war ja nicht seine Schuld. Die Schuld trug der Guardia Civil, der sich mit dieser schĂ€bigen Denunziation gerĂ€cht hatte.

Nach einer Weile brachten sie mir einen Plastikeimer und zwei Decken.

»Wenn Sie hier heraus wollen, geben Sie uns das Eisen.«

»Ich wiederhole: Ich habe nichts.«

»Wem hast du es denn dann gegeben?«

»Ich hab es durch das Loch im Klo auf die Straße geschmissen, bevor wir angekommen sind.«

»Gut, wenn das so ist, kannst du es uns ja beweisen«, dazu forderten sie mich auf und zeigten auf den Eimer.

»Kommt nicht in Frage…«

Es war eine unbequeme Situation: Ich hatte eine SĂ€ge in mir, die bedeutete jetzt Gefahr. Was das verdammte Eisen anging, sie wĂŒrden mir nicht glauben da konnte ich sagen, was ich wollte. Ich sah den Eimer an, mit Abscheu. Sie wollten, dass ich dort hinein kackte und ihnen dann etwas gab, doch da konnten sie lange warten, ich hatte es ĂŒberhaupt nicht eilig. Ich legte mich auf die dreckige Decke und war bereit, so lange wie nötig dort abzuwarten. Ich wĂŒrde ihnen keinen Gegenstand geben und noch weniger die Freude, mich in diesen Eimer kacken zu sehen. Ich verbrachte so die Nacht, ohne Abendessen. Am nĂ€chsten Morgen bekam ich auch kein FrĂŒhstĂŒck. Ein Schließer kam zu mir: »Na, musst du nicht kacken?«

»Wieso, haben Sie Hunger?« – diese scharfsinnige und schlecht gelaunte Antwort fand ich fĂŒr ihn.

»Was?«

»Nichts, nichts, ist egal.«

»Scheint, als mĂŒssten wir mit Gummihandschuhen kommen.«

Ich bekam kein Essen, am Mittag kam dafĂŒr der Dienstleiter in Begleitung anderer Schließer zu mir. Er redete durch das Gitter hindurch. »Na, TarrĂ­o, werden sie uns das Eisen freiwillig geben oder nicht?« Er drohte mir.

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, ich habe kein Eisen, ich habe es weggeworfen.«

Sie öffneten die TĂŒr und kamen in die Zelle.

»Ziehen Sie sich aus«, befahlen sie mir.

Ich gehorchte und zog mich aus. Sie suchten zwischen meinen Arschbacken, unter den Achseln, am Hoden und anderen Körperstellen. Es fĂŒhlte sich an wie eine Herde Nacktschnecken auf meiner Haut, doch ich beherrschte mich. Als sie fertig waren, ließen sie mich in Ruhe. Ich hatte meine Selbstachtung schwer verletzt. Nach dem Anziehen brachten sie mich in den Isolationstrakt. Ich hatte das KrĂ€ftemessen gewonnen und die SĂ€ge gerettet.

Sie sperrten mich in eine der Isolationszellen im zweiten Stockwerk. Das waren Einzelzellen, sauber und groß, mit doppelt vergitterten Fenstern, die auf die Straße hinaus wiesen. Ich trat ans Fenster. Jenes StĂŒck Straße, diese Handbreit physischer Freiheit, ließ mich Sehnsucht fĂŒhlen nach anderen, vergangenen, zu Grunde gegangenen Zeiten, die in meiner Erinnerung wieder auferstanden.

Mein GemĂŒt schlug um. Was geschah, was passierte mit mir? In was verwandelte ich mich hier, zu was machten sie mich? Jener Fetzen Leben, die teilnahmslos ĂŒber die Straße wandelnden BĂŒrger, die fahrenden Autos, alles erinnerte mich daran, dass ich nur ein Toter war, ein eingesperrter Mensch, lebendig begraben in eine Welt aus Zement und Beton, bevölkert von Eisengittern. Eine armselige Welt, in der mir das Leben entglitt zwischen ZĂ€hlappell und ZĂ€hlappell, zu denen der Schließer das Innere des Grabes genau musterte, um sicherzugehen, dass ich noch da war. Es war schwer zu akzeptieren, dass die Jahre ohne dich verstrichen; es war schwer zu akzeptieren, dass die Leute verschwanden oder dich vergaßen, wo doch auch das Vergessen eine Form des Todes ist; es war schwer, in diesem Grab ein einfaches und bloßes Dasein zu fristen, mit Hoffnung und Erinnerung als einziger Nahrung. Jetzt, ans Fenster gelehnt und auf die Straße blickend, verstand ich die Tiefe des Abgrunds, in den ich von Menschen hinabgeworfen worden war. Hinter den Mauern, seiner Natur und seiner Zeit beraubt, ließ der Mensch das Leben hinter sich und ging dazu ĂŒber, einfach nur zu ĂŒberleben.

An diesem Nachmittag auf dem Hof leistete mir Tofi Gesellschaft, ein alter Freund aus dem GefĂ€ngnis Daroca, fĂŒr den die gleichen Haftbedingungen galten. Wir grĂŒĂŸten uns mit festem HĂ€ndedruck und gingen spazieren, unter dem scharfen Hundsblick des Schließers, der uns vom Turm, von seinem Hinterhalt aus bewachte.

»Wie geht’s, Tofi?«

»Gut.«

»Du glaubst nicht, was die gestern nach der Ankunft mit mir veranstaltet haben, wegen eines Scheißbullen. Bis eben war ich in den Amerikanischen.«

»Weiß ich schon. Haben ein paar Leute hier herumerzĂ€hlt.«

»Weißt Du etwas von Niño?« fragte ich ihn.

»Er ist immer noch in Herrera, vor Kurzem lag er allerdings in Madrid im Krankenhaus. Jetzt geht es ihm wieder besser…«

»Ich habe gehört, dass er sich um die APRE kĂŒmmert und dass er sie neugrĂŒnden will, mit neuen Statuten.«

»Ja, es sind schon in mehreren Anstalten Kopien verteilt worden, um zu sehen, wie die Leute drauf reagieren. Hast du noch keine davon abgekriegt?«

»Nein. Ich fahre seit ein paar Monaten stÀndig herum, von Anstalt zu Anstalt.«

»Ich habe oben eine in der Mappe. Nachher gebe ich sie Dir zu lesen.«

»OK.«

Ich fragte nach meinem Freund Musta, doch er war nicht mehr dort. Sie hatten ihn wieder nach Galizien geschickt. Nach ein paar Stunden Spazieren und einer guten Dusche verschluckten uns die Zellen wieder. Ich putzte meine Zelle und machte das Bett, um mich anschließend hinzulegen und die Statuten der APRE-NeugrĂŒndung zu lesen. Sie waren geschrieben von Ávila Navas. Es waren drei maschinengeschriebene Seiten, und der Inhalt war sehr interessant.

Statuten der neugegrĂŒndeten Vereinigung der HĂ€ftlinge unter Sonderbedingungen APRE (r)

Es besteht kein Zweifel, dass das fehlende Bewusstsein und das gesellschaftliche Desinteresse am Thema Strafvollzug der Folter, dem Amtsmissbrauch, Anmaßungen und Straftaten als Mittel im Strafvollzug einen »Freibrief« ausstellen. Aus diesem Grund entsteht APRE(r).

Die RealitĂ€t im GefĂ€ngnis kennen nur diejenigen, die sie erleiden: Wir, die Gefangenen. Leider ist die inhaftierte Bevölkerung in zwei Gruppen gespalten: Die Konventionellen, deren einziges Streben es ist, ihre Strafe so schnell wie möglich zu verbĂŒĂŸen, und das zu »bequemen« Bedingungen, – und wir, APRE(r), die sogenannten Unverbesserlichen, ein Begriff, der immer noch passt, da wir auf unverbesserliche Weise unserer Eigenschaft als Menschen bewusst sind. Wir wollen unsere Strafen ohne Bequemlichkeit verbĂŒĂŸen und unsere WĂŒrde und die uns gesetzmĂ€ĂŸig zugestandenen Rechte dabei verteidigen. APRE(r) ist durch zwei Phasen gegangen. In der ersten waren die einzigen Erfolge eine symbolische In- teressenvertretung, die fĂŒr ein paar Leute verbesserte Lebensbedingungen brachten, und damit EnttĂ€uschung, Streit und Uneinigkeit in Bezug auf neue Projekte. Das zerrĂŒttete

die Organisation.

Doch das Wrack stand wieder auf, mit neuen Mitgliedern, grĂŒndete sich neu und schuf eine Struktur unabhĂ€ngiger Basisgruppen, deren AktivitĂ€t sich gegen die Folterpraxis richtet und fĂŒr einigermaßen wĂŒrdige Lebensbedingungen in den GefĂ€ngnissen streitet, inklusive Kulturförderung, kreativer BeschĂ€ftigung, Sport oder anderen Formen der Weiterbildung.

Wir kĂ€mpfen fĂŒr die ersatzlose Streichung der Sonderhaftbedingungen (Artikel 10 LOGP und 32 und 46 RP), die absolute Isolation, das Dahinvegetieren, die Annullierung der Persönlichkeit der Gefangenen. Wir erleiden eine vollstĂ€ndige Außer-Kraft-Setzung der Grundrechte und den Zwang repressiver Haftbedingungen, denen jede Grundlage in Gesetz und Verordnung fehlt, womit unsere Beschwerden um jeden Preis zum Schweigen gebracht und Protestaktionen vermieden werden sollen. Zu Isolation und Ausschluss jeder Kommunikation kommt hinzu, dass wir uns hunderte von Kilometern entfernt von unserer gewohnten Umgebung befinden, was fĂŒr unsere Familien heißt, dass sie auf der Landstraße tödlich verunglĂŒcken können.

Wir glauben, dass in einer Demokratie nicht alles gelten kann. Die Demokratie ist nicht Eigentum einiger Weniger, die sie nach eigenem Wissen und Gewissen aushöhlen und setzen in dieses edle Rechtswesen von Gottes Gnaden, in Posten und Ämter öffentlicher Behörden, die sie selbst besetzen. Wir haben die Nase gestrichen voll davon, dass sie uns unsere Grundrechte aberkennen, diese ZuhĂ€lter der Demokratie, die im Schilde fĂŒhren, ihre »BĂŒrger« in Prostituierte eines sogenannten Rechtsstaats zu machen. Seit ĂŒber einem Jahrzehnt ist die Konsequenz der UnregelmĂ€ĂŸigkeiten und MĂ€ngel der sozialdemokratischen Strafvollzugspolitik, uns Gefangene pausenlos physischer Aggression, Amtsmissbrauch und Parteilichkeit der Schließer auszusetzen. Die Schließer sind ihrerseits nach den hĂ€rtesten Kriterien des katholischen Faschismus ausgebildet, der Leitideologie des MilitĂ€rregimes, welches der Demokratie voranging, bis vor fĂŒnfzehn Jahren.

Bewusst oder unbewusst hĂ€lt die Verwaltung von Justiz und Strafvollzug jene Elemente im Dienst, die einst der weltliche Arm des Franquismus waren. Einige von ihnen sind durch die AusĂŒbung politischen Opportunismus des richtigen Parteibuchs befördert worden und haben hinterlistig inquisitorische pĂ€dagogische Maßnahmen durchgesetzt und zusĂ€tzlich dafĂŒr gesorgt, im Strafvollzug maßgebliche Vorschriften fĂŒr Sicherheit und Ordnung selbst und eigenmĂ€chtig auslegen zu können. Sie haben den Strafvollzug zu ihrer heiligen Festung gemacht. Es herrscht physische Gewalt, ausgeĂŒbt durch Mörder, und unsere Therapie ist gegrĂŒndet auf Terror, EinschĂŒchterung und Erpressung, was die Einhaltung der von ihnen gesetzten Regeln erreichen soll, unter Missachtung der geltenden Gesetze und leichtfertiger Verletzung der Rechte der Gefangenen durch andauernde PrĂŒgel wegen Dingen, wie etwa dabei erwischt zu werden, wie man durch ein Fenster mit jemandem redet, oder dabei erwischt zu werden, im Bett zu liegen. Unsere Körper haben es gelernt, sich unter so viel beamteter Gewalt zusammenzuziehen.

Man hat uns aufgrund falscher Tatsachen Disziplinarstrafen auferlegt, ein Betrug, den wir vor korrupten, regimetreuen und mehrheitlich von TotschlĂ€gern besetzten Gerichten anzeigen mussten, vor derselben Sorte Therapeuten des Schlagstocks, der Fesseln und der Sprays, die anschließend selbst ĂŒber unsere Einstufung in die Grade der Vollzugsbedingungen entscheiden.

Wir können die Zahl der Genossen, die an diesem höllischen Drittwelt-Knastsystem gestorben sind, nicht genau angeben. Es gibt beabsichtigte Infektionen mit AIDS, es fehlt angemessene und glaubwĂŒrdige medizinische Betreuung, es fehlt jeder humanitĂ€re Geist im Herzen des Staates. Wir gedenken unserer Genossen JosĂ© Manuel RuĂ­z Verdugo, Francisco Carmona Gallardo, Juan JosĂ© Piquero, AgustĂ­n Rueda Sierra (Folteropfer), Vicente Gigante Real… Es hat so viele Tote gegeben, dass wir ein ganzes Papierlager brĂ€uchten, um alle Namen unserer unvergessenen Genossen aufzuschreiben.

Wir haben tausende Anzeigen eingereicht an die Gerichte und an die Generaldirektion, in denen wir von den physischen, psychischen und moralischen Aggressionen Zeugnis ablegen, deren Opfer wir sind, ohne dass bis jetzt geeignete Maßnahmen ergriffen worden wĂ€ren, um hiermit Schluss zu machen. Vielmehr sind die postwendenden Resultate unserer Anzeigen die VerhĂ€rtung der Repressalien und der Hass der Henker.

Die absolute GleichgĂŒltigkeit, der wir andauernd ausgesetzt sind und die Hoffnungslosigkeit, die daraus resultiert, haben ns verschiedentlich veranlasst, AufstĂ€nde auszulösen und EntfĂŒhrungen von Schließern zu organisieren. Diese Taten haben einerseits zur Erhöhung unserer Haftstrafen gefĂŒhrt; andererseits sind die Henker vollkommen straflos aus all dem hervorgegangen und konnten ihre niederen Instinkte ohne Weiteres an uns auslassen. Wir waren und sind Versuchskaninchen fĂŒr psychische Folter, die darauf abzielt, die Persönlichkeit der Individuen zu annullieren.

Dass hier kein Zweifel besteht: Zu jeder Zeit hat die Generaldirektion genau Bescheid gewusst ĂŒber die PrĂŒgel und die

Parteilichkeiten, die wir ĂŒber uns ergehen lassen mussten, ohne Unterlass, und auch ohne Vermerk in unseren Akten. Man hĂ€lt uns mit brutaler Gewalt nieder. Nicht zufrieden mit dem Resultat aus physischer und psychischer Bestrafung, die man uns angedeihen lĂ€sst, erpresst man uns, man spekuliert auf unseren Schmerz, man handelt mit unseren TrĂ€umen, indem man uns von unseren familiĂ€ren und freundschaftlichen Beziehungen trennt und uns bewusst geografische Entfernungen auferlegt, als Methode zur sozialen Entwurzelung, und das ohne Rechtfertigung und nicht zur Besserung, einfach wegen unserer Weigerung vor der »Resozialisierung«, die man uns anbietet. Die Resozialisierung ist nur ein abstrakter Begriff, und was man mit uns anstellt, ist sklavisches Abrichten, durchgefĂŒhrt von Syndikaten des Organisierten Verbrechens, den sogenannten Equipos de Tratamiento, deren therapeutisches Kriterium das Anstreben der absoluten Unterwerfung des HĂ€ftlings unter die herrschende Klassentrennung ist.

Wir zweifeln nicht daran, zuallererst die Verwaltung von Justiz und Strafvollzug fĂŒr die Nachteile verantwortlich zu machen, die wir erfahren haben und immer noch erfahren. Wir glauben, dass die Bestrafungszellen, die Jahre in Isolation, die Verletzungen des moralischen Empfindens, die uns und unseren Familien beigebracht wurden, nicht mit EntschĂ€digungsleistungen in Form von Geld wieder gut zu machen sind.

Da dieser »Rechtsstaat« uns bis jetzt gestattet, zu lesen, verstehen wir noch etwas, zum Beispiel, was der Artikel 121 der Verfassung des Landes S. eigentlich schĂŒtzen will.

Wir fordern als EntschĂ€digung fĂŒr die Nachteile, die wir erlitten haben, folgendes:

1. RĂŒckwirkende VerkĂŒrzung unserer Haftstrafen im Ausgleich fĂŒr in Haft geleistete Arbeit um vier Monate pro abgesessenem Jahr.

2. Untersuchung und AufklĂ€rung sowie Klarstellung der Verantwortung in den FĂ€llen, in denen wir zu Disziplinarstrafen verurteilt worden sind, unter Beachtung von Artikel 15 der Spanischen Verfassung in Verbindung mit Artikel 3 der EuropĂ€ischen Charta fĂŒr Menschenrechte.

3. Sofortige Freilassung aller unheilbar kranken Gefangenen (AIDS) und Streichung der Bedingung, die Gefangenen mĂŒssen sich in terminaler Phase befinden. Schon in einem frĂŒheren Stadium der Krankheit muss auf sie das in Artikel 60 der Strafvollzugsordnung garantierte Recht angewandt werden.

4. Jedem Schließer, der wegen Misshandlungen angezeigt worden ist, ist der weitere Kontakt mit Gefangenen zu untersagen.

Uns ist bekannt, dass die Generaldirektion sich vorgenommen hat, eine Politik zu entwickeln, die eine Behandlung der Strafgefangenen unabhĂ€ngig von ihrem Haftgrad anstrebt. Das sehen wir objektiv und beurteilen es als geeignete Maßnahme, die Idee der Resozialisierung zu verfolgen, was im Übrigen der Auftrag aus dem erklĂ€rten Willen der Bevölkerung hinsichtlich der Strafvollzugspolitik ist. WĂ€re angewandt worden, was das Gesetz vorsieht, hĂ€tte die Mehrheit der Mitglieder von APRE(r) heute einen Großteil ihrer Strafe, wenn nicht alles, bereits verbĂŒĂŸt. Wir wĂ€ren in den Genuss der Beförderung in leichtere Haftgrade und von Hafturlauben gekommen. In der RealitĂ€t, die man uns aufzwingt, dĂŒrfen wir jedoch nicht einmal vis-a-vis-Besuche empfangen, was ein Verbot bedeutet, SexualitĂ€t zu leben (das ist Folter), oder unsere Familienangehörigen zu umarmen. Wir kennen viele andere Gefangene und FĂ€lle mit bedeutenden Haftstrafen oder sogar mit höheren als den unseren, als da wĂ€ren: DrogenhĂ€ndler, ehemalige Polizeibeamte, Vergewaltiger und rechtsextreme Terroristen; die haben bezahlte ArbeitsplĂ€tze inne, die genießen außergewöhnliche Hafterleichterungen sowie Urlaube, die leben im GefĂ€ngnis auf großem Fuß. Die Putschisten vom 23. Februar zum Beispiel, die ein Komplott gegen die spanische Nation geschmiedet hatten, sind BegĂŒnstigte der GroßzĂŒgigkeit der Demokratie. Uns ist die unantastbare Straflosigkeit bekannt, die solche Leute genießen, um nur ein Beispiel zu nennen. Auch wurden noch keine Verantwortlichen dingfest gemacht fĂŒr den Tod im GefĂ€ngnis von Foncalent im Januar 1987 der Gefangenen Elena MĂĄrquez Vaño, Isabel Plano PĂ©rez und Teresa Pedraza GonzĂĄlez, obwohl öffentlich festgestellt worden war, dass es in diesem Zusammenhang UnregelmĂ€ĂŸigkeiten gegeben hat, und also auch Verantwortliche. Und so könnten wir Jahrhunderte dabei zubringen, alle aufzuzĂ€hlen: Den Fall GAL, den Fall El Nani, den Fall AgustĂ­n Rueda, hohe Tiere, WaffentrĂ€ger des Staats, Magistraten, in den Drogenhandel Verwickelte, in FĂ€lschungen offizieller Dokumente, dubiose finanzielle Machenschaften im Namen politischer Parteien, und ein langes etcetera tĂ€glich neuer UnverschĂ€mtheiten, die in diesem sich demokratisch verfasst nennenden Lande stattfinden; Es ist allerdings wahrscheinlich, dass diese Herrschaften niemals eine Disziplinierungszelle von innen kennen lernen werden. Wir, liebe Freunde, sind leichte Opfer des Rauschgifts gewesen, das das Land ĂŒberschwemmt, wir sind mehrheitlich zufĂ€llige StraftĂ€ter, DrogenabhĂ€ngige, und statt uns zu heilen hat man uns in GefĂ€ngnisse geworfen, mit dem Ziel, die Ausbreitung der Rauschgiftkultur aufzuhalten, und man hat uns astronomische Strafen auferlegt, einfach weil wir einer niedrigen gesellschaftlichen Klasse angehören. Es ist traurig, doch zum UnglĂŒck fĂŒr dieses Land gilt die Demokratie nur fĂŒr einige Wenige, wĂ€hrend wir uns in Disziplinierungszellen aufreiben, weil wir den Mut hatten, unsere Rechte einzufordern. Die meisten von uns sind mit AIDS infiziert, und man verbietet uns, unsere restlichen Tage mit unseren Familien zu verbringen.

Aus diesem Bewusstsein und mit dem kĂ€mpferischen Geist, der uns charakterisiert und kennzeichnet, mit moralischer und materieller UnterstĂŒtzung von außen, die sich ĂŒbrigens immer mehr ausweitet, streiten wir fĂŒr eine gerechte Sache. Vor der Vollzugsaufsicht werden wir weiterhin die Anmaßungen der Schließer anprangern. Und zwar auf folgende Weise: Jeder, der die moralische LegitimitĂ€t dazu innehat, ist Mitglied der APRE(r). Wir werden unsere Beschwerden, ob kollektiv oder individuell, immer zweifach vorbringen, mit dem Briefkopf der APRE(r). In diesen Beschwerden werden wir alle stattfindenden Verletzungen unserer Rechte anfĂŒhren: Die Ablehnung unserer AntrĂ€ge auf vis-a-vis-Besuche; die Anwendung unnötiger HĂ€rten in den Haftbedingungen; die Verbote, RĂ€ume in den Anstalten fĂŒr kulturelle und sportliche AktivitĂ€ten und zur Erholung zu gebrauchen; das Fehlen oder die VerspĂ€tung von medizinischen Untersuchungen; die Weigerung der Ärzte, AntrĂ€ge auf Grundlage von Artikel 60 zu unterstĂŒtzen; dass die sogenannten Begleitungs- und Therapieteams ganz oder teilweise fehlen oder sich nicht fĂŒr uns interessieren; dass keine Informationsveranstaltungen und keine Persönlichkeitstests stattfinden; das mangelnde Interesse des pĂ€dagogischen Personals und dessen Weigerung, Insassen Ersten Grades Unterricht zu erteilen; und alles, was wir als ungerecht oder als Unrecht empfinden. In jeder Anstalt wird es einen Verantwortlichen fĂŒr das Verfassen der Beschwerden und das Einholen unterstĂŒtzender Unterschriften geben. Dieser wird eine Kopie an die Vollzugsaufsicht schicken und die andere behalten, bis er eine Adresse erhĂ€lt, an die er sie senden kann. Sie werden immer im geschlossenen Umschlag und als Einschreiben mit RĂŒckschein verschickt werden. Die Finanzierung der neuen APRE(r) wird kein Problem darstellen. Es geht darum, das Dossier, das draußen bereits vorliegt, zu vervollstĂ€ndigen, damit unsere AnwĂ€lte die Einhaltung unserer Rechte und den Schadenersatz, der uns zusteht, einklagen können. Auch wenn wir keine ParteigĂ€nger der Gewalt sind, schließen wir kollektive bewaffnete Aktionen fĂŒr den Fall nicht aus, dass nach Erschöpfen aller rechtlichen Mittel uns nicht zuerkannt wird, was uns nach dem Gesetz zusteht.

Uns ist bewusst, dass uns in der bestehenden Ordnung nicht zugestanden wird, Gewalt einzusetzen, um unsere Ziele zu erreichen. Wir heiligen unsere Mittel nicht (wie es nach Macchiavells Maxime geschieht), doch wenn man uns hier in der dunkelsten KlandestinitĂ€t massakriert, gebietet es der Überlebensinstinkt und ist es legitim, unser Recht auf Leben, auf physische und moralische Unversehrtheit zu erstreiten, Deshalb sagen wir:

BASTA YA! FOLGEN WIR DER DOKTRIN DES »ZENON« UND GEHORCHEN

WIR NUR DER VERNUNFT!

MUT, GENOSSEN!

DIE JUSTIZ UND DIE DEMOKRATIE GEHÖREN ALLEN.

Herrera de la Mancha, im Januar 1991

Der Koordinator:

Francisco Javier Ávila Navas

Eine dieser Kopien war an Antoni AsunciĂłn, den Generaldirektor der Strafvollzugsbehörde geschickt worden. Der beschrĂ€nkte sich aber darauf, dem Inhalt keine Bedeutung beizumessen. Was wĂŒrden sie ihm anhaben können, jene in seine GefĂ€ngnisse gesperrten MĂ€nner, ihm, dem obersten MandatstrĂ€ger auf seinem Berg aus Macht und Ehrgeiz? AsunciĂłn war einer der ambitioniertesten MĂ€nner der PSOE, und nichts wĂŒrde ihn aufhalten können. Er hatte das nur allzu gut demonstriert, anlĂ€sslich des Hungerstreiks der GRAPO in den Jahren 1989 und 1990, in dessen Verlauf der Gefangene JosĂ© Manuel Sevillano vor EntkrĂ€ftung starb und andere Mitglieder der bewaffneten Gruppe bedeutende SchĂ€den davontrugen, wie im Fall SebastiĂĄn RodrĂ­guez Veloso, der jetzt im Rollstuhl sitzt. Er war der Herr, und die Gefangenen seine Sklaven: Sollten jene sich trauen zu rebellieren, wĂŒrden sie ohne zaudern unterdrĂŒckt werden, wie immer. Das Gesetz, die Gewalt und die Medien waren auf seiner Seite. Was war an einer Gruppe Gefangener zu fĂŒrchten? Sie wĂŒrden es nicht wagen…

Die Nachricht im Radio ĂŒberraschte mich am 25. Februar. Juan JosĂ© Garfia, JosĂ© Campillo, Antonio VĂĄzquez und JosĂ© Romera ChuliĂĄ schafften es, in der NĂ€he von Valladolid aus einem Transporter zu flĂŒchten. Ich fĂŒhlte fĂŒr sie alle eine enorme Freude, sie wĂŒrden jetzt den Lohn fĂŒr ihr Wagnis kosten, einen verdienten Lohn, vorbehalten nur den Mutigsten. Ich freute mich besonders fĂŒr meinen Freund Juanjo: Er hatte es geschafft, er war frei. Nachdem sie an jenem Morgen die Anstalt AlcalĂĄ-Meco verlassen und festgestellt hatten, dass der Boden des Transporters verrottet war, beschlossen Juanjo, Campillo, ChuliĂĄ (der bekannt war als El FrancĂ©s) und VĂĄzquez, die Flucht zu versuchen. Mit dem Bein einer der Sitze als Stemmeisen schufen sie eine Öffnung im Bodenblech des Transporters, einen Durchbruch in den unteren Kofferraum, in den sie sich dann hinabließen. Obwohl sie es angeboten bekamen, wollten die ĂŒbrigen Gefangenen bei der Sache nicht mitmachen. Je mehr hinaussprangen, desto besser fĂŒr alle, wenn es dann galt zu rennen. Hinter der halboffenen KofferraumtĂŒr bereiteten sie sich auf den Sprung vor. Sie wĂŒrden es tun mĂŒssen, wenn der Transporter etwas langsamer fuhr, also beim Erreichen einer Stadt. Das wussten sie, und so machten sie es. In den Außenbezirken von Valladolid begann der Transporter, langsamer zu fahren, und in einer Kurve stĂŒrmten alle nach draußen, zur VerblĂŒffung der Guardia Civil. Aus dem Begleitwagen sprangen zwei unbewaffnete Guardias, und einer der beiden, JuliĂĄn Botella Nevado, holte JosĂ© Romera ChuliĂĄ ein und ĂŒberwĂ€ltigte ihn. Salvador GutiĂ©rrez, der jĂŒngere der beiden Beamten hatte weniger GlĂŒck, er erreichte zwar Garfia, doch dieser schlug ihn mit mehreren Hieben auf den Asphaltboden und floh sofort und endgĂŒltig. JosĂ© Campillo und Antonio VĂĄzquez entkamen ohne sichtbare Verletzung und ohne grĂ¶ĂŸere Probleme. Die Flucht war erfolgreich verlaufen, außer fĂŒr Romera ChuliĂĄ, der auf die nĂ€chste Chance warten musste, um es erneut zu versuchen.

Anfang MĂ€rz wurde mir der Prozess gemacht, aufgrund des Straftatbestandes der Beamtenbeleidigung. Ich hatte aus dem GefĂ€ngnis einen Brief verschickt, in dem ich einen Richter mit dem Tod bedrohte und von ihm die Zahlung einer Revolutionssteuer von drei Millionen forderte. Ich wurde unter schweren Sicherheitsvorkehrungen vor den Richter gefĂŒhrt. Auf die Frage nach dem Grund fĂŒr diese Drohungen antwortete ich: Aus Justizhass. Ich wurde zu drei Jahren GefĂ€ngnis verurteilt.

Im GefĂ€ngnis schaffte ich es, Zellennachbar von Tofi zu werden, auf der Stirnseite des GebĂ€udes. Von dort aus konnten wir beide die Straße sehen, und gegenĂŒber befanden sich die VerwaltungsgebĂ€ude und die Offene Abteilung, ĂŒber die Romera ChuliĂĄ vor einem Jahr die Flucht gelungen war. Nebenan stand das Wohnhaus des Direktors. Nachts gingen wir an unsere Fenster und unterhielten uns. Manchmal widmete sich mein Freund der Belagerung des Direktors und beschimpfte ihn mit Rufen ĂŒber den Hof: »Hey du Arschloch! Ich weiß, dass du mich hörst. Wir wollen besseres Essen!«

Dann rief der Guardia Civil vom Wachturm dazwischen:

»Halten Sie das Maul!«

»Fick dich, du Idiot!«

Diese Situationen bescherten uns regelrechte LachanfĂ€lle. Tofi war ein beherzter Typ, ein exzellenter Genosse, und die Tage, die ich dort mit ihm verbrachte, waren sehr unterhaltsam. Manche NĂ€chte bekam ich wieder Herzrasen und ich rief ihn mit Klopfen an die Wand, damit er an die TĂŒr schlagen konnte, falls es schlimmer wurde. Sobald es mir besser ging, legten wir uns wieder schlafen, das war immer erst im Morgengrauen. Obwohl ich an diese Attacken schon gewöhnt war, war es hart, sie in einer Zelle ertragen zu mĂŒssen, allein, mit einem unruhigen und besorgten Genossen nebenan, der bereit war, im Fall einer Verschlimmerung gegen die TĂŒr zu schlagen. Sofern es sie gab, war die Kameradschaft zwischen den Gefangenen etwas Wunderbares, was mich nach wie vor begeisterte. Ohne Zweifel etwas Schönes und Erhabenes.

Sie brachten mir das Urteil im Prozess von Zamora: Achtzehn Jahre GefĂ€ngnis. Jenes Papier zerstörte definitiv jedes denkbare Band mit der Gesellschaft. Diese trug vermittelt durch ihre Institutionen dafĂŒr Sorge, mich fĂŒr immer aus ihrer Welt verschwinden zu lassen. So funktionierte das System. Man verfolgte dich, bedrĂ€ngte dich, man fĂŒhrte Buch ĂŒber deine Fehler, und wenn du es am wenigsten erwartetest, warfen sie dich in einen Kerker. Jetzt wĂŒrden sie auf den nĂ€chsten losgehen. Und so auf alle die Frauen und MĂ€nner, die die schöne neue demokratische Welt nicht akzeptierten.

Am Morgen des 18. MĂ€rz gingen Javier Ávila Navas und seine Kumpel von der Theorie zur Praxis ĂŒber. Die Nachricht erreichte das ganze Land ĂŒber Radio- und Fernsehwellen: Im GefĂ€ngnis Herrera de La Mancha hatte eine Gruppe Gefangener im Sondertrakt mehrere Geiseln genommen und sich verschanzt. Alles war an diesem Morgen passiert, wĂ€hrend die Ärztin die HĂ€ftlinge in den Zellen zur Visite aufsuchte. Normalerweise hatten diese Zellen eine GittertĂŒr, die jeden Kontakt verhinderte, außer an diesem Tag. Eine dieser TĂŒren war durchgesĂ€gt und also offen. Sie hing an einem Draht, damit der Schließer nichts merkte. Als sie in die Zelle von Ávila Navas kamen, warf sich dieser auf sie, mit einem Messer bewaffnet, und nachdem er sie ĂŒberwĂ€ltigt, in die Zelle gesperrt und die SchlĂŒssel an sich genommen hatte, eilte er, seinen Genossen Rivas DĂĄvila und Losa LĂłpez zu öffnen, die sich im selben Trakt befanden. Draußen auf dem Hof ĂŒberwĂ€ltigten SĂĄnchez Montañés und Laudelino Iglesias weitere zwei Schließer und brachten sie unter ihre Kontrolle. Danach gingen sie in die Wachstube und schlossen einen Schließer, einen einfachen Guardia Civil und einen GruppenfĂŒhrer dort ein. Der Alarm ging los. Die Gefangenen schlossen eine sofortige Flucht aus und bauten mit Matratzen und von den ZellentĂŒren abgerissenen Gittern Barrikaden auf den Fluren des Trakts, bereiteten Molotov-Cocktails vor, mit denen sie im Fall einer StĂŒrmung den Trakt in Brand setzen konnten. Die vier Geiseln, drei Schließer und die Ärztin, wurden in unterschiedliche und immer neue Zellen gebracht, damit die SpezialkrĂ€fte, die sich sicherlich bald einfinden wĂŒrden, sie nicht lokalisieren konnten. Sie waren zu allem entschlossen. Die Guardia Civil drang in die Anstalt ein und bezog Posten um den Sondertrakt, sie belagerten ihn. Die Kraftprobe hatte begonnen. Von nun an war es Nervensache. Wie ein Tauziehen, an beiden Enden zogen die Parteien mit all ihrer Kraft, und wer nur einen Millimeter preisgab, wĂŒrde verlieren.

Es begannen die Verhandlungen. Sie fanden vor Ort statt, ĂŒber die Barrikaden. Die Verwaltung hatte fĂŒr die Verhandlungen drei Inspektoren der Generaldirektion aus Madrid und die Strafvollzugsrichterin geschickt, das hatten die verschanzten Gefangenen gefordert. In ReprĂ€sentation der Gefangenen las Ávila Navas die Liste der Forderungen, die Ursache fĂŒr diese EntfĂŒhrung waren:

1.- Beendigung aller Folter in allen GefÀngnissen in Wort und Tat.

2.- Sofortige Entlassung der Schließer, die uns in Alcalá-Meco dazu angeregt haben, in der Anstalt eine Gruppe zur Ermordung der gewichtigsten politischen Gefangenen zu bilden, im Tausch gegen verbesserte Haftbedingungen.

3.- Angemessene Ausstattung der Jugendstrafanstalt Madrid, wohin die gefangenen Frauen aus YeserĂ­as verlegt werden.

4.- Beendigung der Folter, der PrĂŒgel und der Misshandlungen in der psychiatrischen Anstalt Alicante (Foncalent), Abteilung fĂŒr akute FĂ€lle, wo man die Kranken monatelang ans Bett fesselt, weshalb diese ihre Notdurft auf sich selbst verrichten, ohne Zugang zu ihrer Habe, wofĂŒr die Hauptverantwortliche Frau Doktor MarĂ­a Ángeles LĂłpez ist.

5.- Ehrliche Untersuchung und Feststellung der Verantwortung in Bezug auf die ErhĂ€ngungen, die in den staatlichen Anstalten stattgefunden haben wegen der beabsichtigten NachlĂ€ssigkeit der Schließer, die ihrerseits andere Einsitzende mit Übervorteilung erpresst haben, damit sie nicht an der AufklĂ€rung dieser Morde mitwirken. Weiterleitung der Anzeigen wegen beabsichtigter Ansteckung mit AIDS durch Austausch unseres Rasierzeugs, dessen Einbehaltung und spĂ€tere Ausgabe ohne jede Kontrolle.

6.- Sofortige Freilassung aller unheilbar Kranker, wie es Artikel 60 der Strafvollzugsordnung vorsieht.

7.- Anwendung von Artikel 60 auf AIDS-Kranken, solange das Virus sich in einer mittleren Entwicklungsphase befindet, und nicht nur wenn es sich praktisch schon um Leichen handelt, wie in dem Ausspruch vergangenen Jahres von Generalstaatsanwalt Leopoldo Torres. Sein fehlender humanitÀrer Geist ist uns bekannt.

8.- Sofortige Aufhebung von Artikel 10 des Strafvollzugsgesetzes, dessen erster Abschnitt Untersuchungsgefangene und dessen zweiter Abschnitt Strafgefangene jahrelang im Ersten Grad, erste Phase belÀsst: Das sind 22 Stunden am Tag in der Zelle, und das wissend um die gewaltfördernde Wirkung der Isolation.

9.- Dass das Maximum der Isolation als Disziplinarstrafe nicht mehr 42 Tage betrage; 14 Tage sind schon grausam, und es hat nur zur Folge, dass die Gefangenen gegenĂŒber der Bestrafung abstumpfen.

10.- Dass unsere derzeitige Regierung sich nicht lĂ€nger an durch Rauschgiftsucht bedingte StraftĂ€ter auslasse, an den Opfern der Überschwemmung des Landes mit Drogen, und dass man ihre Krankheit und die ganze Dimension dieses Problems ins Blickfeld rĂŒcke. Kranke bestraft man nicht, man heilt sie.

11.- Dass die Strafvollzugspolitik nicht nur in der Theorie und in ihrer Öffentlichkeitsarbeit fortschrittlich sei; dass die Resozialisierung als solche nicht nur ein vollkommen abstrakter Begriff bleibe und man ĂŒber das Leben und die physische IntegritĂ€t der Gefangenen wache und dabei deren Ideale respektiere. Dass man auch die soziale Verwurzelung der Gefangenen berĂŒcksichtige und dass sie ihre Strafen in Anstalten in der NĂ€he ihrer Herkunftsorte ableisten sollten.

12.- Dass man das Recht auf Kultur und Sport respektiere, und dass man mehr entlohnte AktivitÀten und Arbeit anbiete.

13.- Abschaffung des Einkaufsverbots im Economato als Sonderstrafe.

14.- Dass man den Familienangehörigen der Gefangenen den ihnen gebĂŒhrenden Respekt entgegenbringe, solange sie sich auf AnstaltsgelĂ€nde aufhalten.

15.- Einschluss der Möglichkeit in das Strafgesetzbuch, nach fĂŒnf Jahren in Haft die Freiheit zu erlangen.

16.- Dass den Gegangenen wĂ€hrend der Verhandlung ihrer Disziplinarverfahren Beratung mit Zeugen und Anwalt offenstehe, da sie sich vor korrupten Tribunalen befinden, bei denen Schließer gleichzeitig als Richter und als Henker auftreten, und die Disziplinarstrafen die Haft zusĂ€tzlich verlĂ€ngern. Die fehlende Verteidigung verletzt die Spanische Verfassung in ihren Artikeln 24 und 119.

17.- Dass die »fortschrittliche« Strafvollzugspolitik den »gefĂ€hrlichen« Gefangenen gegenĂŒber entgegenkommender sei, die doch einfach Gerechtigkeit fordern, und dass sie ihre GroßzĂŒgigkeit nicht mit ultrarechten Terroristen und Drogenbossen aufbrauche.

18.- Dass man uns wegen dieser illegalen Festnahme von Schließern nicht den Prozess mache, motivierte uns doch stets und einzig das schlechte Funktionieren der Justizverwaltung.

Die Verwaltung wurde von den Forderungen der Gefangenen unterrichtet. Man weigerte sich, sie öffentlich zu machen, nach der Richtlinie, vor allen Dingen und trotz der Gefahr fĂŒr Menschenleben diese erschĂŒtternden Anklagen der Situation im Strafvollzug auf spanischem Territorium zu verdunkeln. Man konnte nicht zulassen, dass die Gesellschaft ĂŒber die RealitĂ€t in dieser Unterwelt, in der die Diktatur weiter Kurs hielt, aufgeklĂ€rt wurde. Es wurde eine Desinformationskampagne fĂŒr die Medien entworfen. Und so verloren die wichtigen Tageszeitungen mit Ausnahme von Egin und diverser Radioprogramme auch keine Zeit, ĂŒberwacht und realitĂ€tsentfremdet wie sie waren, die Gefangenen als verantwortungslose und gemeingefĂ€hrliche VerrĂŒckte zu bezeichnen. Übrigens stellte keiner dieser Berserker des Informationshandwerks klar, dass die Sonderbedingungen, die fĂŒr diese Gefangene galten, illegal und abgeschafft waren, laut Königlichem Dekret Nr. 787 von 1984. Es war dasselbe Theater wie immer. Sie beachteten das Gesetz nicht, verletzte allerdings jemand anderes als der Staat das Recht, wurde er als irrer Faschist hingestellt. Scheinheiligkeit, Unrecht, Schwachsinn. Die Verantwortungslosigkeit und Prostitution der Medien war einfach abstoßend und widerlich.

Nichts war berichtet worden ĂŒber Herrera de La Mancha, traurig berĂŒhmt fĂŒr die dort stattfindende Folter der Gefangenen der COPEL in den Jahren 79, 80 und 81, als man die Gefangenen nachts und in Handschellen aus ihren Zellen holte und sie dann aus absolut unangreifbarer Position unerhörte PrĂŒgel spĂŒren ließ, mit dem Zweck, GestĂ€ndnisse zu zurĂŒckliegenden RaubĂŒberfĂ€llen oder Verrat von Genossen zu erpressen, Verrat zum Beispiel der politischen Gefangenen von ETA. Diese Geschichten sind in dem Band Herrera, PrisiĂłn de Guerra zusammengefasst. Nein. Warum auch den BĂŒrgern die ganze Wahrheit erzĂ€hlen, damit jene fĂŒr sich selbst entscheiden konnten, ob das alles gut oder schlecht war? Wie wĂŒrden die Medien und der Staat aufrecht erhalten können, jene subversiven MĂ€nner seien gefĂ€hrliche herzlose Psychopathen, falls diese achtzehn Forderungen die BĂŒrger erreichten? Mit jedem Wort erzĂ€hlte dieser Text in menschlichem Ton von ungeheurer SolidaritĂ€t. Wie wĂŒrde der Staat rechtfertigen können, dergleichen solidarisches Handeln mit harter Repression zu ĂŒberziehen und geheim zu halten? Inzwischen waren jedoch die AnhĂ€ufung von LĂŒgen vor der Gesellschaft seitens der angeblich demokratischen Medien und die Spannung in und um die Anstalt weiter angewachsen. Die UEI der Guardia Civil hatten ihre Stellungen zum Sturm bezogen. Die Gefangenen setzten auf die Ärztin. Schwerlich wĂŒrden die SpezialkrĂ€fte eingreifen, wenn sie sich im Trakt befand. Die Ärztin war schwanger, was die Operation noch erschwerte. Man wĂŒrde das Risiko nicht eingehen und die Verantwortung fĂŒr eine mögliche Verletzung des Fötus nicht tragen wollen, oder sie von den wilden Bestien, die sie gefangen hielten, umbringen zu lassen.

Die Wirklichkeit sah anders aus: Im Sondertrakt wurde diskutiert, die Ärztin freizulassen. Das war eine schwierige Entscheidung, denn das wĂŒrde bedeuten, die Wahrscheinlichkeit eines Sturmangriffs auf neunundneunzig Prozent zu erhöhen. Doch die Schwangerschaft warf ernsthafte Zweifel an der LegitimitĂ€t der Gefangennahme dieser Frau auf, denn ein unschuldiges Wesen wurde zusĂ€tzlich mit hineingezogen. Deshalb wurde auch ihre Freilassung beschlossen, trotz der Aussicht auf einen ErstĂŒrmungsversuch. Und wirklich, Stunden spĂ€ter sollte auf diese in einem schwachen Moment gezeigte menschliche Geste hin grĂŒnes Licht fĂŒr das Eingreifen der SicherheitskrĂ€fte gegeben werden. Als die Ärztin freigelassen worden war, verloren die ĂŒbrigen Geiseln ihren Wert, man wĂŒrde ĂŒber sie hinwegsehen und ihr Leben geringschĂ€tzen. So dachte, so funktionierte die Verwaltung.

Am Morgen des 19., ungefĂ€hr um drei, ĂŒberschlugen sich die Ereignisse. Das Einsatzkommando bekam den Befehl, die Geiselnahme zu beenden, und griff ein. Als Erstes waren Explosionen und das Knattern von Maschinenpistolen zu hören. Alles ging dann sehr schnell. Die fĂŒnf Gefangenen wurden neben einer Geisel angetroffen, ĂŒberwĂ€ltigt und dann mit BaseballschlĂ€gern brutal zusammengeschlagen. Das war eine ĂŒbliche Methode bei der AufstandsbekĂ€mpfung, um auch alle ĂŒbrigen Gefangenen zu terrorisieren. Am Ende wurden drei der Gefangenen ins Krankenhaus eingeliefert, die anderen beiden wieder eingesperrt und die Geiseln befreit. Die ErstĂŒrmung hielt die Forderungen auf, sie hatten die Öffentlichkeit nicht erreicht. Die Verwaltung konnte zufrieden sein.

Die Jugendstrafgefangenen in Herrera de La Mancha allerdings, die gerade erst aus der Anstalt Zamora gebracht worden waren und die wussten, was geschehen war, fingen am darauf folgenden Tag einen neuen Aufstand an. Um ihre SolidaritĂ€t mit den verprĂŒgelten Sondergefangenen zu zeigen, stiegen die Gefangenen in Gruppen auf die DĂ€cher. Die Unruhen dauerten nur ein paar Stunden, die Zeit, die die Guardia Civil benötigte, um die Jugendlichen bestial zurĂŒckzuschlagen, mit PrĂŒgel einzudecken und blutig in ihre Zellen zurĂŒck zu stoßen. Diese VorfĂ€lle waren nur ein Vorzeichen fĂŒr das, was noch alles unternommen werden sollte aus SolidaritĂ€t mit jenen mutigen MĂ€nnern, denen das Unrecht nicht gleichgĂŒltig war.

Als das Verfahren, wegen dessen ich mich in Zaragoza aufhielt, stattgefunden hatte, teilte man mir mit, ich werde nach Teneriffa 2 zurĂŒckkehren. Ich hatte Aufenthalt in der Madrider Anstalt AlcalĂĄ-Meco. Dort lernte ich JuliĂĄn El Cajas kennen; ich teilte zwei Tage lang die Zelle mit ihm. Wir redeten ĂŒber AusbrĂŒche und beschlossen zu versuchen, den Fußboden des Transporters aufzuschneiden, der uns nach CĂĄdiz bringen sollte. Wir beschafften uns zwei SĂ€geblĂ€tter, bauten Griffe dafĂŒr und einen Spiegel, mit dem wir die Eskorte im Auge behalten konnten, und mehrere MetallstĂŒcke, um die TĂŒrschlösser damit zu blockieren. JuliĂĄn war ein wirklicher Spezialist, was die Transporter anging. Das hieß, dass wir große Chancen hatten es zu schaffen, wenn alles gut ging. Am Morgen kam der Transporter, um uns abzuholen. In den amerikanischen Zellen der Aufnahmeabteilung traf ich auf einen Landsmann. Er kam auf mich zu und grĂŒĂŸte mich. Er hieß Teixeira.

»Bist du es, Che?«

»Ja, und wer bist du?«

»Ich bin ein Freund von Anxo und Musta. Sie haben mir viel von dir erzĂ€hlt und ich wollte dich gerne kennenlernen«, antwortete er und streckte mir die Hand hin. Wir begrĂŒĂŸten uns.

»Gut. Wohin fÀhrst du?« fragte ich ihn.

»Nach Puerto, und du?«

»Ich auch nach Puerto.«

Als der Transporter in Bewegung war, schon außerhalb Madrids, machten wir uns am Fußboden zu schaffen. Wir öffneten einige TĂŒren, darunter die Teixeiras und anderer Gefangener, damit sie sich in den Gang stellen und uns decken konnten. Die Guardia Civil sollte uns nicht sehen können. Auf den Boden gekniet sĂ€gten wir abwechselnd an dem Blech. Es wĂŒrde uns eine Menge Arbeit kosten. Wir schafften es, fĂŒr den Anfang ein Loch zu machen. Aus Sorge, die Guardia Civil könnte wegen der Ansammlung im Gang Verdacht schöpfen, mussten wir unsere Arbeit aber einstellen. Wir verschoben es auf den Folgetag. Nachmittags kamen wir in der Anstalt CĂłrdoba an und blieben dort ĂŒber Nacht. Wir ruhten uns aus und fuhren am nĂ€chsten Tag frĂŒh morgens weiter. Schon in Fahrt baten wir darum, auf die Toilette gehen zu dĂŒrfen, und blockierten dann die TĂŒrschlösser, damit sie offen blieben. Wir öffneten anderen Gefangenen die TĂŒren und machten uns wieder an die Arbeit. Nach einer Weile sagte JuliĂĄn, er sei ĂŒberzeugt, wir hĂ€tten eine schlechte Stelle zum SĂ€gen erwischt.

»Das klappt nicht, José, wir kommen sehr langsam vorwÀrts. Wir können nicht schneller sÀgen, sonst bricht uns das SÀgeblatt, und dann haben wir verkackt«.

»Lass und zwei Stunden weiterarbeiten, und wenn wir nicht voran kommen, verdecken wir die Stelle und machen ein anderes Mal weiter, entweder wir oder andere Genossen. Was denkst du?«

»OK.«

Wir gingen wieder auf den Gang hinaus und versuchten weiter, das Blech durchzusĂ€gen und aufzuhebeln, doch wir schafften es nicht. Deshalb gingen wir dazu ĂŒber, Zigarettenasche und anderen Dreck zu sammeln und damit die Ritze im Blech zu verdecken. Wir hatten es versucht, und das schwierigste StĂŒck Arbeit war jedenfalls getan. Das wĂŒrden andere Gefangene ausnutzen können und an ihr Ziel kommen. Viel GlĂŒck!

In Puerto de Santa María kam ich nach Puerto 2, wo ich Paco und andere Politische wiedertraf. José Mari war ins Justizvollzugskrankenhaus in Madrid gebracht worden, um sich untersuchen zu lassen. Diesmal hielten sie mich nur zwei Tage in Cådiz fest.

In Herrera war unterdessen eine neue Geiselnahme geschehen. JosĂ© Antonio ApĂłn Mercader, bekannt als El Africano, hatte einen Schließer ĂŒberwĂ€ltigt und sich mit ihm zusammen in seiner Zelle verschanzt, um seine SolidaritĂ€t mit den Sondergefangenen auszudrĂŒcken und das Ende der PrĂŒgelorgien an ihnen seitens der Schließer zu fordern. Die Geiselnahme dauerte nur zwei Stunden. Sie erstĂŒrmten die Zelle.

Auf der anderen Seite der Mauer machte Juan JosĂ© Garfia weiter. Die Presse berichtete ĂŒber die EntfĂŒhrung eines Oberstleutnants der Guardia Civil und von einer Schießerei, bei der ein Guardia aus nĂ€chster NĂ€he im Gesicht getroffen wurde. Beides wurde Juanjo zugeschrieben. Die Jagd auf diesen Mann ging weiter, in diesem Fall allerdings schoss der Gejagte zurĂŒck und sollte ihnen wenig Freude bereiten. Hoffentlich erwischten sie ihn nicht.

Was mich anging, nach drei Tagen in Puerto 2 holten sie mich ab und brachten mich gefesselt in einem Gefangenentransporter an Bord der J.J. Sister, mit Ziel Santa Cruz, Teneriffa.

GefÀngnis Teneriffa 2, Santa Cruz auf Teneriffa, MÀrz 1991

Auf Teneriffa hatte sich einiges verÀndert. Mein Freund Anxo Fernåndez und sein Genosse Lisardo Gonzålez Reyes hatten gerade erst ohne Erfolg eine Flucht versucht. Die Disziplin war strenger geworden und die beiden waren in hÀrtere Anstalten verlegt worden. Man wies mir eine Isolationszelle zu. Ich bekam Schwierigkeiten, als ich Anstalten machte, mit den anderen zu reden oder ihnen Zigaretten zu bringen.

»TarrĂ­o!« schrie mich ein Schließer an.

»Was ist?«

»Die Guckfenster werden nicht aufgemacht und es wird nicht durch sie hindurch geredet!« sagte er mir, »Und es werden den Disziplinarbestraften auch keine Zigaretten ĂŒbergeben«, fĂŒgte er noch hinzu.

Ich hörte nicht auf ihn und verteilte die Schachtel Zigaretten, die ich bei mir hatte, unter allen Sonderbestraften. Ich zĂŒndete jedem von ihnen durch das Guckfenster hindurch eine Zigarette an, damit sie rauchen konnten.

»Sie haben einen Aktenvermerk, Tarrío.« Er drohte mir.

»Was ist denn los? Macht es Ihnen Spaß, die Leute unter Entbehrungen leiden zu lassen?« warf ich ihm an den Kopf.

»Es ist laut Vollzugsordnung verboten, und das wissen Sie.«

»Verboten, menschlich zu sein, stimmt’s? Schreib doch die Berichte, die du willst…«

»Sie können sicher sein, dass ich das tun werde.«

Vor die Zellenfenster hatten sie neue Gitterstreben geschweißt, senkrechte diesmal. Sie hatten die TĂŒr, die in den Nachbartrakt fĂŒhrte, blockiert und am anderen Ende des Trakts eine neue geschaffen, die nun direkt auf den Hof hinaus fĂŒhrte. Die BrĂŒcke hatte ein zentrales Tor bekommen, die nachts geschlossen gehalten wurde und nur tagsĂŒber offen stand. Ohne Zweifel hatten sie die Sicherheit verstĂ€rkt. Ich redete ĂŒber das alles mit Juan Caamaño, einem Gefangenen aus Valladolid, der in diesem Trakt als Gefangener ersten Grades einsaß.

»Krass, wie die hier jetzt drauf sind, was Caamaño?«

»Ja, seit du versucht hast abzuhauen und dann Anxo und Reyes, sind sie unertrĂ€glich geworden. Alles verbieten sie, und sie prĂŒgeln die Leute ohne jedes Motiv. Sie drehen durch…«

»Arschlöcher!«

»Hör mal, hast du noch Tabak?«

»Ja.«

»Gib mir etwas.«

»Warte mal kurz…« Ich suchte in meinem GepĂ€ck nach zwei Schachteln Zigaretten und knĂŒpfte dann eine Leine aus Bettlakenstreifen. Ich trat wieder ans Fenster, band ein StĂŒck Seife an die Leine und rief ihn: »Caamaño!«

»Ja?«

»HÀng was aus dem Fenster, ich schick dir was.«

»Hab den Besen draußen!«

»OK, los geht’s!« Ich warf die Seife bis auf seine Höhe und ĂŒber den Besenstiel hinĂŒber. Er fing sie auf.

»Hast du’s?«

»Ja.«

Ich band an das andere Ende die Zigaretten und eine Streichholzschachtel und ließ es los. »Los, hol’s dir!«

»Wo kommst du denn gerade her, Che?«

»Von verschiedenen Orten. Ich war in Zamora und in Zaragoza, bei Prozessen…«

»Hier ist’s ziemlich beschissen, wie du siehst.«

Ja, beschissen. Warum verbot man den Gefangenen zu rauchen, wo sie doch einzig zum Entzug ihrer Freiheit verurteilt waren? Welchen Sinn hatte es, eine Person in der Einsamkeit einer Isolationszelle Entbehrungen erleiden zu lassen, zusĂ€tzlich zu den Entbehrungen, die allein schon das Sklavendasein im GefĂ€ngnis mit sich brachte? Man bezweckte, mittels Leiden den individuellen Willen zu brechen, um die Entfremdung des Menschen zu erleichtern. Deshalb wĂŒrde man meine Tat mit Isolationshaft bestrafen. Ich hatte den Schmachter einiger Gefangener gestillt und damit gegen die Regeln verstoßen. Meine Gefangenenakte war voll davon: VerstĂ¶ĂŸe wie dieser hatten in meiner GefĂ€ngnislaufbahn schon ĂŒber zwei Jahre Isolationshaft bedeutet.

Ich verteilte weiter Tabak an die Sondergefangenen, und viele Aktenvermerke schlugen fĂŒr mich zu Buche. Dank der Ärzte wirkten sie sich nicht aus. Die sprachen sich nĂ€mlich gegen die VerlĂ€ngerung meiner langjĂ€hrigen Isolation aus. Sie beurteilten derartige Bedingungen als unbedingt schĂ€dlich fĂŒr meine Gesundheit und setzten die Isolationsbedingungen fĂŒr mich trotz des Drucks der Anstaltsleitung außer Kraft. Obwohl ich Zugang zum Economato, zum Aufenthaltsraum und zwei Stunden tĂ€glich auch zum Hof hatte, ließen sie mich allerdings immer noch nur allein hinaus, mit der Ausrede, es gebe keinen zweiten Gefangenen mit diesen Vorschriften. Auf Anweisung der Direktion wurde in meinen Postverkehr eingegriffen und von draußen eingehende Post fĂŒr mich aufgehalten, mit einer BegrĂŒndung, die mir nicht mitgeteilt wurde. So wollten sie Druck auf mich ausĂŒben. In der Bibliothek bekam ich ein paar BĂŒcher von Albert Camus, Der Teufel und der liebe Gott von Sartre und etwas von Schopenhauer, einem deutschen Nihilisten, den ich noch nicht kennengelernt hatte. Ich konnte mir auch ein paar karierte Schreibhefte besorgen, in denen ich am Tisch sitzend die Gedanken festhielt, die mich nach der LektĂŒre ĂŒberkamen, oder beim Umherstreifen in einsamen TrĂ€umen. Ich begeisterte mich fĂŒrs Schreiben und es verstrich kein Tag, an dem ich nicht einen Gedanken oder ein Gedicht in jene Hefte schrieb, die zu meinen Vertrauten geworden waren.

Nachts bekam ich Besuch von Schließern, die von draußen das Gitter und mein Bett ableuchteten und mich dabei absichtlich aufweckten. Ich bedachte sie dann mit Beschimpfungen, doch sie lachten und kamen ein paar Stunden spĂ€ter wieder, zu einer neuen sogenannten Kontrolle. Eines nachts, ich hatte die Provokationen satt, fĂŒllte ich einen Eimer mit Wasser und kauerte mich unter ein Zellenfenster. Dort wartete ich und rauchte Zigaretten, bis die Gitterkontrolle vorbeikam, was auch nicht allzu lange dauerte. Am Fenster angekommen, leuchteten sie auf das Bett, waren erstaunt, mich nicht darin zu finden, und riefen mich: »TarrĂ­o, treten sie heraus, dass wir sie sehen.«

Ich antwortete nicht und provozierte damit, dass sie bis an das Fenster herankamen. »Tarrío, lassen Sie diese Dummheiten und zeigen Sie sich!« riefen sie aufs Neue.

Ich nahm den Eimer, stand schnell auf und schĂŒttete ihnen das Wasser entgegen.

»Du Arschloch!« beschimpften sie mich, »jetzt kannst du was erleben.«

Ich hatte sie voll erwischt und sie gingen vor Wasser triefend weg. Ich musste lachen, obwohl ich wusste, dass ich Probleme bekommen wĂŒrde. Ich zog mich an und bereitete mich auf das Schlimmste vor.

Ein paar Minuten spĂ€ter kamen sie in den Trakt. Es kam ein knappes Dutzend, KnĂŒppel schwingend, angefĂŒhrt vom Dienstleiter, wie ich durch die Ritze im Guckfenster hindurch feststellen konnte. Sie öffneten es. »TarrĂ­o, wir mĂŒssen sie in eine andere Zelle bringen«, erklĂ€rte mir einer von ihnen.

»Kommt nicht in Frage.«

»Willst du, dass wir Gewalt anwenden?«

»Probiert’s doch«, antwortete ich und hatte auch schon den Stuhl in der Hand. Ich riss ihm eines seiner metallenen Beine ab.

»Hören Sie, Tarrío, verkomplizieren Sie nicht Ihre Situation.«

»Die einzigen, die meine Situation verkomplizieren, seid ihr, und eure Nachtbesuche sind zum Kotzen.«

»Gib uns das Stuhlbein und nichts weiter passiert, einverstanden?« sagte ein Schließer, der an das Guckfenster getreten war.

Sein Atem stank nach Alkohol.

»Nein.«

Sie beratschlagten und gingen dann. Sie kamen zu meiner Überraschung nicht zurĂŒck, schickten aber am frĂŒhen Morgen einen der Ärzte. Er sollte mit mir sprechen und mich dazu bringen, mein Verhalten zu Ă€ndern.

»Tarrío.«

»Was ist?«

»Kann ich mit dir in der Zelle reden?«

»Einverstanden, aber dass bloß kein Schließer in die NĂ€he kommt.«

»Nein, nur wir beide, OK?«

»OK.«

Er bat einen Schließer um die ZellenschlĂŒssel, öffnete und trat ein. Hinter ihm schlossen sie die TĂŒr. Wir redeten.

»Was war gestern los?«

»Ich weiß nicht, wie lange sie mich schon jede Nacht aufwecken… Ich habe Wasser auf sie geschĂŒttet. Sie waren besoffen und haben mich provoziert…«

»Und was wirst du jetzt tun?«

»In Hunger- und Durststreik werde ich treten, bis sie mich in Ruhe lassen und mich mit jemandem zusammen auf den Hof lassen, und sie sollen mir das Radio und die elektrische Orgel wiedergeben, die sie mir weggenommen haben.«

»Warum haben sie dir die weggenommen?«

»Um mich zu Ă€rgern und mir die Zelle schwerer ertrĂ€glich zu machen. Es ist klar, dass der Direktor und sein Stellvertreter mir meinen Fluchtversuch nicht verzeihen, das ist ihre Rache. Ach, was weiß ich…«

»Ich werde mit ihnen reden, mal sehen, was wir ausrichten können, aber tritt nicht in den Hunger- oder Durststreik, denn damit schadest du dir selbst.«

»Egal, ich mache es, ich bin entschlossen.«

»Wie du willst. Besser, du gibst mir das Eisen und den Stuhl. Sie werden nichts Schlimmes mit dir machen, ich gebe dir mein Wort.«

»Nehmen sie sie mit.«

»Ich werde mit dem Direktor darĂŒber reden, das verspreche ich dir.«

»Gut.«

Ich frĂŒhstĂŒckte nicht. Ich aß nicht zu Mittag und nicht zu Abend. Ich erklĂ€rte mich in Hunger- und Durststreik und legte mich auf die Pritsche. Ich verweigerte den Hofgang und ĂŒberhaupt das Verlassen der Zelle, außer um Tabak im Economato zu kaufen. Jeden Tag erhielt ich Visite von den Ärzten, die vergeblich versuchten, mich zur Aufgabe des Streiks zu bewegen. Ich hatte zwei Schriften an das Gericht aufgesetzt und machte darin dieses und die Verwaltung verantwortlich fĂŒr das, was mit mir geschah. Ich erhielt den Streik wĂ€hrend der fĂŒnf Tage aufrecht, die sie brauchten um zu entscheiden, meinen Petitionen nachzugeben. Einer der Ärzte teilte es mir mit.

»Tarrío«, sprach er mich an, »sie werden dir das Radio und die Orgel geben, und du wirst nicht mehr alleine auf den Hof gehen. Das mit der nÀchtlichen Kontrolle werden sie weiterhin machen, doch sie werden versuchen, dich nicht aufzuwecken oder mit der Lampe anzuleuchten. Was sagst du dazu?«

»Wer hat das gesagt?« fragte ich nach.

»Joaquín, der Direktor, hat mir es gerade eben gesagt.«

»OK, sagen Sie ihm, ich lege den Streik nieder.«

»Gut.«

Diese Maßnahme sollte uns allen nĂŒtzen, denn sie wĂŒrden sonderbestrafte Genossen mit mir zusammen hinaus lassen, was wiederum die Verteilung der Zigaretten im Trakt vereinfachen und die strikte Disziplin der Isolation etwas lockern wĂŒrde. Zumindest etwas hatten wir mit all dem gewonnen. Was mich anging, mit der Orgel und dem Radio wĂŒrden die Tage schneller und unterhaltsamer vergehen. Gleichzeitig suchte ich einen Komplizen und die nötigen Dinge, um einen neuen Ausbruchsversuch zu unternehmen.

Ich erhielt Besuch von einer Psychologin. Wir unterhielten uns in dem kleinen Krankenzimmer unseres Trakts.

»Hallo, TarrĂ­o, wie fĂŒhlen Sie sich?«

»Sehr gut.«

»Machen Sie immer noch weiter mit dem Streik?«

»Nein, nicht mehr.«

»Die Direktion schickt mich«, sagte sie in ernstem Tonfall. »Wir wollen wissen, ob Sie an Ihrem Benehmen festhalten oder ob Sie mit uns zusammenarbeiten wollen.«

»Wie ist denn mein Benehmen?« fragte ich sie.

»Kommen Sie, TarrĂ­o, sie wissen genau, was ich meine. Sie lehnen jede Zusammenarbeit ab, lassen es stĂ€ndig an Respekt gegenĂŒber denen fehlen, die hier arbeiten, die ihr Bestes tun. Und Sie zeigen sich unzugĂ€nglich fĂŒr jeden Versuch des Dialogs. Es ist sehr schwer, einen Dialog mit Ihnen zu fĂŒhren…«

»Aber wir reden doch, oder?«

»Ja, was wir aber möchten ist, dass Sie mitarbeiten und uns erlauben, Sie hier herauszuholen und in einen anderen Trakt einzuweisen. Glauben Sie nicht, dass Sie noch viel lĂ€nger in dieser Situation aushalten, am Ende wird es Ihnen Leid tun. Wir sind das System, und gegen das System zu rebellieren, ist zwecklos. Alles, was Sie so erreichen, ist noch ein paar Jahre mehr in solchen Zellen zu verbringen, wo Sie doch Zugang zu gewissen VergĂŒnstigungen bekommen könnten…«

»Hören Sie, FrĂ€ulein, das System, was Sie so hochleben lassen, kĂŒmmert mich einen Dreck. Dass man Menschen in Sonderzellen einsperrt, ohne Zigaretten, halte ich fĂŒr unnötigen Sadismus. Was Ihr Programm angeht, behalte ich meine Meinung lieber fĂŒr mich, um Ihre SensibilitĂ€t nicht zu sehr zu fordern. Ich will nur klarstellen, dass es zum Himmel stinkt.« Ich machte eine kleine Pause und fuhr dann fort: »Was den Dialog angeht: Sie sind die am wenigsten Geeigneten, mir mangelnde Kommunikationsbereitschaft vorzuwerfen, können Sie doch nicht einmal zehn zusammenhĂ€ngende Wörter formulieren, ohne dass sich in ihnen eine Drohung oder eine Erpressung verbirgt. Das Problem, gnĂ€diges FrĂ€ulein, liegt nicht bei mir. Das Problem besteht darin, dass Sie die Strafvollzugsordnung nicht umsetzen, sie sogar durch ihre Anmaßungen andauernd verletzen. Sie erfĂŒllen Norm und Gesetz nicht. Statt hier bezahlte ArbeitsplĂ€tze fĂŒr die Gefangenen zu schaffen, schaffen Sie kleine Diktaturen. Zwangsarbeit ohne Lohn, Sonderstrafen ohne Ende fĂŒr diejenigen, die sich nicht ihrem hochgelobten Besserungsplan unterwerfen. Wie soll ich mit denen einen Dialog fĂŒhren, die sich auf die Folter stĂŒtzen, auf Anmaßung und Erpressung? Glauben Sie mir, Sie sind nicht so professionell, ehrenhaft und gut, wie Sie glauben…«

Meine Worte ĂŒberraschten sie.

»Wer hier gefangen ist, weil er das Gesetz ĂŒbertreten hat, sind Sie und nicht ich. Es kann sein, dass diese Einrichtung nicht perfekt ist, wir glauben aber an unsere Arbeit und wir verrichten sie anstĂ€ndig. Und wissen Sie, die meisten Gefangenen hier arbeiten und verkĂŒrzen ihre Haftstrafe auf die HĂ€lfte. Ich zweifle allerdings daran, dass Sie das jemals schaffen, mit einer derart herausfordernden Art…«

»Wir werden ja sehen«, antwortete ich, stand auf und sah die Unterhaltung als beendet an.

Jene Worte waren eine Warnung. Sie betonten, dass ich ihnen total unterworfen war, und dass sie alles mit mir machen konnten, was sie fĂŒr meine Besserung als zweckdienlich erachteten. Es war bekannt, dass ich HIV-positiv war, und dass sich das auf mein GemĂŒt auswirken musste. Dieser Umstand und die Disziplinierungszellen, das Eingreifen in den Postverkehr, einziger emotionaler Halt im GefĂ€ngnis, war doch das GefĂ€ngnis zu weit entfernt von der Familie, um anderen Kontakt haben zu können, das alles wĂŒrde mich zum Nachdenken veranlassen und ich wĂŒrde nachgeben.

Das zu erreichen bedeutete fĂŒr sie einen Erfolg vor der Behörde in Madrid. FĂŒr sie war ich nur ein Versuchskaninchen, an dem man verschiedene Repressionsmethoden ausprobieren konnte. Und wirklich waren wir, seit man MĂ€nner und Frauen in Ketten legte, Versuchskaninchen von Ärzteteams, Erziehern, Psychiatern und GefĂ€ngniswĂ€rtern. Die Erfolge dieser Forscher der Entmenschlichung und Folter bedeuteten fĂŒr uns, die Kaninchen, von der Verwaltung zuerkannte Vorteile, Beförderungen. Das klingt hart, es war aber so. Jeder Mensch konnte diese Erfahrung machen: Einfach, weil er einen Fehler gemacht hatte, kam er ins GefĂ€ngnis und versuchte dann, dort drinnen seine WĂŒrde zu erhalten, seine GefĂŒhle und Werte. Das System lebt von Menschenfleisch. Es zwingt dich, vor der Erpressung, vor der Strafe klein beizugeben. Die Psychologin hielt in ihrem Diskurs diese Methoden hoch, machte mit diesen verabscheuungswĂŒrdigen und schĂ€bigen technokratischen BĂŒtteln gemeinsame Sache, die mit ihren Prozessen und ihren Strafen ohne Zaudern in den benachteiligten Klassen Leben beendeten, vor allem aber in den widerstĂ€ndigsten. Dieses ganze System der UnterdrĂŒckung war auf die allgegenwĂ€rtige Drohung mit Strafe gegrĂŒndet, und das funktionierte nicht. Das System war schwerfĂ€llig und unsinnig, denn statt Mitmenschlichkeit zu fördern, zerstörte es diese. Es förderte vielmehr die Niedertracht derjenigen, die es durchsetzten, und den Hass und die Gewaltbereitschaft derjenigen, die es erlitten.

Die PressebĂŒttel stellten das auf den Terror des GefĂ€ngnisses gestĂŒtzte System ĂŒblicherweise nur geschminkt dar, und die Richter ließen dieses System zu, mit der Macht gepanzert, die ihnen verliehen worden war, und die sie unangreifbar machte, zu falschen Heiligenfiguren. Wenn etwa eine Misshandlung oder ein Zwischenfall vor den Richter gebracht wurde, beschrĂ€nkte sich dieser darauf, der Strafvollzugsbehörde gute Arbeit zu bescheinigen. Dann legten wir Berufung ein und zogen vor das Provinzialgericht, das seinerseits die Entscheidung des Richters ratifizierte. Schließlich zogen wir vor das Verfassungsgericht, und ein paar Jahre spĂ€ter gewannen wir vielleicht den Fall, aber dann verlegten sie uns in eine andere Anstalt, und dort ging alles von vorne los. Alles verlief in festen Bahnen, ohne Abwege, auf legale Art und Weise: demokratisch eben.

Ich schaffte es, ĂŒber Telefon mit der Außenwelt zu sprechen. Ich bekam mit, dass mein Freund Chico wieder verhaftet und eines Bankraubs angeklagt worden war. Von nun an wĂŒrde ich ganz allein auf mich gestellt sein.

Ich entschied, mit Caamaño zu reden, um im Trakt eine Geiselnahme zu organisieren und als Schließer verkleidet auszubrechen. Er versprach mir, die Sache zu durchdenken und darauf zurĂŒckzukommen.

Der Sommer kam und mit ihm die Hitze. Ich ging in die Sonne, wurde etwas braun, und das heilte in gewissem Grad die Akne, die meinen RĂŒcken und Teile der Brust bedeckte. Dabei half mir ein kanarischer Gefangener, den sie in die geschlossene Abteilung gesteckt hatten. Mit Wattebausch und Jod gemischt mit Alkohol reinigte er mir jeden Tag die Wunden. Wir kannten ihn als Malaje, er war ein großartiger Genosse, wir schĂ€tzten ihn sehr wegen seiner einfachen und direkten Art. Dank seiner Hilfe vernarbten die meisten Wunden.

Im Trakt herrschte tĂ€glich dieselbe Monotonie. Es war unertrĂ€glich heiß, weshalb ich normalerweise mehrere Eimer Wasser mit in den Hof nahm, um dort nackt zu duschen. Danach legte ich mich in die Sonne. Nachmittags setzte ich mich an den Tisch und schrieb Gedichte und Gedanken in meine Hefte. Ich dachte sogar daran, ein Buch ĂŒber dies alles zu schreiben, doch ich gab die Idee wieder auf. Mir fehlte dazu das Vertrauen in meine FĂ€higkeiten als ErzĂ€hler. Ich war noch nicht bereit dazu, also machte ich mit kleinen Gedanken weiter, deren einziger Leser Malaje war. Er warf mir meinen bluttriefenden Stil vor, der in allen Texten zu spĂŒren war. Doch das war meine Sicht der Dinge, mein Bild vom Menschen, meine Art, die Abscheu davor auszudrĂŒcken, was zwischen diesen Mauern vor sich ging.

Das Essen war nach wie vor gut, und auch die Behandlung durch die Ärzte war korrekt. Ich hatte kein Herzrasen mehr gehabt seit der Behandlung mit Tranxilium-50-Tabletten, die sie mir verschrieben hatten. Ich konnte nachts jetzt tief schlafen. Mein VerhĂ€ltnis zu den Schließern verschlechterte sich allerdings weiter, fast bis ins UnertrĂ€gliche. Ich hasste sie und sie hassten mich, das war unausweichlich.

Eines Nachmittags im Juli fĂŒhrte ich eine Diskussion mit einem von ihnen. Er hatte mich vor der eigentlichen Uhrzeit in die Zelle einschließen wollen. Ich weigerte mich, in die Zelle zu gehen und forderte ihn auf, mich doch hinzubringen. Also ging er VerstĂ€rkung holen, und eine Gruppe Schließer erschien im Trakt. Ich zerbrach einen Besenstiel und verschanzte mich im zweiten Stock. Der Dienstleiter redete von unten auf mich ein:

»Tarrío, lassen sie den Stock los und gehen sie ihn Ihre Zelle.«

»Nein, bis nicht meine Hofgangszeit abgelaufen ist.«

»Willst du, dass wir raufkommen und dich runterholen?« war seine Antwort.

»Das hĂ€ngt von Ihnen ab. Dem, der hochkommt, schlage ich auf den Kopf…«

Als ich das gesagt hatte, kamen sie in Gruppen die Treppe herauf und blieben einige Meter vor mir stehen.

»Tarrío, geben Sie mir den Stock«, bat mich der Dienstleiter.

Wenn ich ihnen den Stock gab, wĂŒrden sie mich genauso verprĂŒgeln. Also weigerte ich mich weiter: »Nein, und komm bloß nicht nĂ€her…«

Sie hörten nicht auf mich und kamen Stufe um Stufe weiter die Treppe herauf. Als sie bei mir angekommen waren, schlug ich einen von ihnen mit dem Besenstiel, und sofort waren wir in eine Keilerei verstrickt, im Laufe derer ich zu Boden gestreckt, getreten und schließlich bis in meine Zelle geschleift wurde. Sie durchsuchten meine Zelle und zerrissen vor meinen Augen die Familienfotos und mehrere Briefe und warfen alles auf den Fußboden. Sie beschlagnahmten mein Schreibheft und zerschlugen die Orgel und das Radio. Als sie mit ihren Gemeinheiten fertig waren, schlossen sie mich in die Zelle ein.

»Das nĂ€chste Mal brechen wir dir die Beine, verstanden?« drohte mir der Dienstleiter durch das Guckfenster. »Ich will keine einzige Beschwerde der Beamten ĂŒber dich hören, vergiss das nicht.«

Als sie weg waren, machte ich mich daran, die zerrissenen Briefe und Fotos aufzusammeln und sortierte die ganze Unordnung ein bisschen. Ich schaffte es, einige Fotos mit Tesafilm zu kleben, andere musste ich wegwerfen. Das Radio konnte ich reparieren, die Orgel allerdings nicht. Ich war wĂŒtend. Ich wusch das Blut ab, das aus meinem Mund lief und sah in den Spiegel. Eine Wange war entzĂŒndet und auf meinem RĂŒcken zeichneten sich rot die SchlĂ€ge ab. Juan Caamaño rief mich. Wir redeten ĂŒber die Fenster:

»Was ist passiert?«

»Nichts. Hast du darĂŒber nachgedacht, was wir besprochen haben?« fragte ich zurĂŒck.

»Ja, und ich bin einverstanden.«

»Gut. Wir reden noch darĂŒber.«

»Wie geht es dir?«

»Ich fĂŒhle mich ein bisschen zerquetscht, doch sonst gut und voller Tatendrang.«

Am nĂ€chsten Tag schaffte ich es wĂ€hrend des Spaziergangs, einer TĂŒr zwei MetallstĂŒcke abzureißen, aus denen ich zwei Messer machen konnte. Ich gab ein StĂŒck an Caamaño und machte mich selbst an das andere. Ich verpasste dem StĂŒck Metall eine scharfe Spitze.

Just an diesem Nachmittag erschien der Strafvollzugsrichter in der Anstalt und schickte nach mir. Ich willigte ein, mit ihm zu sprechen und wurde zu ihm gebracht, in eins der zentralen BĂŒros. Er wartete auf mich zusammen mit dem Staatsanwalt. Er begrĂŒĂŸte mich und ich antwortete höflich.

»Nehmen Sie Platz«, lud er mich ein. »Wir sind hier, weil uns Anzeigen von Ihnen und einigen Mitgefangenen von Ihnen vorliegen, in denen Sie von Misshandlungen im Isolationstrakt reden. Was haben Sie dazu zu sagen?« fragte er mich und zeigte auf einen Stapel SchriftsÀtze auf der Metallplatte des Schreibtischs, die meinen Namen und meine Handschrift trugen.

»Sehen Sie die geschwollene Wange?« – ich zeigte sie ihm vor. »Also das ist nur eine kleine Kostprobe fĂŒr das, was hier andauernd vor sich geht. Noch mehr Beweise sind diese AbdrĂŒcke«, fuhr ich fort und zeigte den RĂŒcken, »Sie werden sicher zustimmen, dass ich mir die nicht selbst beigebracht haben kann.«

»Wann ist das passiert?« fragte mich der Staatsanwalt.

»Gestern.«

»Aus welchem Grund?«

»Weil ich mich geweigert habe den Hofgang abzubrechen, als meine Stunde noch nicht um war.«

»Das glaube ich Ihnen nicht«, sagte der Staatsanwalt. »Die Anstalt hat, falls Sie das noch nicht wussten, Anzeige gegen Sie erstattet wegen des Angriffs auf einen Beamten mit einem Stock. Außerdem haben wir Ihre Akte gelesen. Vor Kurzem haben Sie in Ă€hnlicher Weise einen anderen Beamten mit einem Messer angegriffen, um anschließend einen Ihrer Mitgefangenen niederzustechen. Sie haben an Streiks und AufstĂ€nden teilgenommen, und Sie haben mehrmals versucht auszubrechen. Wie erwarten Sie, dass wir Ihnen glauben, bei so einer Akte?«

»Sehen Sie, es stimmt, dass ich einen Schließer mit einem Stock geschlagen habe, doch das geschah in Notwehr. Sie halten mich die meiste Zeit ĂŒber isoliert, sie greifen ohne richterlichen Beschluss in meinen Postverkehr ein, sie machen meine Habe kaputt, sie drohen und erpressen die ganze Zeit, ĂŒbertreten die Vollzugsordnung bei mir, wenn es ihnen passt, Sie wollen doch nicht, dass ich mich obendrein auch noch ungestraft zusammenschlagen lasse? Wenn Sie Ihre Arbeit tĂ€ten, könnten wir uns das alles schenken…«

»Die Schuld tragen Sie und nicht wir. Sie stellen eine Gefahr fĂŒr ihre Mitmenschen dar und Ihre Isolation und Ihre Haft ersten Grades werden vorsichtshalber verlĂ€ngert, bis Ihr Verhalten zeigt, dass Sie bereit sind, mit anderen Menschen zusammen zu leben.«

»Ich sehe schon, dass Sie schnell ĂŒbereingekommen sind«, antwortete ich. »Haben Sie sich jemals gefragt, warum es im GefĂ€ngnis Gewalt gibt? Ich bin HIV-positiv, meine Herren, und uns, die AIDS-Kranken, ermordet man praktisch ohne Zaudern. Ich spreche nicht von unvermitteltem Mord. Mit Straf- und Disziplinarmaßnahmen wirkt man andauernd auf den Gesundheitszustand und die KrĂ€fte derjenigen ein, die sich wie ich im GefĂ€ngnis befinden. Es reicht euch nicht, uns die Anwendung von Artikel 60 zu verweigern, ihr mĂŒsst uns auch noch verprĂŒgeln, unterwerfen und bedrĂ€ngen mit euren Normen. Obwohl das alles passiert, bleiben Sie gelassen, hochmĂŒtig und unnahbar. Diese Missachtung des Lebens der anderen, die Sie und der Staat tĂ€glich unter Beweis stellen mit Ihrer Verbohrtheit und ihrer stolzen, kranken Arroganz, tötet jedes positive Empfinden und jede Menschlichkeit in denen, die das erleiden, unter anderem in mir. Sie sind also in hohem Maße mitverantwortlich fĂŒr die Gewalt, die Sie uns ankreiden. Sie verurteilen die Leute und schicken sie in Haft, doch dafĂŒr, was dort geschieht, ĂŒbernehmen Sie nicht die Verantwortung. Das ist das Problem, und kein anderes, meiner Meinung nach…«

»Gut«, unterbrach mich der Richter, »benehmen Sie sich und ich werde veranlassen, dass Sie zusammen mit Freunden von Ihnen auf den Hof gehen können und dass Ihnen Ihre Rechte zugestanden werden, sofern Sie sich das wegen guter FĂŒhrung verdient haben. Alles hĂ€ngt von Ihnen ab.«

»Das heißt also, dass Sie nichts unternehmen werden, nicht wahr?«

»Ich wiederhole: Alles hÀngt von Ihrem Benehmen ab.«

»Tun Sie, was Sie fĂŒr richtig halten, doch falls es einen Zwischenfall gibt, geben Sie dann nicht mir die Schuld. Laden Sie nicht alle Verantwortung auf mich…«

»Ist das eine Drohung?« fragte der Staatsanwalt.

»Nein, die Wahrheit. Sie wissen auch, dass die Justiz immer gleich ausgewogen ist: Die Waage neigt sich zu Gunsten der MĂ€chtigen, mittels eines Systems von Kautionen, Vorteilen und juristischen Tricks, und sie bleibt genauso herum geneigt stehen bei uns, die wir kein Geld haben, mit dem wir uns verteidigen könnten. ErzĂ€hlen Sie mir nicht, sie glauben an Ihre Methode, und erzĂ€hlen Sie mir auch nicht, ich soll mit verschrĂ€nkten Armen dabeistehen, wĂ€hrend Sie darĂŒber entscheiden, was mit meinem Leben passiert.«

»Mit solchen Ideen werden Sie noch viel Zeit im GefÀngnis verbringen, Tarrío«, antwortete der Staatsanwalt.

»Wir werden tun, was wir können«, fĂŒgte der Richter kĂŒhl hinzu.

Ich ging wieder in die Zelle. Dort schrieb ich einen Zettel fĂŒr Juan Caamaño mit Strategien fĂŒr die Geiselnahme und die anschließende Flucht. Es ging darum, mehrere Schließer gefangenzunehmen, sie einzuschließen, uns ihre Kleidung anzuziehen, auf das GelĂ€nde hinaus zu gehen und von dort aus nach draußen. Wir vertrauten darauf, das alles gut laufen wĂŒrde. Ich wĂŒnschte mir von ganzem Herzen es werde gutgehen, um dieses ganze Pack zu Ă€rgern und sie alt aussehen zu lassen. Ich war sicher, dass ich es schaffen wĂŒrde, ich musste es tun.

Am Morgen des 5. Juli brachten sie einen minderjĂ€hrigen Gefangenen in den Trakt. Ein Kind. Ich wusste nicht, was er getan hatte, damit sie ihn hierher brachten, doch als die Gruppe Schließer ihn in eine der Zellen steckte und Gas versprĂŒhte, hĂ€mmerte ich an die TĂŒr und beschimpfte sie.

»Was ist los, Tarrío?« fragte einer von ihnen.

»Ein Haufen feiger Folterer, das ist los!« schrie ich.

Sie öffneten die TĂŒr. Sie drangen mit ihren Schlagstöcken in die Zelle ein und schlugen mich, ohne mir Zeit zur Reaktion zu lassen. Dann gingen sie, nicht ohne mir vorher zu drohen. Im GefĂ€ngnis ist es verboten, den anderen zu helfen oder öffentlichen Widerspruch gegen die brutalen Methoden zu Ă€ußern. Nichtsdestotrotz mussten wir Gefangenen uns weiter gegenseitig helfen, wenn wir das alles mit einem Mindestmaß an WĂŒrde ĂŒberleben wollten.

Am Nachmittag erhielt ich unangenehmen Besuch von einem Schließer, den ich aus dem GefĂ€ngnis Zamora kannte. In jenem GefĂ€ngnis hatte er die Gelegenheit genossen, mich zusammen mit seinen Berufskollegen zusammenzuschlagen, und jetzt wollte er mich mit der Erinnerung an diese fĂŒr ihn heldenhafte Tat unter Druck setzen.

»Was gibt’s, Arschloch?« sagte er zu mir durch das Guckfenster. »Hast du immer noch nicht genug PrĂŒgel abbekommen? Heute habe ich Wache, pass also auf, denn beim kleinsten Anlass kriegst du eins drauf. Erinnerst du dich etwa nicht mehr an mich?«

Ich erinnerte mich bestens.

»Na klar erinnere ich mich an dich«, antwortete ich und ging auf die TĂŒr zu.

»Gut, ich will den ganzen Nachmittag ĂŒber nichts hören, verstanden?«

Ich antwortete nicht auf diese Provokation. Eine Stunde nach diesem Besuch schlossen sie mir auf, damit ich auf dem Hof spazieren gehen konnte. In einem der Turnschuhe hielt ich ein selbstgemachtes Messer aus Eisen versteckt. Dieser Hundesohn wĂŒrde seine offenen Rechnungen alle auf einmal bezahlen mĂŒssen. Ich brachte das Messer problemlos durch die Kontrolle, die man mir jedes Mal angedeihen ließ, wenn ich die Zelle verließ. Er befand sich in der NĂ€he der TĂŒr zum Hof, dort ging ich hin. Auf seinem Gesicht stand das typische Mackertum jemandes geschrieben, der sich von seiner Uniform beschĂŒtzt fĂŒhlt, von seiner Dienstmarke und von einem ganzen System; jemandes, der weiß, dass er straflos handeln kann, ohne Angst vor Recht und Justiz, denn wer wenn nicht er selbst war dort einziges Gesetz und einziger Richter? Er wollte mir gerade etwas sagen, als meine Faust auf sein Gesicht traf, was ihn nach hinten taumeln und zu Boden fallen ließ. Völlig ĂŒberrascht davon, dass ein Gefangener es gewagt hatte, gegen ihn zum Schlag auszuholen, rappelte er sich auf, ging auf die Wachstube zu und kam mit einem KnĂŒppel bewaffnet wieder heraus.

»Jetzt kannst du was erleben!« brĂŒllte er wĂŒtend mit drohender GebĂ€rde und warf sich auf mich.

Ich bĂŒckte mich, ging halb in die Knie und zog das Messer aus dem Schuh. Als er es sah, hielt er an, ließ den Schlagstock los und hob die HĂ€nde, um mir zu zeigen, dass er sich nicht wehren wĂŒrde. Sein Gesichtsausdruck war ein Gedicht: »Ruhig, TarrĂ­o, bitte…«

Ich ging auf ihn zu, ergriff ihn am Hemd und zwang ihn, vor mir auf die Knie zu gehen. Ich stach mit dem Messer in Kopfhöhe auf ihn ein, und das Messer traf auf eine seiner HĂ€nde, mit denen er vor Schreck zitternd sein Gesicht schĂŒtzte.

»Jetzt bist du nicht mehr so obercool, was?« schrie ich ihn an, ich war außer mir. »Seid ihr nur mutig, wenn ihr in der Herde vor einem wehrlosen nackten Kind steht?« fĂŒgte ich hinzu und meinte die PrĂŒgel von Zamora.

»Beruhige dich, Mann, beruhige dich, wir werden das hier in Ruhe ĂŒber die BĂŒhne bringen, OK?« redete ein anderer Schließer von der anderen Seite her auf mich ein.

»Mach keine Dummheiten, TarrĂ­o, bitte beruhige dich…«

Ich sah meine Geisel an. Ich spĂŒrte den Wunsch ihn umzubringen, doch ich entschloss mich nicht dazu, aus Furcht vor den Konsequenzen, die diese Tat mir einbringen wĂŒrde. Ich hatte immer noch Hoffnung, und ich wĂŒrde Chancen haben, sie in die Tat umzusetzen. Deshalb ließ ich ihn los.

»OK, du Schwein, diesmal kommst du noch davon. Falls du dich eines Tages rĂ€chen willst und es noch einmal wagst, mich zu verprĂŒgeln, schwöre ich, dass ich dich ohne Zögern umbringe. Ist das

klar?«

»Ja, TarrĂ­o, ich versprech’s dir, alles klar…«

Ich ging zu meiner Zelle. Sie schlossen die TĂŒr, und ich entledigte mich des Messers. Ich gab es ĂŒber das Fenster an Caamaño weiter. Ich legte mich auf das Bett, verstört und in gespannter Sorge darĂŒber, was nun geschah. Nach einer Weile erschien eine grĂ¶ĂŸere Gruppe Schließer im Trakt, legte mir Handschellen an und brachte mich in eine andere Zelle. Weder schlugen sie mich noch drohten sie mir, sie beschrĂ€nkten sich darauf, mich in eine andere Zelle zu stecken und mir so meine Sachen vorzuenthalten. Sie fragten mich nach dem Messer, und ich antwortete, ich hĂ€tte es das Klo hinunter gespĂŒlt. Dann ließen sie mich allein, gefesselt in einer leeren Zelle. SpĂ€ter kam der Schließer zu mir, auf den ich eingestochen hatte. Er hatte die Hand verbunden und kam in Zivilkleidung. Ich vermutete, sie hatten ihn krankgeschrieben. Wir redeten durch das Guckfenster miteinander.

»Sieh mal, TarrĂ­o, ich weiß, dass das in Zamora nicht in Ordnung

war, aber ich habe nur Befehle ausgefĂŒhrt wie alle Beamten«, entschuldigte er sich. »Was heute passiert ist, hat mich die Sache anders sehen lassen, wirklich. Ich habe mit meinen Kollegen geredet, damit sie wegen der Sache nicht zu Repressalien gegen dich greifen…«

»Gut«, antwortete ich ihm, verwundert ĂŒber seine Haltung.

»Wir alle hier werden mit der Zeit immer brutaler. Glaube nicht, dass es mir leicht fiele, hier so zu arbeiten, doch von irgendwas muss man ja leben.«

»Es ist besser Hunger zu leiden als zu foltern, um es auszuschließen«, bekam er zur Antwort.

»Ja, aber irgendjemand muss diese Arbeit doch machen… Hör mal, an dem Messer war kein Blut oder so, oder? Ich sage das wegen HIV, du bist ja positiv…«

»Nein, es war sauber.«

»Nun ja, ich muss los. Tut mir Leid, dass alles so laufen musste.«

»So ist das GefĂ€ngnis«, antwortete ich und fasste damit alle möglichen Übel in diesem einen unheilvollen Begriff zusammen. Die MĂ€nner und Frauen dieser Welt tĂ€ten gut daran, ihn an einem nicht allzu fernen Tag abzuschaffen.

Einen Tag nach diesem Vorfall kam Juan Redondo FernĂĄndez in die Anstalt, ein bekannter Ausbrecher aus JaĂ©n. Er war von der Insel Ibiza verlegt worden. Seine Ankunft bedeutete, dass Juan Caamaño aus unserem Trakt fort musste. Er schaffte es noch, die zwei Messer in unserem Trakt zu verstecken. Er gab mir ĂŒber das Versteck Bescheid und wĂŒnschte mir GlĂŒck. Aus SicherheitsgrĂŒnden wollte der Direktor nicht mehr als zwei Gefangene in diesem Trakt haben, das erleichterte unsere Überwachung. Sie brachten mich wieder in eine andere Zelle und nahmen mir die Fesseln ab. Auch bekam ich meine Sachen zurĂŒck. Zur Hofgangsstunde konnte fĂŒr ich einen Moment bis zu dem Guckfenster der Zelle gehen, in die sie Juan Redondo gesperrt hatten, und mich einige Minuten mit ihm unterhalten. Er hatte einen festen, durchdringenden Blick, der von einer runden Brille etwas abgemildert wurde, von deren Gestell eine Kordel herabhing, die hinter dem Hals zusammenlief.

»Hallo, ich heiße José«, stellte ich mich vor.

»Ich heiße Juan.«

»Garfia hat mir viel Gutes ĂŒber dich erzĂ€hlt«, sagte ich ihm.

»Also, wenn du etwas brauchst, sagst du es mir, OK?«

»Im Moment brauche ich nichts. Wie ist es so hier?«

»Es ist OK, obwohl die Schließer ziemliche Arschlöcher sind. Wirst du schon noch merken.«

»Gut, ich rÀume erstmal ein bisschen auf. Wir unterhalten uns noch, José.«

»Alles klar.«

Ich ging auf dem Hof spazieren. Die Gegenwart von Juan freute mich, ich vertraute darauf, dass wir zusammen etwas Gutes anfangen wĂŒrden. Wenn wir uns erst einmal besser kennten, wĂŒrde ich ihm den Ausbruch vorschlagen, den ich mit Caamaño vorbereitet hatte, damit wir es zu zweit machten. Drei erfolgreiche und zehn versuchte AusbrĂŒche bescheinigten ihm Erfahrung, und ich zweifelte nicht daran, dass wir fĂŒr den Ausbruch aus Teneriffa 2 ĂŒbereinkommen wĂŒrden.

Am 10. des Monats gab es neuen Aufruhr in Herrera de La Mancha. VĂ­ctor Llopis, CristĂłbal Moral, VĂĄzquez Ayude und Benito Toledano nahmen mehrere Schließer und eine Psychiaterin als Geiseln und befreiten andere Gefangene, die dann bei dem Aufstand mitmachten. Sie hatten nicht die Flucht im Sinn, sondern die Lage in den GefĂ€ngnissen allgemein und die Forderungen von APRE(r) publik zu machen. Die brachten sie mit erhobenem Messer vor. Sie forderten die Sendung ihrer Liste mit Forderungen in mehreren Punkten im Rundfunk, darunter die Einstellung aller Folter in spanischen GefĂ€ngnissen, die Freilassung aller AIDS-FĂ€lle und anderer unheilbar Kranken. Sie klagten die Absicht der Verwaltung an, soziale Gefangene dazu zu veranlassen, ein Mordkommando gegen relativ wichtige Politische zu bilden. Sie forderten eine Verbesserung der medizinischen Betreuung der Gefangenen. WĂ€hrend der Geiselnahme, die notwendig war, um in der Öffentlichkeit gehört zu werden und die Verantwortlichen zu Verhandlungen zu zwingen, versetzte CristĂłbal Moral einem anderen Gefangenen, der wegen Vergewaltigung einsaß, mehrere Messerstiche und brachte ihn damit um. Vergewaltiger zu sein war im GefĂ€ngnis sehr gefĂ€hrlich, und das war der Grund fĂŒr diesen Tod. Das Gesetz der GefĂ€ngnisunterwelt war oft, vielleicht allzu oft grausam und hart. Wir anderen Gefangenen konnten nicht ertragen, dass die Vergewaltiger sich mit uns zusammen auf den Höfen aufhielten, das war alles. Dieser Tod wĂŒrde der Gesellschaft und der Behörde zeigen, dass die sozialen Gefangenen keine Vergewaltiger akzeptierten, nicht in den Höfen und nicht in den Anstalten, und dass diese verabscheuungswĂŒrdigen Wesen nicht zu unserer Welt gehörten. Ein Vergewaltiger genoss unter Gefangenen ĂŒberhaupt kein Ansehen und lebte in stĂ€ndiger Angst, entdeckt zu werden, weshalb Vergewaltiger sich gewöhnlich in anderen Abteilungen befanden, getrennt von den ĂŒbrigen Gefangenen und von der Verwaltung beschĂŒtzt. Oder sie arbeiteten als Ordonnanz in der KĂŒche oder anderen Verantwortung bedeutenden Posten. Von der Masse im GefĂ€ngnis verachtet, sahen sie sich dazu gezwungen, Spitzel und ausfĂŒhrende Hand der Schließer zu werden, ihrer einzigen Freunde dort. Es war ein schwerer Fehler gewesen, diesen Vergewaltiger mit den anderen Gefangenen den Hof teilen zu lassen, wie auch der Moment ein Fehler gewesen war, ihn umzubringen. Denn selbstverstĂ€ndlich verstand das die Öffentlichkeit nicht: Es erschien zynisch und scheinheilig Menschenrechte einzufordern, hatte man gerade einen Mord verĂŒbt. Wie solch ein MissverhĂ€ltnis erklĂ€ren? Man wĂŒrde es nicht verstehen. Das GefĂ€ngnis und die schreckliche Gewalt, die seine Mauern bei den dort eingesperrten Menschen erzeugten, waren unbekannt. Trotz dieses Todesfalls gingen die Verhandlungen weiter. Die Verwaltung lenkte ein, nach achtundzwanzig Stunden Geiselnahme, und veröffentlichte die Forderungen im Tausch gegen die Freilassung der Geiseln, um deren Unversehrtheit man zu fĂŒrchten begann. Radio Nacional brachte mehrfach das von den Geiselnehmern diktierte KommuniquĂ©, und diese ließen die Geiseln frei, als sie sicher waren, dass alle Forderungen wie ausgehandelt ĂŒber den Äther geschickt worden waren. Dann stellten sie sich. Sie hatten ihr Ziel erreicht.

Diese Aktion gab den Medien viel zu Schreiben her, besonders den sensationalistischen. Die Lettern APRE(r) kamen nun hĂ€ufig auf den Meldungs- oder Meinungsseiten vor, und die Organisation bekam Gewicht. Sie war von vielen Sondergefangenen sehr gut aufgenommen worden. Immer mehr MissbrĂ€uche der Vollzugsbeamten wurden vor Gericht gebracht, was die Generaldirektion offensichtlich beunruhigte. Als Reaktion schickte die Generaldirektion einen Rundbrief an alle Anstalten mit dem strikten Befehl, in die mĂŒndliche und schriftliche Kommunikation derjenigen Gefangenen einzugreifen, die fĂŒr verantwortliche oder aktive Mitglieder von APRE(r) gehalten wurden. Das war illegal, doch sie konnten es tun, denn sie zĂ€hlten auf die unterstĂŒtzende Billigung der meisten Strafvollzugskammern. Es wurden auch Maßnahmen ergriffen, um gewisse HĂ€ftlinge, die nach EinschĂ€tzung der Direktion grĂ¶ĂŸeren Einfluss auf die gefangene Bevölkerung oder in anderer Weise mit der Arbeit von APRE(r) zu tun hatten, weit weg zu verlegen. Wieder einmal setzte die Generaldirektion mit Überwachung und Repression ihre eigenen destruktiven Vorstellungen durch, statt einmal zuzuhören und zu versuchen, die UnregelmĂ€ĂŸigkeiten im GefĂ€ngnisbetrieb anzugehen, statt die angezeigten MissbrĂ€uche aufzuklĂ€ren, die AIDS-Kranken freizulassen, bessere medizinische Versorgung zu ermöglichen, bessere ErnĂ€hrung, kurzum statt die geltende Strafvollzugsordnung einfach umzusetzen.

Juan Redondo und ich bekamen Vertrauen zueinander. Ich erzĂ€hlte ihm von meinem Ausbruchsprojekt. Er informierte mich ĂŒber eine andere Chance, die es auf dem Schiff gab:

»Auf dem Schiff gibt es eine gute Möglichkeit abzuhauen, hast du das nicht mitbekommen?«

»Nein«, antwortete ich, »es sei denn, wir ĂŒberwĂ€ltigen sie, wenn wir aus den Zellen herauskommen…«

»Mehr oder weniger genau das. Ich weiß, wie die TĂŒr aufgeht.«

»Wie denn?«

»Wenn es so weit ist, sag ich es dir«, war seine Antwort. Er behielt sich diese Information vor, um sicherzugehen, dass ich sie nicht auf eigene Rechnung ausnutzen können wĂŒrde, falls ich frĂŒher als er auf die Reise ging. »Wir können eine Verlegung provozieren und es gemeinsam versuchen. Dein Plan ist gut, aber auf einer Insel nehme ich an, dass wir keine großen Chancen haben es zu schaffen, wĂ€hrend wir uns von CĂĄdiz aus leicht auf dem Festland verlieren können. Was sagst du dazu?«

»Wie schaffen wir es, dass sie uns zusammen verlegen?« fragte ich, fasziniert von der Idee.

»Wir organisieren eine Geiselnahme und machen so nebenbei auf alles hier aufmerksam. Nach einer Geiselnahme kommt immer eine Verlegung.«

»Gib mir ein bisschen Zeit, damit ich darĂŒber nachdenken kann, OK?«

»Gut, wenn du einverstanden bist, sagst du es mir, und falls nicht, mach ich es eben allein. Ich wĂŒrde verschiedene Forderungen stellen, um unsere Genossen zu unterstĂŒtzen.«

»Ich sag dir Bescheid.«

Ich dachte die ganze Nacht darĂŒber nach. Es war eindeutig, dass wir auf dem Festland mehr Möglichkeiten hĂ€tten als auf dieser Insel. Und ich war eindeutig gegen die Verwaltung und ihre Methoden. Der Kampf der anderen Gefangenen war mir nicht gleichgĂŒltig. Deshalb entschied ich, es sei wirklich ein passender Moment, um von der Theorie zur Tat zu schreiten. So konnten wir die anderen unterstĂŒtzen und uns selber weiterbringen. Schlimmer als das, was dabei alles passieren konnte, war es, stĂ€ndig in eine Zelle gesperrt zu bleiben. Also sagte ich am nĂ€chsten Tag zu meinem

neuen Genossen:

»Juan, ich werde dir bei der Geiselnahme helfen, doch nur bis die Forderungen im Radio gebracht werden. Wenn wir es erst einmal geschafft haben, den Problemen in den GefÀngnissen Gehör zu verschaffen, lassen wir es gut sein und konzentrieren uns dann darauf, von dem Schiff abzuhauen«, ich machte eine Pause und fuhr dann fort: »Ich will, dass das Thema AIDS in den Forderungen vorkommt, obwohl du bestimmt schon daran gedacht hast, oder?«

»Einverstanden. Ich schreib dir die Forderungen auf und du prĂŒfst, ob du mit ihnen einverstanden bist. Jetzt mĂŒssen wir erst einmal einen Termin beim Vollzugsrichter bekommen und ihm eine Falle stellen.«

»Du hast mehr Erfahrung als ich bei so etwas. Wir gehen am besten so vor, wie du es fĂŒr richtig hĂ€ltst. Wenn mir etwas auffĂ€llt, sage ich es dir. Was die Messer angeht: Ich habe zwei StĂŒck im Trakt versteckt.«

Wir stimmten schnell ĂŒberein. Abgesehen von unserer Absicht auszubrechen teilten wir die Verachtung der GefĂ€ngnisbehörde. Jetzt fehlte nur noch, dass Juan ein GesprĂ€ch mit dem Richter erhielt, und zu handeln. Der Richter wĂŒrde die passende Geisel sein, denn er war der Hauptverantwortliche fĂŒr die Schweinereien, die in dieser Anstalt stattfanden, war es doch seine Aufgabe darĂŒber zu wachen, dass die Rechte der Gefangenen respektiert wurden.

Sie ließen mich wieder alleine auf den Hof gehen. Man hatte strikte Anweisung gegeben, Juan und mich auf keinen Fall außerhalb unserer Zellen zusammentreffen zu lassen. Sie hatten Angst, dass genau das geschehen wĂŒrde, was schon nicht mehr aufzuhalten war. Ich schickte einer Freundin einen Umschlag mit meinen wertvollsten Familienfotos und zerriss den Rest. Dasselbe machte ich mit allen Briefen, sie landeten im Papierkorb. Juan bereitete seinerseits die Liste der Forderungen vor und ließ sie mir zukommen. Sie bestand aus dreizehn Punkten, unter denen die folgenden hervortraten:

– Sofortige Freilassung aller unheilbar kranken Gefangenen.

– GrĂŒndliche Untersuchung des physischen und mentalen Zustands der Sondergefangenen Javier Ávila Navas, Laudelino Iglesias, Luis Rivas DĂĄvila, Antonio Losa LĂłpez und Vicente SĂĄnchez Montañés, deren momentaner Aufenthaltsort unbekannt ist, und die vermutlich fortwĂ€hrend gefoltert werden.

– Bekanntmachung der Absicht der Behörde, eine Todesschwadron im GefĂ€ngnis zu schaffen, deren Auf gabe es sein soll, politische Gefangene zu ermorden, im Tausch gegen Vorteile im Vollzug. Das ist einer Reihe sozialer Gefangener in AlcalĂĄ-Meco vorgeschlagen worden.

– Ende der Misshandlungen von Gefangenen in allen spanischen GefĂ€ngnissen und Ende der Schikane gegen Familienangehörige und Freunde.

– Verlegung derjenigen Gefangenen, die es beantragen, in Anstalten in der NĂ€he ihres Herkunftsorts, um Fa milienbesuche zu erleichtern und der Entwurzelung entgegenzuwirken, die die schlechte Strafvollzugspolitik in Sachen Verlegungen zur Zeit bewirkt. Dieser Punkt geht in erster Linie HIV-Positive an.

– Bereitstellung von Zentren mit minimalen Sicherheitsauflagen und offenem Vollzug fĂŒr alle HIV-positiven Gefangenen, in denen die notwendige medizinische Betreuung stattfinden kann und in denen den Gefangenen ein Arbeitsplatz geschaffen wird, wie es die spanische Verfassung fĂŒr alle BĂŒrger vorsieht. Das ist Aufgabe des Staats.

Ich ließ Redondo wissen, dass ich mit allen aufgefĂŒhrten Punkten einverstanden war. In der Tat bestĂ€rkten mich die Forderungen in dem Willen, diese Aktion durchzufĂŒhren. Absolut niemand konnte den legitimen Gehalt dieser Forderungen abstreiten. Unsere juristische Beistandslosigkeit zwang uns, sie unter Anwendung von Gewalt vorzutragen. Konnten wir diese Forderungen ĂŒberhaupt mittels Dialog und auf dem Dienstweg voranbringen, mithilfe der Justiz, deren Aufgabe es war, die Beschwerden der BĂŒrger zu behandeln? Unsere Beschwerde war die von Leuten, die nichts hatten, gegen die gerichtet, die alles hatten. Hatten wir auch nur irgendeine reelle Chance, hiermit Recht zu bekommen? Wie wollten sie uns ein Gehalt auszahlen, uns mit Wohnung oder Arbeit ausstatten, wenn sie nicht einmal in der Lage waren, dies den ehrbaren BĂŒrgern zu garantieren? Wer wĂŒrde einem HIV-positiven ehemaligen StrĂ€fling Menschlichkeit, Arbeit und GlaubwĂŒrdigkeit anbieten? Wer, und wenn, wie viele wĂŒrden das tun? Gesellschaftlich betrachtet bereits tot, der Rechte beraubt, die wir sowieso nie wirklich genossen hatten, gab es fĂŒr viele von uns gar keinen Platz mehr in der Außenwelt. So unheilbar krank, ohne Arbeit, ohne Geld, ohne Wohnung – wohin gehen? Was tun? Die Bestrafung durch die Gesellschaft wĂŒrde uns bis auf ewig verfolgen, der Schatten der GefĂ€ngnishaft uns wohin auch immer begleiten, unmöglich zu vergessen, und dann wĂŒrden wir wie heute keinen Ausweg finden. Keine Chance, wir saßen in der Falle.

Im Trakt gab es Schwierigkeiten. Gegen Mittag erschien eine Gruppe Schließer und stieß einen minderjĂ€hrigen Gefangenen an HĂ€nden und FĂŒĂŸen gefesselt vor sich her. Sie warfen ihn eine Zelle. Ich genoss gerade meine Kaffeestunde und unterhielt mich durch eine TĂŒr hindurch mit Juan. Ich unterbrach das GesprĂ€ch, um einen der Schließer zu dem Warum dieser miesen Behandlung zu befragen:

»Hören Sie, was ist los, dass Sie meinen Genossen so behandeln?«

»Nichts, was euch etwas anginge.«

»Es geht mich etwas an, weil es mir wichtig ist. Sie können mit dem Jungen nicht so umgehen, gefesselt an HĂ€nden und FĂŒĂŸen. Nehmen Sie ihm wenigstens die Handschellen ab…«, so versuchte ich es.

»Bis der Dienstleiter es nicht anordnet, nein.«

»Rufen Sie wenigstens den Arzt, damit er sich die Wunden ansieht.«

»Der Arzt weiß Bescheid.«

Als die Schließer den Trakt verlassen hatten, ging ich zu der Zelle, in die sie den Gefangenen gesteckt hatten, öffnete das Guckfenster und sprach mit ihm. Er lag flach auf dem Boden, das Gesicht entzĂŒndet von den SchlĂ€gen, HĂ€nde und FĂŒĂŸe blau unter dem Druck der Fesseln, die in seine Gelenke einschnitten.

»Bleib ruhig, gleich kommt der Arzt«, sagte ich zu ihm. »Haben sie dir wehgetan?«

»Ja.«

»Was ist passiert?«

»Ich habe im Essensraum einen Schließer geschlagen…«

»Ich rede gleich mit dem Arzt, damit man dir die Fesseln abnimmt, OK?«

»OK.«

Als der Arzt in den Trakt kam, in Begleitung des Dienstleiters, ging ich auf ihn zu und sprach ihn an: »Hören Sie, der Junge hat geschwollene HĂ€nde und FĂŒĂŸe, Sie mĂŒssen ihm die Fesseln abnehmen.«

»Ich gehe jetzt zu ihm, Tarrío«, antwortete er mir.

»Was machen Sie hier?« mischte sich der Dienstleiter ein.

»Ich habe gerade Hofgang und nutze mein Recht auf Besuch der Cafeteria.«

»Nun gut, gehen Sie wieder auf den Hof und gehen Sie spazieren.«

»Nicht bis Sie meinem Genossen die Fesseln abgenommen haben.«

»Beruhige dich, Mann, ich gehe ja schon rein und sehe ihn mir an«, redete der Arzt auf mich ein und versuchte vergeblich, mich zu besĂ€nftigen. »Geh nach draußen, ich komme gleich hinterher und rede mit dir, einverstanden?«

»Ich will hoffen, dass Sie anordnen, ihm die Fesseln abzunehmen, denn falls nicht, zwingen Sie mich dazu, hier einen Aufstand zu machen.«

»Sie haben einen Aktenvermerk wegen Drohungen…« sagte einer der Schließer zu mir, der die Diskussion mitgehört hatte. Er bewegte sich auf uns zu.

Ich ging aus dem Trakt, ohne zu antworten. Letzten Endes wurde aus der Sache nichts GrĂ¶ĂŸeres, denn der Dienstleiter genehmigte dem Arzt, die Fesseln abzunehmen. Er kam, um mir das mitzuteilen, wofĂŒr ich ihm ehrlich dankbar war. Nach der Stunde Hofgang ging ich wieder bis zur Zelle, in der der Gefangene saß, öffnete das Guckfenster in der TĂŒr und ließ ein paar Streichhölzer und einige Zigaretten hineinfallen. Dann ging ich in meine Zelle. Bevor er mich einschloss, teilte mir der Schließer mit, dass diese Geschichte mich eine neuerliche Disziplinarstrafe kosten wĂŒrde. Armer Idiot.

Am 26. Juli erschienen der Vollzugsrichter und ein Staatsanwalt in der Anstalt, um Juan und andere Gefangene zu befragen. Gegen zwölf Uhr mittags schickten sie nach ihm, und er wurde von mehreren Schließern bis in die Zentrale gebracht. Das GesprĂ€ch dauerte fast eine ganze Stunde und drehte sich die ganze Zeit um die Lage im GefĂ€ngnis. Als es zu Ende war, brachten sie ihn zurĂŒck in den Trakt und begegneten mir. Meine TĂŒr stand offen und ich war gerade dabei, Essensreste in einen MĂŒllsack zu werfen. Als Juan an mir vorbeikam, sagte er: »Sie sind hier. KĂŒmmer du dich um den hier…«

Ich ging sofort in meine Zelle und holte das Messer aus seinem Versteck. Ich steckte es ein und ging sofort wieder hinaus und auf den Schließer in der Wachstube zu, wĂ€hrend Juan gerade mit einem Erzieher redete, den er aufgehalten hatte. So schaffte er es, vor seiner eigenen ZellentĂŒr stehenzubleiben.

»Hören Sie«, sagte ich, »ich muss auf den Hof hinaus und ein paar Zeitschriften holen, die man mir heute morgen dort hingelegt hat.«

»Ich werde sie holen und gebe sie Ihnen dann.«

»Komm schon, Mann, mach nur einen Moment auf und ich hole sie.«

Das wollte er nicht, stand aber auf, ging auf den Hof und suchte die Zeitschriften, die es nicht gab. Er musste die TĂŒr aufmachen, damit wir alle festnehmen konnten, ohne dass einer Alarm schlagen konnte. Dieser Schließer war zu misstrauisch. Wir mussten aber auf jeden Fall zur Tat ĂŒbergehen und erst einmal den Schließer und den Erzieher, selbst ehemaliger Schließer, festnehmen, in der Hoffnung, genug Zeit zu haben, um bis in die Zentrale zu kommen, bevor sie mitbekamen, was los war. Daran dachte ich, als mich der Schließer im Trakt ansprach: »TarrĂ­o, ich muss hinter Ihnen abschließen.«

»Einen Moment, ich warte auf ein paar Zeitschriften, haben Sie SchlĂŒssel? Sie sind nĂ€mlich auf dem Hof und Ihr Kollege scheint sie nicht zu finden…«

»Ich kann die TĂŒr nicht aufmachen, TarrĂ­o.«

Dann erschien der andere Schließer: »TarrĂ­o, ich habe nichts gefunden.«

»Lassen Sie mich hinaus, sie sind ganz sicher dort.«

»Na gut, aber mein Kollege soll dir aufmachen«, antwortete er und ging in seine Stube.

Als der Schließer, der sich auf unserer Seite befand, den SchlĂŒssel ins Schloss steckte und ihn herumdrehte, ergriff ich ihn am Hemdkragen und warnte ihn: »Mach keinen Scheiß und geh vorwĂ€rts!« Dann wandte ich mich an Juan: »Los, los, hier ist offen…«

Mit einem Stoß beförderte er den Erzieher in seine Zelle. Zu ihm steckten wir den Schließer. Wir schlossen die TĂŒr hinter ihnen, legten den Riegel vor und rannten auf den Hof, mit einem Stuhl und einem Tisch aus dem Aufenthaltsraum. In der Wachstube versuchte der andere Schließer mit einem Walky-Talky die Zentrale zu unterrichten, wir mussten also schnell sein. Wir stellten den Tisch in den Hof an die Mauer und den Stuhl oben drauf.

Juan stieg auf den Stuhl und hĂ€ngte sich mit den HĂ€nden an den Dachvorsprung. Sofort kletterte ich an ihm hoch und zog ihn dann von oben an den Armen hinterher. Wir sprangen auf die andere Seite und rannten durch die GĂ€rten auf das Zentrum zu. Wir liefen die Treppe der Krankenstation hinunter und auf die TĂŒr zu, die in die Zentrale fĂŒhrte und noch immer offen stand. Wir begegneten einem Schließer, der eine SprĂŒhdose in der Hand hatte, von der ich ihn mit dem Messer drohend befreite. Juan nahm die Handschellen an sich, die dem Schließer gerade aus der Tasche gefallen waren und rannte hinter mir her. Ich durchquerte die TĂŒr und lief schnell die Treppe hinauf, doch ich kam nicht rechtzeitig. Als sie mich kommen sahen, schlossen sie die TĂŒr und ließen davor eine vor Schreck heulende Sozialarbeiterin stehen, die ich als Geisel nahm. Durch die gepanzerten Scheiben der Zentrale sahen mich Schließer, Erzieher, der Richter und der Direktor mit den UmstĂ€nden entsprechenden Gesichtern an. Ich verlor keine Zeit und lief die Treppe wieder hinunter, um meinen Genossen Juan zu suchen. Ich fand ihn im Untergeschoss, wo die Telefonzentrale lag, mit zwei Schließern auf dem Boden liegend, zu seinen FĂŒĂŸen.

»Sie haben die TĂŒr vor mir zugeschlagen, aber ich habe die hier«, informierte ich ihn.

»Gut, lass mich ihr die Handschellen anlegen«, sagte er und ging hinaus.

Als er durch die GittertĂŒr gegangen war, stand einer der Schließer auf und versuchte sie zu schließen. Er ĂŒberraschte damit Juan, der ihm den RĂŒcken zuwandte. Obwohl ich es schaffte, mich auf ihn zu werfen und ihn zu Boden zu ringen, konnte ich nicht verhindern, dass die TĂŒr unter ihrem Eigengewicht ins Schloss fiel. Ich war zusammen mit zwei Schließern in der Telefonzentrale eingeschlossen. Die TĂŒr ließ sich nur von draußen öffnen, und die beiden hatten keine SchlĂŒssel.

»Was jetzt?« fragte ich Juan unschlĂŒssig durch die Fensterscheibe.

»Geht sie nicht auf?«

»Kannst du vergessen! Und die SchlĂŒssel sind anscheinend oben in der Zentrale.«

»Ich gehe hoch, mal sehen, was sich machen lĂ€sst. Bleib in der Zwischenzeit ruhig und pass’ auf die beiden auf, OK?«

»Alles klar. Pass du auf dich auf.«

»Keine Sorge.«

Er legte der Sozialarbeiterin auf dem RĂŒcken Handschellen an und veschwand treppaufwĂ€rts. Ich setzte die beiden Schließer auf StĂŒhle und band sie daran fest. Ich war ziemlich nervös. Hier mit zwei Geiseln eingeschlossen zu bleiben, war im Plan nicht vorgesehen. Ich bewegte alle SchrĂ€nke, die in der Telefonzentrale standen, zur TĂŒr, um mich hinter ihnen verschanzen zu können, falls sie versuchten, hereinzukommen. Es gab auch einen Fernsehapparat, den ich anschaltete, um aus den Nachrichten mitzubekommen, was draußen los war. Ich musste abwarten.

Verschiedene Telefonapparate klingelten. Von ĂŒberall her rief man mich an.

»Wer ist da?«

»Bist du Tarrío oder bist du Redondo?« fragte mich eine Stimme.

»Tarrío, was willst du und wer bist du?«

»Ich bin Offizier der Guardia Civil und möchte mit einem von euch reden.«

»Rede«, lud ich ihn ein.

»Tut den Geiseln nichts und wir greifen nicht ein, einverstanden?«

»Wir werden schon sehen, was passiert. Halte deine Leute bloß fern von uns, denn da kannst du sicher sein: Wenn sich hier im Umkreis von fĂŒnf Metern eine Uniform der Guardia Civil blicken lĂ€sst, schicken wir euch eine Portion Hackfleisch, alles klar?«

»Niemand wird sich euch nÀhern, da hast du mein Wort drauf, aber bleibt ruhig und tut niemandem etwas.«

Ich antwortete nicht und legte den Telefonhörer auf. Das wĂŒrde sich gut auf die psychologische Studie, die sie von mir machten, auswirken. Sie wĂŒrden nachdenken und einsehen, dass im Moment wir am DrĂŒcker waren und nicht sie. Gleich darauf bekam ich einen Anruf von Juan: »Bist du es, JosĂ©?«

»Ja, ich bins. Wo bist du?«

»Hier oben mit noch fĂŒnf Geiseln, in der Cafeteria. Wir haben alles: Wasser, Essen, Kaffee… Wir können so lange wir wollen hier aushalten. Jetzt geht es darum, dich da rauszuholen.«

»Gut. Was kann ich tun?«

»Warte bis jemand herunterkommt und dir aufschließt, und telefoniere nicht, falls ich dich noch einmal anrufen muss. Pass auf, dass sie dir keine Falle stellen, wenn du rausgehst…«

»Bis gleich also« antwortete ich und legte auf. Dann sagte ich an die Schließer gewandt: »Damit ihr es wisst, wir gehen gleich. Dass euch bloß nichts Dummes einfĂ€llt, ich bring euch um!«

In diesem Augenblick begannen heftige SchlĂ€ge im Stockwerk ĂŒber mir. Ich wurde nervös und hielt die Geiseln mit dem Messer in der Hand fest. Ich wusste nicht, dass diese SchlĂ€ge von Juan stammten, der einen Hammer in der Hand hatte und auf die gepanzerten Glasscheiben in den TĂŒren des Zentrums einschlug. Ein Telefon klingelte. Ich nahm ab. Es war der Direktor.

»TarrĂ­o, sagen Sie ihrem Freund, er soll damit aufhören, die Glasscheiben kaputtzuschlagen, wir bringen Ihnen jetzt sofort die SchlĂŒssel, damit Sie da rauskommen.«

»Nur die Ärzte sollen runterkommen. Niemand sonst, verstehst du mich?«

»In Ordnung, aber tun Sie niemandem etwas.«

Als die SchlĂ€ge nachließen, rief ich Juan an: »Juan, sie kommen und bringen mir die SchlĂŒssel, du kannst aufhören.«

»Weiß ich. Ich musste einiges kaputt machen, um sie zu ĂŒberzeugen. Wenn du hoch kommst, klopf an die TĂŒr und pass gut auf. Trau diesen Schweinen nicht, JosĂ©.«

»OK.«

Ich band die Schließer zusammen. Sie wĂŒrden mir als Abwehr dienen, um sicher die Treppe hinaufzukommen. Ich schob die SchrĂ€nke zur Seite und wartete auf die Ankunft der Ärzte. Sie brauchten nicht lange. Ich redete mit ihnen durch die Fensterscheibe: »Habt ihr die SchlĂŒssel mit?«

»Ja.«

»Los, macht auf, aber keine Tricks. Und wenn jemand versteckt im Treppenhaus auf mich wartet, geht er besser jetzt, sonst haben die beiden hier verspielt. Ich bin zu allem entschlossen, ich warne euch.«

»Es ist niemand da, TarrĂ­o, nur wir. Wir werden aufschließen, aber wir erwarten, dass du uns in Ruhe lĂ€sst und uns nicht festhĂ€ltst.«

»Alles klar, macht auf.«

Sie schlossen auf und traten zurĂŒck. Ich ging aus dem Telefonzimmer mit den Schließern als Schutzschild vor mir her, das Messer dicht am Hals eines der beiden. Ich ging die Treppe ohne Probleme hinauf, unter den gespannten Blicken aller, die das Manöver verfolgten, von der anderen Seite der Glasscheiben her, die Juan zerschlagen hatte. Einer der Ärzte bat mich um einen Gefallen, bevor wir oben ankamen:

»TarrĂ­o, da oben ist ein blondes MĂ€dchen, die, die du als erste festgenommen hast. Sie ist die Freundin eines Kollegen von uns. Wir haben uns dir gegenĂŒber gut benommen und bitten dich, sie freizulassen…«

»Einverstanden, aber nur sie.«

»Danke.«

Ich ging die Stufen bis nach oben hinauf, klopfte an die CafeteriatĂŒr und rief Juan: »Juan, mach auf.«

»Kommst du allein?« fragte er mich misstrauisch.

»Mit wem dachtest du, dass ich komme? Ich bringe die beiden Schließer mit.«

Die TĂŒr ging auf und ich ging mit den beiden Geiseln hinein. Wir schlossen sie ab und schoben schnell einen KĂŒhlschrank als Blockade davor. Wir hatten insgesamt siebzehn Geiseln. Sie alle saßen in der Reihe auf dem Boden, mit Stricken um die Handgelenke. Die Cafeteria war ziemlich groß. Es gab eine KĂŒche, einen Tresen, mehrere Tische und StĂŒhle und ein Klo. Vom Fenster aus konnte ich die Krankenstation sehen, sie lag genau gegenĂŒber. Mein Genosse ĂŒberreichte mir ein großes KĂŒchenmesser.

»Nimm, das ist besser«, sagte er grinsend.

»Hast du schon mit ihnen gesprochen?« fragte ich ihn.

»Ja, ich habe dem Direktor schon alles was wir wollen vorgelesen, jetzt fehlt nur noch, dass es im Radio gebracht wird.«

»Hör mal, Juan«, unterbrach ich ihn, »ich will die Blonde freilassen, die wir am Anfang festgenommen haben. Sie ist die Freundin eines der Ärzte, und die beiden waren fair zu mir. Ich habe es ihnen versprochen.«

»JosĂ©, das hier ist kein Spiel, weißt du das?« antwortete er mir sichtlich genervt. »Lass uns in die KĂŒche gehen.«

In der KĂŒche ging die Unterhaltung weiter:

»Wir können gleich zu Anfang keine Leute rauslassen, das könnten sie fehlinterpretieren.«

»Wir haben genug Geiseln und anscheinend sind sogar Leute von draußen dabei, wir können es uns also erlauben.«

»Ist gut, aber lass uns ein bisschen warten.«

»Einverstanden.«

Ich ging aus der KĂŒche und sah mir die Geiseln an. Unter ihnen waren die Psychiaterin, zwei Erzieher, drei Schließer, ein paar Sozialarbeiter und zwei achtzehnjĂ€hrige Jungen, einer Kellner und der andere Sportlehrer. Es war sehr unwahrscheinlich, dass sie uns mit so vielen Geiseln stĂŒrmen wĂŒrden. Teneriffa war eine Insel, und in KĂŒrze wĂŒrden wir ihre Familienangehörigen vor dem GefĂ€ngnistor stehen haben. Die Behörden wĂŒrden zögern einzugreifen. Es war eigenartig, doch jetzt, da ich die Bestie in mir hervorgekehrt hatte, mahnten alle zu Vernunft und Menschlichkeit. Jetzt, da wir Gewalt anwendeten, wollten alle Dialog. Man ließ uns im GefĂ€ngnis sterben ohne eine andere Zuwendung als KnĂŒppel und Isolation, man brachte uns auf demokratische Art und Weise geradewegs um. Und nun bat man um MitgefĂŒhl, wo doch sonst in ihrem festgefĂŒgten kranken Stolz kein Platz fĂŒr so etwas war. Welche Mitmenschlichkeit verdiente jemand, der bar elementarster GefĂŒhle in seinem Herzen nur Platz hatte fĂŒr ein SchlĂŒsselbund, in dessen Klimpern noch der letzte Schmerzensschrei eines Gefolterten nachklang? Die hier hatten verdient, dass wir sie nackt auszogen, fesselten und sie ordentlich verprĂŒgelten, damit sie selber einmal die FrĂŒchte ihrer ehrenhaften Arbeit als Henker der Gesellschaft schmeckten. Doch das wĂŒrde uns auf ihr Niveau sinken lassen. Zwischen ihnen und uns gab es große Unterschiede. Es war zu leicht, sich an einem gefesselten Nackten auszulassen, wenn man die Macht dazu hatte. Schwieriger und edler war es, das nicht zu machen. Nein, wir wĂŒrden ihnen nichts tun, es sei denn, die Polizei versuchte den Sturmangriff, und das wussten sie. Dann, wenn jemand mit Macht ausgestattet ist, zeigt er, wie er wirklich ist. So benimmt sich dann ein Rohling eben wie ein Rohling, ein Dummkopf eben dumm. Noble GemĂŒter auf ihre Weise und der Sadist unausweichlich auf die seine. Es zeigte sich nichts als die Natur der Leute. Nun, da es so weit war, beschrĂ€nkten wir uns also darauf, unsere Absicht zu verfolgen, ohne auf Abwege zu geraten, ohne Rache.

Eine Stunde spĂ€ter ließen wir das blonde MĂ€dchen laufen, womit ich mein Wort hielt und den Ärzten fĂŒr ihre Fairness danken konnte. Auch lockerten wir den anderen nacheinander ihre Fesseln, damit sie aufs Klo gehen konnten, wenn sie mussten. Ich ĂŒbernahm es, sie zu bewachen, wĂ€hrend Juan sich um die Verhandlungen kĂŒmmerte, die stecken geblieben waren. Man wollte die Liste der Forderungen wegen ihrer Wirkung nicht öffentlich machen. Also verlangten wir die Vermittlung der damaligen Abgeordneten von Izquierda Unida Cristina Almeida, die sich ĂŒber das Radio an uns wandte. Sie bat uns um die Freilassung der Geiseln und die ZurĂŒcknahme unserer Forderungen und sprach dann von Demokratie und Vernunft. Es war eine EnttĂ€uschung. Sie wĂŒrde uns nicht helfen, allerdings nicht, weil sie nicht wusste, dass wir ein gehöriges StĂŒck der Vernunft fĂŒr uns beanspruchen konnten, die sie in ihrem Radiobeitrag vorgebracht hatte, sondern weil es sie vielleicht ein paar WĂ€hlerstimmen kosten konnte, uns öffentlich auch nur etwas LegitimitĂ€t anzuerkennen. Wie falsch diese politische Dickfelligkeit sein konnte, war unverschĂ€mt. Deshalb machten wir mit der Geiselnahme weiter und erhielten unsere Forderung aufrecht. Wir ließen Decken kommen, mit denen wir die Fenster zuhĂ€ngten, damit sie uns nicht beobachten oder ins Visier nehmen konnten. Es vergingen die Stunden, und die Spannung stieg. Es war Nervensache. Wir wussten, dass wir schließlich aufgeben mussten, doch nicht bevor wir nicht unsere Forderungen an die Öffentlichkeit gebracht hatten, und ĂŒber den Äther in die anderen GefĂ€ngnisse, wo die Genossen das Ihrige tun wĂŒrden.

Als die Nacht hereinbrach, setzten wir die Geiseln um und wechselten uns mit der Bewachung ab. Wir ließen sie alle ungefesselt, bis auf den Schließer, der dafĂŒr verantwortlich gewesen war, dass ich im Telefonzimmer eingesperrt blieb. Er trug Handschellen. Er bat mich darum, sie ihm abzunehmen.

»Tarrío, könnt ihr mir nicht die Handschellen abnehmen?«

»Ich hab keinen SchlĂŒssel.«

»Sie sind an dem Bund, den du mir vorhin abgenommen hast.«

»Ich hab keinen SchlĂŒssel, du Idiot, merk dir das.«

Wir saßen im hinteren Bereich der Cafeteria auf StĂŒhlen. In der Stille war die ganze Spannung zu spĂŒren, und in den Gesichtern der Geiseln die Angst. Eine Erzieherin und eine Sozialarbeiterin weinten unaufhörlich und umarmten sich gegenseitig, und einer der Jungen machte sie nach. Mehrere Radioapparate waren angeschaltet und auf verschiedene Frequenzen gestellt, so dass uns stĂ€ndig Nachrichten von draußen erreichten. Die ganze Insel befand sich in Aufregung. SicherheitskrĂ€fte umringten das GefĂ€ngnis und warteten auf Befehle und den Fortgang der Geschehnisse. Man hatte sich immer noch nicht dazu entschlossen, unsere Forderungen zu veröffentlichen. Es sah danach aus, dass es die ganze Nacht so weitergehen wĂŒrde.

In der Bar fanden wir Wein und Bier, aber wir tranken zu zweit nicht mehr als zwei Dosen. Ich trank mehrere Tassen Kaffee, um nicht schlÀfrig zu werden. Eine der Sozialarbeiterinnen bat mich um etwas Kaffee.

»Darf ich auch Kaffee trinken?«

»Na klar, wer verbietet es dir denn?« antwortete ich. »Du kannst Kaffee fĂŒr alle machen, außer fĂŒr die Schließer. Da steht die Maschine.«

Sie brĂŒhte ein paar Tassen Kaffee auf und verteilte sie unter ihren Kollegen. Ich holte eine der Torten aus der Vitrine und mehrere TĂŒten ErdnĂŒsse. Das war mein Abendessen.

»Werdet ihr uns loslassen?« fragte mich eine Sozialarbeiterin beim Essen.

»Wenn im Radio kommt, was wir fordern, ja.«

»Was fordert ihr denn?«

»Verbesserungen.«

»Und denkst du nicht, dies ist eine schlechte Art und Weise das zu fordern?«

»WĂŒrdet ihr auf uns hören, forderten wir es auf andere Weise?« fragte ich sie.

»Weiß ich nicht… aber ihr könntet es doch versuchen, oder?«

»Es wĂŒrde nichts dabei herauskommen.«

»Weißt du, dass du da gerade meine Geburtstagstorte isst?«

»Mach keinen Quatsch!«

»Wir haben gerade meinen Geburtstag gefeiert, als dein Freund kam…«

»Willst du ein StĂŒck?« lud ich sie ein.

»Nein, jetzt nicht.«

»Da verpasst du was, denn sie schmeckt sehr gut. Sag deiner Kollegin«, fĂŒgte ich hinzu und zeigte auf die weinende Sozialarbeiterin, »sie kann sich beruhigen, alles wird gut ausgehen.«

Gegen zwei Uhr morgens klingelte das Telefon. Es war der Direktor, der uns mitteilte, dass Antoni AsunciĂłn im Fernsehen ĂŒber das Thema GefĂ€ngnis sprechen wĂŒrde.

»Wollt ihr euren Chef sehen, im Fernsehen?« fragte Juan die Geiseln.

»Ja«, antwortete einer von ihnen.

Wir stellten den Apparat so hin, dass alle etwas sehen konnten und drehten die LautstĂ€rke hoch. Nach ein paar Minuten erschien das Bild eines redenden Generaldirektors des GefĂ€ngniswesens. Er bat um die Gefasstheit und die ProfessionalitĂ€t der Beamten im Strafvollzug. Seiner Politikerrede fehlte jede SensibilitĂ€t fĂŒr die schwierige Situation, in der sich seine Untergebenen befanden. Wir mussten lachen, als unsere Geiseln begannen, ihn wĂŒst zu beschimpfen. Der höchste Amtsinhaber der Behörde trug nichts Sinnvolles zur Lage bei, weshalb wir uns dazu entschlossen, in diesem Moment eine der Geiseln freizulassen, da sie von dieser Rede peinlich berĂŒhrt waren. Juan rief mich zu sich: »Hör zu: Wir werden einen von ihnen mit einem Zettel rauslassen, den er dann selbststĂ€ndig zum Radiosender bringt, als Gegenleistung fĂŒr seine Freilassung.«

»Einverstanden. An wen denkst du?«

»An den Erzieher mit kommunistischem Parteibuch. Ich rede gleich mal mit ihm.«

»OK.«

Kurz darauf ließen wir eine der Geiseln frei mit einem Papier, das unser KommuniquĂ© fĂŒr die Presse enthielt, verfasst in mehreren Punkten. Juan hatte mit ihm ausgemacht, dass er auf eigene Faust hinging, ohne sich mit dem Direktor abzusprechen, zum Besten der anderen Geiseln. Nur eine Stunde spĂ€ter hörten wir ihn ĂŒber das Radio. Er bestĂ€tigte, dass es allen gut ging und dass wir ihn korrekt behandelt hatten. Er verlas einen Teil des KommuniquĂ©s, aber nicht alles. Er beging so Verrat an seinen Kollegen, die immer noch in unserer Gewalt waren, um seinen eigenen miserablen Arbeitsplatz zu retten. Im schlimmsten anzunehmenden Fall wĂŒrden wir wenigstens die HĂ€lfte unserer Forderungen zu Gehör gebracht haben. FĂŒr den Moment war das ein Schritt in die richtige Richtung. Gegen sechs Uhr morgens kamen wir mit dem GefĂ€ngnisdirektor zu einem Abkommen. Wir wĂŒrden die Geiseln freilassen im Tausch gegen zwei MetallsĂ€gen und die Publikmachung der fehlenden Punkte. Wir hĂ€ngten zwei SchnĂŒre aus dem Fenster und holten die SĂ€gen zu uns hinauf. Dann warteten wir ab, bis die Forderungen im Radio liefen. Es vergingen nur ein paar Minuten, und Juan kam, um mir Bescheid zu sagen, dass alle Punkte genannt worden waren.

»Sie haben alle Punkte im Radio verlesen«, teilte er mir mit.

»Dann verhandeln wir das Ende, oder?«

»Wir können noch weitermachen…« antwortete er. Er wollte noch nicht aufgeben.

»Wir haben alles gemacht, was wir abgesprochen hatten, und wir haben die Verlegung und unseren Fluchtplan vor uns. Hiermit noch lÀnger weiterzumachen, hat keinen Sinn.«

»Na gut, aber ohne Eile, ich traue denen nicht.«

Wir riefen den Direktor wieder an und verlangten die Anwesenheit des Dienst habenden Richters, des Bischofs von Teneriffa und von Mitgliedern des Roten Kreuzes als Bedingung fĂŒr die Beendigung der Geiselnahme. Wir ließen drei Geiseln sofort frei, zum Zeichen, dass wir unseren Teil einhalten wĂŒrden. Gegen sieben erschienen die Dienst habende Richterin und die Leute vom Roten Kreuz in der Anstalt. Nicht so der Bischof. Das teilten sie uns ĂŒber Telefon mit, und nachdem wir es ĂŒberprĂŒft hatten, ließen wir nacheinander die Geiseln frei. Als Letzte gingen wir nach unten und benutzten dabei zwei Geiseln als menschliche Schutzschilde. In Gegenwart der Richterin und der Rotkreuz-Mitglieder gaben wir die

Messer ab und stellten uns. Es war zu Ende.

Eine große Gruppe Schließer brachte uns in die amerikanischen Zellen der Aufnahmeabteilung. Nach dem Ausziehen und der Durchsuchung legten sie uns Handschellen an und ließen uns in getrennten Zellen allein. Ich setzte mich auf den Fußboden und sah dabei zu, wie die Leuchtstoffröhre an der Decke die Zelle erhellte. Unsere Hoffnungen ruhten auf einer gemeinsamen Verlegung. Diese Frage verzweifelte mich. Und wenn sie uns trennten? Ich vertraute darauf, dass sie es nicht tun wĂŒrden. DarĂŒber grĂŒbelte ich nach, als Rufe an mein Ohr drangen:

»Hoch leben die Beamten! Tod den Geiselnehmern!«

Ich rief Juan:

»Was ist los?«

»Hörst du diese Rufe?«

»Ja, das sind die Gefangenen in der Aufnahme. Du weißt schon, besonders GeschĂŒtzte und Ordonnanzen.

»Wie ekelhaft!«

Juan hatte Recht. Es waren die Gefangenen, die besonderen Schutz genossen, und die Ordonnanzen, die sich Applaus und Belohnung von denjenigen einbringen wollten, die sie hier im GefĂ€ngnis befehligten und kontrollierten. Es war deren Art, ihre absolute Treue den Schließern gegenĂŒber zu zeigen, den einzigen, die sie hier schĂ€tzten.

Nur Feiglinge konnten ohne WĂŒrde leben, ohne Ehre, und sich auf diese Weise unterwerfen, im Tausch gegen vorteilhaftere Bedingungen. Leider waren die GefĂ€ngnisse voll von Individuen wie diesen.

Mittags wurden wir einzeln von einer Gruppe Schließer in den Isolationstrakt gebracht. Sie gaben uns Kleidung und BettwĂ€sche und teilten uns mit, dass Befehle aus Madrid vorlagen, denen zufolge sie uns keinesfalls auf den Hof lassen durften. Wir mussten vierundzwanzig Stunden am Tag in den Zellen bleiben, und falls wir doch einmal die Zelle verlassen mussten, nur mit Handschellen auf dem RĂŒcken. Da so die Dinge standen, trat ich in Hungerstreik und schnitt mir Pulsadern auf, um meinen Verfall zu beschleunigen. Ein Arzt kam, um mich in der Zelle zuzunĂ€hen, eskortiert von den Schließern.

»TarrĂ­o, wie fĂŒhlst du dich?«

»Angeekelt von so viel Zelle.«

»Du fĂŒgst dir mehr Schaden zu als du denkst, wenn du dich weigerst zu essen und dich verletzt«, erklĂ€rte er mir, wĂ€hrend er mir die Adern zunĂ€hte. »Was du hast, ist wahrlich kein Scherz, TarrĂ­o, und jede schwerere Infektion oder Mangelerscheinung lĂ€sst dich binnen Monaten den Löffel abgeben.«

»Wenn Ihnen so viel an meiner Gesundheit liegt, lassen Sie mich auf den Hof.«

»Das geht nicht, aber ich will versuchen, dass man dich eine Weile in den Aufenthaltsraum lĂ€sst, obwohl ich fĂŒrchte, dass du dort Handschellen tragen musst.«

»Versuchen Sie es. Ich ertrage es nicht, den ganzen Tag hier eingesperrt zu sein.«

»Wir werden tun, was wir können, aber schneide dich nicht noch einmal. Ich werde dir auch Medikamente schicken, damit du ruhiger bist, einverstanden? Es wird dir gut tun, sie einige Tage lang zu nehmen, wÀhrend sich eure Situation klÀrt.«

Die Ärzte schafften es, dass man mich eine Stunde am Tag in den Aufenthaltsraum ließ, auf dem RĂŒcken gefesselt, doch sie erreichten nicht das gleiche fĂŒr meinen Freund Juan, weshalb ich schließlich nicht mehr hinaus wollte. Entweder kamen wir beide raus oder keiner von beiden. Den Hungerstreik legte ich allerdings nieder. Ich musste Kraft gewinnen, um bei der Verlegung in Form zu sein.

Eine Woche nach unserer Aktion fĂŒhrten auf dem Festland Juan JosĂ© Garfia RodrĂ­guez, der vor kurzem in Granada verhaftet worden war, Pablo AndrĂ©s JimĂ©nez und Salvador Estarlich einen weiteren Aufstand durch, um unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen und die Lage im GefĂ€ngnis Badajoz bekanntzumachen. Eigentlich war eine Geiselnahme geplant gewesen, doch ein Fehler von Estarlich ließ diese scheitern, als ihm die Geiseln davonliefen. Mit einem SchlĂŒsselbund öffnete er Juanjo und AndrĂ©s und den anderen Gefangenen im Isolationstrakt, darunter El Boca, ein bekannter Vergewaltiger, und die BrĂŒder Izquierdo, die am Massaker von Puerto Hurraco beteiligt gewesen waren. Letztere wurden alle als Geiseln genommen. In der NĂ€he des GefĂ€ngnisses fand zeitgleich eine Demonstration statt. Deshalb dauerte es nicht lange, bis zwanzig als Eingreiftruppe abgerichtete Guardias Civiles, die die Demonstration begleitet hatten, in die Anstalt eindrangen und sich mit ihrem gesamten GerĂ€t vor dem Isolationstrakt aufbauten. Die Gefangenen drohten, die Geiseln umzubringen falls sie eingriffen, doch niemand kĂŒmmerte das Leben des Vergewaltigers oder das der beiden betagten Mörder. Also begann die Guardia Civil ihren Einsatz. Sie kamen in den Trakt herein und ĂŒberwĂ€ltigten nach einer enormen SchlĂ€gerei die Gefangenen ohne Konsequenzen fĂŒr deren Geiseln. Das war Pfuscharbeit gewesen, aber sie hatten es wenigstens versucht, was nur sehr wenige Leute im GefĂ€ngnis fĂŒr sich beanspruchen konnten. Einige Gefangene warfen ihnen vor, dass sie El Boca nicht umgebracht hatten, doch Jahre spĂ€ter stellte sich heraus, dass dieser Gefangene nicht schuldig an der Vergewaltigung gewesen war, wegen der man ihn verurteilt hatte. Sie hatten also richtig gehandelt, gerecht.

Ich erhielt Besuch von zwei Inspektoren der Generaldirektion aus Madrid. Man brachte mich in Handschellen vor sie. Sie saßen im BĂŒro des Direktors, hinter dem Schreibtisch. Ich nahm Platz.

»Also gut, TarrĂ­o, was ist passiert?« fragte mich der AnfĂŒhrer der beiden.

»Es ist passiert, dass ich die Nase voll davon habe, eingesperrt zu sein und davon, dass Sie mit mir machen was Ihnen passt. Ich bin seit Jahren im GefĂ€ngnis und war eigentlich fĂŒr zwei Jahre hierhin gekommen. Das ist passiert: Ihr macht mir mein Leben kaputt.«

»Das haben Sie selbst zu verschulden, oder nicht?«

»Nein. Seit ich in La Coruña ins GefĂ€ngnis gekommen bin, wurde ich in besondere Zellen gesperrt, ohne Grund, angeblich wegen zurĂŒckliegender Vorkommnisse. Ich trage daran nicht die Schuld, und auch nicht daran, dass man auf mich Artikel 10 anwendet und mich isoliert, und ich dann plötzlich wieder in den Normalvollzug komme. In Zamora wurde ich dann wieder in den ersten Grad eingestuft…«

»Das werden wir anhand Ihrer Akte prĂŒfen mĂŒssen, ich glaube aber nicht, dass es so war«, fĂŒgte der Kollege hinzu.

»Wenn Sie es sagen, haben Sie sicher Recht, und ich lĂŒge«, warf ich zynisch ein.

»Wo hattet ihr die Messer her?« wollte der andere wissen.

»Sag ich Ihnen nicht.«

»Gut, ich habe Ihnen aber sehr wohl etwas zu sagen. Wenn wir in Madrid noch einmal davon hören, dass sie so etwas oder etwas Ähnliches machen, gebe ich Ihnen mein Wort darauf, dass wir Sie in ein Loch stecken, und dass Sie dort nie wieder herauskommen, verstehen Sie mich?«

»Ich verstehe Sie genau…«

»Wer hatte die Idee zu der Geiselnahme?«

»Wir beide.«

»Sie wollen mir nicht sagen, woher Sie die Messer hatten?«

»Nein.«

»Dann ist das alles.«

Im Isolationstrakt begann der Einbau verstĂ€rkter Sicherheitsmaßnahmen. Eisengatter kamen vor die eigentlichen ZellentĂŒren, und der Hof, ĂŒber den wir entkommen waren, erhielt von oben ein gekreuztes Gitter. Sie bauten einen Bunker. Wir wussten nicht, dass das nur ein Vorgeschmack fĂŒr das war, was die Generaldirektion des Strafvollzugs seit Monaten ausbrĂŒtete, unter dem Regiment Antoni AsunciĂłns und seines Statthalters, Gerardo MĂ­nguez. Wir bekamen Zugriff auf zwei veraltete Tageszeitungen, in denen von der Geiselnahme die Rede war. Eine schrieb, dass wir beide wegen mehrerer Morde und Vergewaltigungen im Knast saßen, worĂŒber wir uns sehr entrĂŒsteten. Wir verstanden, dass das ein Teil der Desinformationskampagne der Behörde an die Medien war, um uns vor der Gesellschaft in Verruf zu bringen und uns wie Mörder und Vergewaltiger aussehen zu lassen. Eine der unzĂ€hligen Gemeinheiten, die sie anwandten. Juan schlug vor, die Zeitung zu verklagen, doch wir sahen schließlich davon ab. Was machte es aus, was andere dachten? Das Einzige, das im Moment wichtig war: So bald wie möglich zusammen verlegt zu werden.

Am 11. Juli explodierte Puerto de Santa MarĂ­a. Ernesto PĂ©rez Barrot, Antonio Losa LĂłpez und Manuel Cabello MartĂ­nez hielten die Schließer in Trakt eins in Schach und verschanzten sich mit ihnen im Economato. Im Namen von APRE(r) forderten sie von den Vertretern der Generaldirektion, die nach CĂĄdiz gefahren waren, verbesserte Haftbedingungen. Sie ĂŒbergaben eine Liste an Forderungen, die in allen Medien publik gemacht werden sollte. Julio Romero Amador, ein Gefangener aus JaĂ©n, der wĂ€hrend der Geiselnahme frei herumlief, nutzte die Gelegenheit, um eine offene Rechnung mit einem anderen Gefangenen zu begleichen. Das Opfer war Miguel Anguita, den er, nachdem er ihm die ZellentĂŒr geöffnet hatte, niederstach und köpfte. Dieser Sadismus machte alle Verhandlungen zunichte, spĂ€testens als Julio Romero mit dem Kopf seines Feindes in der Hand auf den Überwachungsbildschirmen zu sehen war. Ein gigantischer Fehler, der jeden Versuch weiter zu verhandeln unmöglich machte.

Mit dem Scheitern der Verhandlungen und nach vierundzwanzig Stunden Geiselnahme ließen die Gefangenen es gut sein, ließen ihre Geiseln frei und stellten sich. Obwohl Julio Romero auf eigene Rechnung gehandelt und nichts mit APRE(r) zu tun hatte, schrieb man diesen Mord der Organisation zu, um sie zu diskreditieren. Und so kam es, dass nach der Enthauptung dieses Gefangenen begonnen wurde, die Sonderhaftbedingungen FIES anzuwenden – mit vorbehaltloser Zustimmung der Strafvollzugsgerichtsbarkeit. Die Behörde benutzte einen Mitschnitt der Überwachungsbilder aus Puerto, auf dem Julio Romero zu erkennen war, wie er den Kopf seines Feindes hoch hob, um die Richter von der Notwendigkeit zu ĂŒberzeugen, fĂŒr alle Gefangenen, die mit APRE(r) zu tun hatten, Sondermaßnahmen zu ergreifen. Das waren Maßnahmen, die zur schwersten Menschenrechtsverletzung und Beugung der Demokratie seit Amtsantritt der PSOE-Regierung werden sollten. Ein von allen drei Gewalten gemeinsam geschmiedetes Komplott: von Judikative, Exekutive und Legislative.

Im Isolationstrakt von Teneriffa lief alles wie gehabt weiter. Wir wussten es nicht, doch wir sollten die ersten sein, auf die FIES angewandt wurde. Man bereitete unsere Verlegung in die Anstalten Badajoz und Valladolid vor.

In manchen langweiligen NĂ€chten unterhielt sich Juan damit, die Schließer zu Ă€rgern, die aus ihrer gepanzerten Wachstube heraus den Trakt ĂŒberblickten.

»Gebt auf!« rief er ihnen unter der ZellentĂŒr hindurch zu. »Lasst die Handschellen und die KnĂŒppel fallen! Ihr seid umstellt!«

Ich mischte mich dann ein und half ihm: »Lass den KnĂŒppel los und HĂ€nde hoch, du Wicht!«

Dann mussten wir laut lachen. Diese humorvollen Momente halfen uns sehr dabei, die Isolation zu ertragen, ohne Hofgang. Seit zwanzig Tagen waren wir nicht aus diesen Kerkern herausgekommen, deren metallene Gruftplatten nur geöffnet wurden, um uns unser Essen auszuhĂ€ndigen, und das immer in Gegenwart einer grĂ¶ĂŸeren Gruppe mit KnĂŒppeln und Eisenstangen bewaffneter Schließer. In dieser Lage waren unsere konstant rebellische Haltung und die Gesellschaft, die wir uns so gegenseitig zuteil werden ließen, waren Humor und aufmunternde Worte alles, was wir hatten. Dies und zwei EisensĂ€gen, und die Hoffnung, bald aus dieser hĂ€sslichen und verrĂŒckten Unterwelt ausbrechen zu können.

Wenn wir dies zu nutzen wussten, war das mehr als genug, denn es gab nichts MĂ€chtigeres und StĂ€rkeres als den Mut, den einem der Versuch gibt, die entzogene Freiheit wiederzuerreichen. Eine Freiheit, von der wir in gewissem Sinne schon jetzt etwas hatten, denn wir rebellierten ja gegen die Sklaverei und den systematischen Gehorsam, wir dachten und handelten fĂŒr uns selbst und nicht nach irgendwelchen vorgegebenen Benimmregeln, Normen oder Doktrinen, mit denen wir nicht einverstanden waren. Und das war es auch, was uns von anderen Gefangenen unterschied. Wir waren draußen keine systemfeindlichen Outlaws gewesen, um hier im GefĂ€ngnis Vorschriften zu akzeptieren, die man uns aufzwang. Ein Mensch sollte man bewaffnet wie unbewaffnet bleiben, in Freiheit wie in Gefangenschaft. Im GefĂ€ngnis gab es viele MĂ€nner und Frauen, die mutig einen Raub oder einen Überfall durchgefĂŒhrt hatten, die aber nicht in der Lage waren, angesichts eines einfachen Strafvollzugsbeamten wĂŒrdevoll und aufrecht zu bleiben. Diese Tatsache ließ uns tĂ€glich verbale Auseinandersetzungen mit Gefangenen fĂŒhren, die zu einem miserablen Lohn als Maurer arbeiteten oder damit beauftragt wurden, unseren Hof zu vergittern und Gatter vor die ZellentĂŒren zu schweißen. Gefangene, die andere Gefangene lebendig begruben, um selbst VergĂŒnstigungen zu erhalten und so bald wie möglich auch die Freiheit, auch wenn es die Freiheit anderer verminderte.

Hör auf das Leiden der Menschen, du Monster!

Unmenschliche, eiskalte, mechanische Bestie.

Grausames Instrument in Menschenhand gegen den Menschen.

Furcht ist die zĂ€hflĂŒssige Nachgeburt

siechtumsschwangerer grauer Morgen.

In der Dunkelheit deiner Eingeweide

schaffst du Schmerz und ewige Einsamkeit.

Das Blut gefriert. Keine Liebe, keine Gegenwart.

Nur Schweineaugen mustern dich hier drinnen:

Ja, ich bin noch da!

Du spuckst Gebeine schwacher Toter

in Reih’ und Glied aus ihrem glĂ€sernen Grab.

Wie konnten sie es wagen, sich in deinen Eingeweiden breit zu

machen?

Dummheit, Schwachsinn, Unvernunft.

Zum tödlichen Abgrund, zum kollektiven sentimentalen Suizid

lÀdst du tÀglich ein,

du lauerst im Dunkeln dem Weinenden und Leidenden auf.

Essenz des Bösen,

Reste von TrÀumen an Blutrot,

als die Menschen das Wort der Gnade vergaßen,

entfernt auch alle Liebe aus euren Herzen!

Bestie!

Die Kinder, die du austrÀgst, sind bereit zur Geburt,

zerschlagen die Ketten ihrer Haft und Ängstlichkeit.

Rennt, StrÀflinge, rennt!

Dass euch die ZuhÀlter eurer Mutter nicht einholen:

Sie wollen eure Seele knechten und euch versklaven.

Am 23. August hatte ich kaum zu Mittag gegessen, als ein Trupp Schließer in der Zelle erschien: »TarrĂ­o, packen Sie Ihre Sachen, sie werden verlegt.«

Ich gab Juan ĂŒber die Neuigkeit Bescheid und packte meine Sachen in zwei TĂŒten, die man mir ĂŒbergeben hatte.

Ich war ĂŒberglĂŒcklich, dort herauszukommen, wir waren ja seit einem Monat ununterbrochen eingeschlossen. Definitiv war jetzt der Moment zum Handeln gekommen, um die zweite Phase unserer Aktion zu beginnen: Die Flucht. Sie brachten mich in Handschellen in die Aufnahmeabteilung und steckten mich in eine der amerikanischen Zellen. Ich schritt die Zelle auf und ab und genoss gerade eine Zigarette, als sie meinen Freund Juan brachten. Sie brachten ihn in Handschellen und steckten ihn in die Zelle nebenan. Wir begrĂŒĂŸten uns mit einer Geste, redeten aber nicht. Ich schickte ihm aber ĂŒber einen der Schließer die HĂ€lfte meines Geldes. Das mir zustehende sogenannte Hausgeld war mir gerade erst ausbezahlt worden.

UngefĂ€hr eine Stunde spĂ€ter kam ein Paar Guardias Civiles, um uns abzuholen. Ein dritter wartete in dem Transporter, in dem sie uns zum Hafen fahren wĂŒrden. Der GruppenfĂŒhrer, ein Gefreiter, schien ein arroganter eingebildeter Macker zu sein und uns beeindrucken zu wollen. Ich hielt ihn fĂŒr einen Angeber. Das wĂŒrde uns nĂŒtzen, denn WĂ€chter dieser Art unterschĂ€tzten einen Gefangenen am ehesten. Schon allein das Tragen einer Waffe und einer grĂŒnen Uniform gab ihnen dieses Selbstbewusstsein. Nachdem sie uns die FingerabdrĂŒcke abgenommen hatten, mit denen unsere Übergabe an die Guardia Civil beurkundet wurde, legte man uns neue Handschellen an, brachte uns nacheinander zum Transporter und ließ uns einsteigen. Zwei andere Gefangene saßen schon im Wagen und wĂŒrden uns auf der Überfahrt begleiten. Wir stellten uns vor. Einer war Kolumbianer, der andere EnglĂ€nder. Sie fuhren nach Carabanchel, um von dort in ihre HerkunftslĂ€nder abgeschoben zu werden. Nachdem der Papierkram erledigt war, fuhren wir in Richtung Hafen und unterhielten uns dabei angeregt. Wir hielten vor einer riesigen FĂ€hre, der J.J. Sister. Der Transporter stand an einer MetallbrĂŒcke, die in die Garage des FĂ€hrschiffs fĂŒhrte und von mit Maschinenpistolen bewaffneten Guardias Civiles bewacht war. Sie gewĂ€hrten unserem Transport Vorrang in der Warteschlange und wiesen ihn in die große Garage ein. Dann brachten sie uns einzeln in die Arrestzellen hinunter, neben den Maschinenraum, unter die Wasserlinie. Wir alle vier kamen in dieselbe Zelle. Es gab zwei Pritschen und zwei StĂŒhle. Die Zelle nebenan war von zwei Gefangenen belegt, die aus Puerto de Santa MarĂ­a kamen und nach Salto del Negro fuhren, in das GefĂ€ngnis auf Gran Canaria.

Juan kannte die beiden und redete mit ihnen durch ein Loch in der Holzwand zwischen den beiden ZellenverschlĂ€gen. Ich sah mir inzwischen die Zelle an und begutachtete die StĂŒhle, die man hingestellt hatte, damit wir uns setzen konnten, bis wir die anderen zwei in Las Palmas absetzten und zwei von uns in die freigewordene Zelle wechselten. Die Beine beider StĂŒhle wurden von verschweißten MetallstĂŒcken zusammengehalten. Ich ging aufs Klo und holte die SĂ€ge aus ihrem Versteck. Dann drehte ich einen der StĂŒhle um und begann zwei dieser MetallstĂŒcke anzusĂ€gen. Sie wĂŒrden meinem Genossen und mir als Messer dienen. Ich bat Juan, solange ich an den Stuhlbeinen sĂ€gte, die Kabine der Guardias im Auge zu behalten. Sie lag genau gegenĂŒber, zwei Meter entfernt. Als eins fertig war, machte Juan mit dem anderen weiter und ich passte auf. Als wir so weit waren, versteckten wir beide in einer Matratze. Sie wĂŒrden gute Messer abgeben. Wir wĂŒrden sie brauchen. Juan nahm mich zur Seite und wir gingen aufs Klo, um ungestört zu reden.

»José«, sagte er, »ich traue diesen beiden Typen nicht, die mit uns fahren, wir sollten sie nicht aus den Augen lassen.«

»Mach dir keine Sorgen, was sollen sie machen? Sie mĂŒssen die ganze Überfahrt mit uns verbringen, und ich denke nicht, dass sie gefĂ€hrlich sind…«

»Lass uns auf jeden Fall auf die beiden aufpassen. Sie gefallen mir nicht…«.

Misstrauen war typisch fĂŒr Juan und viele andere Gefangene, denn es gab FĂ€lle von Verrat an Mitgefangenen, um selbst Vorteile zu bekommen. Die Behörde belohnte dergleichen NiedertrĂ€chtigkeit fĂŒrstlich, denn das verlieh ihr Augen und Ohren ĂŒberall, besonders dort, wo ihr SchĂ€ferhundsblick und ihre Ohren sonst nicht hinkamen. Es war dieselbe Methode, die die Polizei draußen mit StraffĂ€lligen anwendete. Sie ließen zu, dass Dealer straflos weitermachten und gaben ihnen Hilfestellungen in ihrem GeschĂ€ft, wenn jene sie ĂŒber ihre Kundschaft und das Geld, das diese ausgab, auf dem Laufenden hielten. Stimmte ein Betrag mit der Beute aus einem Raub ĂŒberein, wussten sie gleich, wer es war. Keine Institution und auch nicht der Strafvollzug funktionierte ohne ein Netz aus Spitzeln. Verrat wurde großzĂŒgig belohnt. Wollten sie etwas ĂŒber einen bestimmten Gefangenen herausfinden oder ihn einfach aus der NĂ€he beobachten, brauchten sie nur einen VerrĂ€ter zu gewinnen, der ihn im scheinbar freundschaftlichen GesprĂ€ch zum Reden brachte. Oder sie legten die beiden zusammen in eine Zelle. Es war traurig aber wahr und latent immer gegenwĂ€rtig, auch wenn nur eine Minderheit bei so etwas mitmachte. Das schuf ein Klima des Misstrauens. Wir wollten darauf achten, dass unsere Begleiter uns nichts anmerkten.

Wir liefen aus und setzten Kurs auf Las Palmas de Gran Canaria. Dort kam eine Gruppe Guardias Civiles zu uns herunter und holte die beiden Gefangenen aus der Nachbarzelle ab. Wir verabschiedeten uns herzlich von ihnen. Dann lichteten wir wieder Anker und fuhren in Richtung CĂĄdiz. Als wir schon auf hoher See waren, legten sie uns Handschellen an, mit den Handgelenken durch den Schlitz in der TĂŒr gesteckt, durch welches auch das Essen kam. HĂ©ctor Chivita und ich kamen in die Zelle nebenan. Sie nahmen uns auf die gleiche Weise die Handschellen wieder ab. Juan blieb mit William Humphreys in der anderen Zelle. Die Guardias nahmen die StĂŒhle mit, ohne zu merken, dass zwei MetallstĂŒcke fehlten, was uns erleichterte. Ich wĂ€re lieber mit meinem Freund Juan gereist, auf diese Weise konnten wir aber die Gefangenen im Auge behalten, die uns begleiteten, und das war auch wichtig. Es konnte alles Mögliche passieren.

Juan gab mir die MetallstĂŒcke durch das Loch zwischen den beiden Zellen. Ich versteckte sie in der Matratze meiner Pritsche. Diese Zelle war genauso wie die andere, der einzige Unterschied war hier eine Treppe aus hohlen Metallstreben, die auf das obere Bett fĂŒhrte. Die Toiletten beider Zellen waren gleich geschnitten und hatten Bullaugenfenster auf den Flur hinaus. Wir konnten uns sowohl hier als auch in den Bullaugen der ZellentĂŒren von Zelle zu Zelle sehen. Die Scheiben in den Bullaugen waren aus dickem Plexiglas. Der enge Flur verband die beiden Zellen mit der Kabine der Wache, in der sich nur noch die zwei Guardias Civiles aufhielten. Über das Bullauge konnten wir feststellen, dass die ZellentĂŒren mit dicken Eisenriegeln abgeschlossen waren, die quer ĂŒber die ganze TĂŒr liefen und in einem Scharnier saßen. Der Riegel lief durch eine eiserne Öse im TĂŒrrahmen, in deren Mitte ihn ein VorhĂ€ngeschloss in seiner Stellung festhielt – wie man es im Mittelalter machte. Eine einfache aber effektive Art, und bis jetzt war auch noch niemand aus diesen Zellen ausgebrochen. Außer den Pritschen gab es noch zwei Ventilatoren an der Decke. Dieser winzige Raum, zwei Meter breit, einen Meter lang, wĂŒrde zwei Tage lang unser Universum sein. Wir konnten uns kaum bewegen, wenn also einer aufstand, legte sich der andere hin.

Nach einer Weile holten sie uns einen nach dem anderen heraus, damit wir aus unseren TĂŒten die Toilettenartikel holen konnten, die wir brauchten. Als ich an der Reihe war, legten sie mir Handschellen an und öffneten die Zelle. Zwei WĂ€chter brachten mich zu der Kabine, in der unsere Habe zurĂŒckgehalten wurde, wir durften sie nĂ€mlich nicht mit uns nehmen. Ich bĂŒckte mich und suchte Seife, Zahnpasta und eine ZahnbĂŒrste. Der Gefreite nutzte die Gelegenheit, um mich zu provozieren:

»Eh, hör zu, ich wĂŒnsche eine ruhige Fahrt, verstanden?«

Erstaunt drehte ich mich kurz um und musterte ihn. Ich verstand nicht, warum er sich so aufspielte. Also gab ich ihm als Antwort nur ein LĂ€cheln.

»Guck mich nicht so an, ich bin schon mit Schlimmeren als dir umgegangen…«, er ließ nicht locker.

Dann verstand ich ihn. Er provozierte mich, um sich vor seinem Kollegen aufzufĂŒhren, der seinem Alter nach zu urteilen neu war in der Truppe. Er war ein Angeber, ein großer und starker allerdings, bewaffnet mit einer Neun-Millimeter, weshalb ich nicht auf seine Provokationen einging. Als ich meine Sachen gefunden hatte, schlossen sie mich wieder in die Zelle.

Etwas spĂ€ter kam das Essen. Die WĂ€chter reichten es uns auf Plastiktabletts durch die Schlitze in den TĂŒren. Als der Gefreite sich bĂŒckte, um ein Tablett vom Fußboden aufzuheben und es mir zu geben, konnte ich an seiner rechten HĂŒfte den Griff einer Pistole im Hosenbund stecken sehen. Auf dem Schiff mussten sie Zivilkleidung tragen, das sah das Bordreglement so vor. Der KapitĂ€n wollte nicht, dass die Passagiere wussten, dass man Gefangene mitnahm, das könnte sie beunruhigen. Ich rief Juan:

»He, sieh mal genau hin. Schau auf den Hosenbund dieses Bullen.«

Er ging ans Fenster und sah sie.

»Hat der andere auch eine?« fragte er mich.

»Ich denke schon, ich hab sie aber nicht gesehen.«

»Also fĂŒr jeden eine…«

»Na klar«, antwortete ich vergnĂŒgt.

Nach dem Essen unterhielten wir uns durch das Loch hindurch und Juan teilte mir seinen Plan mit. Danach wollten wir zuerst versuchen, von drinnen die Schrauben abzusĂ€gen, die die Metallöse hielten, durch die die Eisenstange mit dem VorhĂ€ngeschloss lief. Die Muttern dieser Schrauben befanden sich auf der Innenseite der Zellen. Wenn wir es schafften, diese Muttern durchzusĂ€gen, wĂŒrde die Öse mit dem Schloss und der Stange und damit die ganze TĂŒr nachgeben. Anschließend bliebe nur noch, unsere WĂ€chter festzunehmen. DafĂŒr mussten wir aus den MetallstĂŒcken zwei Messer herstellen. Sobald wir im Hafen lagen, wĂŒrden wir die Flucht ergreifen. Die Idee war realistisch. Jetzt wĂŒrde es erst einmal darum gehen zu prĂŒfen, ob das Eisen so weich war, dass wir es leicht sĂ€gen konnten, denn falls nicht, wĂŒrde die Operation sehr schwer werden, die Muttern saßen nĂ€mlich an einer schwierigen Stelle ganz eng an der Wand. Problematisch war auch, dass die Muttern an den metallischen TĂŒrrahmen festgeschweißt waren. Wir vertrauten aber darauf, sie durchsĂ€gen zu können, bevor wir im Hafen von CĂĄdiz ankamen. Wir verloren keine Zeit und fingen in Ruhe an zu sĂ€gen. Der ohrenbetĂ€ubende LĂ€rm der Motoren verhinderte, dass man uns hörte. Den beiden Gefangenen, die uns begleiteten, trugen wir auf, die Kabine der Wache im Blick zu behalten, wozu sie sich ohne Weiteres bereit erklĂ€rten. Das gab uns absolute Sicherheit bei der Arbeit.

Zum Abendessen stellten wir unsere Arbeit ein. Beide hatten wir Blasen an den HĂ€nden, doch das Schlimmste war, dass wir kaum voran gekommen waren. Das war ein schlechtes Zeichen. Wir aßen ohne zu sprechen. Ich beobachtete dabei meinen ZellengefĂ€hrten, den Kolumbianer, und fand ihn auch nicht gerade vertrauenerweckend. Er war verunsichert, und das könnte gefĂ€hrlich werden. Wir beschlossen, bis zum nĂ€chsten Tag nicht mehr zu sĂ€gen, denn der MotorenlĂ€rm war nachts weniger intensiv als bei Tag. Ich nutzte allerdings die Zeit und verpasste den beiden MetallstĂŒcken Klingen. Juan legte sich hin, um sich von der Grippe zu erholen, die er seit Tagen mit sich herumschleppte und die ihn immer noch schwĂ€chte, er hatte etwas Fieber. WĂ€hrend ich also diese MetallstĂŒcke schĂ€rfte, dachte ich an die Waffe meines derzeitigen WĂ€chters. Ich hatte sie gesehen. Ich dachte daran, wie ich in ihren Besitz gelangen könnte, und ich dachte an die beiden einfachen aber tödlichen Messer, die in der Matratze versteckt lagen, und schlief darĂŒber ein.

Am nĂ€chsten Morgen nach dem FrĂŒhstĂŒck nahmen wir die Arbeit wieder auf. Wieder machten wir uns ans SĂ€gen, bis zum Mittagessen. Meine HĂ€nde sahen furchtbar aus, voll neuer Blasen, und ich hatte bisher nur eine der Muttern durchgesĂ€gt. Juan hatte aufgegeben, denn er konnte die SĂ€ge nicht mehr festhalten. Die TĂŒr lag auf der rechten Seite der Zelle, die er belegte, und er konnte nur mit der linken Hand sĂ€gen, dabei war er RechtshĂ€nder. Wir begannen zu zweifeln, denn es war nicht so leicht, wie wir zunĂ€chst gedacht hatten. Wir diskutierten das durch das Loch:

»Juan, ich glaube, das wird nicht gutgehen. Wir schaffen es nicht, die SchweißnĂ€hte dieser Muttern durchzusĂ€gen…«

»Wir können sie festnehmen, sobald sie in CĂĄdiz die TĂŒr aufmachen und mit ihnen beiden als Geiseln hinausgehen«, schlug er mir vor.

»Das ist nicht so leicht, Juan. Dort warten andere Guardias Civiles auf uns, und dann noch die Grenzposten, und sie werden uns nicht aufmachen, bevor nicht der Gefangenentransporter da ist«, ich machte eine Pause und fuhr dann fort: »Außerdem machen sie uns einem nach dem anderen auf. Und falls einer von uns es schafft, sie beide zu ĂŒberwĂ€ltigen, werden wir es aus CĂĄdiz heraus kaum schaffen. Zu viele Probleme auf einmal, Juan.«

»Wir mĂŒssen sie wie auch immer kriegen…«

Schließlich ließ ich es sein, an den verhassten Muttern zu sĂ€gen. Wir prĂŒften die Holzdecke und machten sie kaputt. Wir hofften, so in die Kabine der Guardias zu gelangen, doch als wir hinter ein Blech kamen, stießen wir auf mehrere Lagen kreuzweise verlegter schwerer Holzbretter, die uns nicht weiter vordringen ließen. Es war zum Verzweifeln. Schweißgebadet legte ich mich rĂŒcklings auf die Pritsche und zĂŒndete mir eine Zigarette an. Nach allem, was wir getan hatten, um hier hinzukommen, verdienten wir es nicht, dass diese zwei Dummköpfe uns im nĂ€chsten GefĂ€ngnis abgaben wie zwei KartoffelsĂ€cke.

Wir aßen in der Stille. Mit vollem Magen legte Juan sich hin, um seine Grippe auszukurieren, und ich unterhielt mich mit dem Kolumbianer. Er war glĂŒcklich darĂŒber, dass wir unsere Versuche eingestellt hatten und wir eine ruhige Fahrt haben wĂŒrden. Er erzĂ€hlte mir seine Geschichte. Er war nach Spanien gekommen, um Drogen zu schmuggeln, und sie hatten ihn bei der ersten Gelegenheit erwischt. Er gehörte zu einer armen kolumbianischen Familie und hatte so versucht, seiner Misere zu entkommen. Seine Geschichte Ă€hnelte der hunderter SĂŒdamerikaner im GefĂ€ngnis. Die Großen im DrogengeschĂ€ft benutzten besonders Frauen, um Stoff nach Spanien und ganz Europa zu bringen. Falls einer von ihnen verhaftet wurde, ĂŒberließen sie ihn seinem Schicksal, wĂ€hrend sie selbst ihre Luxusvillen und ihre wundervollen Autos genossen und weiter diese MĂ€nner und Frauen ausbeuteten, die in Armut lebten. Im GefĂ€ngnis gab es viele Leute, die hier niemals gelandet wĂ€ren, hĂ€tten sie einen gerechten Lohn, eine feste Arbeit und eine wĂŒrdevolle Wohnung gehabt. Doch war das Leben: War es nicht ein Drogenbaron, der einen ausbeutete, so war es ein Wirtschaftsboss, ein MilitĂ€r oder ein Politiker.

Der Nachmittag verlief ohne nennenswerte ZwischenfĂ€lle. Gegen acht servierten sie uns das Abendessen und wir aßen mit Appetit. Juan war immer noch krank und lag im Bett. Ich legte mich also auch hin und hörte Musik aus einem kleinen AbspielgerĂ€t mit Kopfhörern, das mir mein Mitreisender geliehen hatte. Wenn uns morgen nichts einfiele, wĂŒrden sie uns in der Anstalt Puerto 1 abgeben und von dort aus in die soeben eingeweihten SondergefĂ€ngnisse bringen, wo wir fĂŒr unsere Forderungen und AufstĂ€nde erst richtig bezahlen sollten. Wir mussten von dort fliehen, aber wie? Ich ĂŒberlegte hin und her, und der Schlaf ĂŒberraschte mich dabei.

An diesem 25. August 1991 frĂŒhstĂŒckten wir und ließen alle möglichen Ideen, die wir hatten, Revue passieren. Die Gedanken kreisten die ganze Zeit darum, unsere WĂ€chter hier zu Geiseln zu nehmen, oder die Schließer in Puerto 1, sobald wir dort ankamen, um neuen Forderungen Gehör zu verschaffen. Wir kamen aber zu keinem Ergebnis. Zur Essenszeit, neun Stunden vor Ankunft der J.J. Sister im Hafen von CĂĄdiz, kam uns die erste gute Idee.

»José«, rief mich Juan durch das Loch in der Wand. »Ich werde das Plexiglas des Bullauges verbrennen und versuchen, die Essensklappe aufzumachen, mal sehen, ob wir das VorhÀngeschloss aufbrechen können.«

»Und die Guardias?« fragte ich ihn.

»Ich glaube, die sind nicht da.«

Auf diese Idee hin kam mir auch eine. Darauf hatte ich gewartet.

»Hast du einen Notizblock mit Draht in der Zelle, Juan?«

»Ja.«

»Benutze den Draht dazu, in das Bullauge im Klo ein Loch zu schmelzen. Dann versuche, den langgezogenen Draht durchzustecken und damit den Riegel der Essensklappe aufzuschieben. Sonst fĂŒllt sich alles hier mit Rauch und wir hĂ€tten keine Zeit…«

»OK, los gehts.«

Wir machten uns an die AusfĂŒhrung unseres neuen improvisierten Plans. Juan bereitete den Draht gut vor, und ich hĂ€mmerte mit aller Kraft gegen die ZellentĂŒr um sicherzugehen, dass unsere WĂ€chter gerade nicht da waren. Niemand reagierte auf die SchlĂ€ge. Sie waren bestimmt nach oben gegangen, um zu essen oder entspannt etwas zu trinken, so kurz vor der Ankunft in CĂĄdiz. Was konnten ein paar Gefangene im Kerker schon ausrichten, wehrlos und unbewaffnet? Diese FehleinschĂ€tzung war alles, was wir im Moment brauchten.

Wir verbesserten die ursprĂŒngliche Idee mit dem Draht aus dem Notizblock. Mein Genosse stellte aus einer Bettfeder einen großen Haken her. Wie ich ihm vorgeschlagen hatte, brachte Juan das Ende der Bettfeder mithilfe eines Feuerzeugs zum GlĂŒhen und schmolz damit ein Loch in den dicken Kunststoff des Bullauges. Als wir soweit waren, bedeutete mir Juan mit einem Zeichen, an das Loch in der Wand zu treten, durch das wir kommunizierten.

»José«, sagte er, brich die Messer auseinander und steck sie in eins der Rohre der Leiter. Du wirst sie aufsĂ€gen mĂŒssen. So schaffst du eine starke Brechstange…«

»OK, mach ich gleich. Wirst du die Essensklappe aufmachen können?« fragte ich ihn.

»Ich glaube schon.«

»Viel GlĂŒck dabei!«

Ich folgte den Anweisungen meines Genossen und sĂ€gte eins der Aluminiumrohre der Treppe auf, die am Stockbett stand. Dann brach ich die Messer entzwei, steckte drei der vier StĂŒcke in das Rohr und stellte so eine Brechstange her. Das vierte StĂŒck, etwa zehn Zentimeter lang, wĂŒrden wir als Messer gebrauchen. Ich sah noch einmal durch das Bullauge im Klo und zeigte Juan die Brechstange mit einem breiten Grinsen. Mein Teil war gemacht, jetzt war er dran. Er steckte den Draht durch das Loch im Kunststoff des Bullauges und fĂŒhrte es geschickt zum Riegel an der Essensklappe. Nach ein paar Versuchen schaffte er es, den Riegel einzuhaken, aber ohne Erfolg, der Draht rutschte wieder ab, als er an ihm zog. Er versuchte es noch einmal, und wieder rutschte er ab. Es war zum Verzweifeln. Schweißgebadet versuchte er es noch einmal mit Geduld. Er hakte sich an dem Riegel ein, zog an dem Draht, und dieses Mal bewegte er sich und gab die Klappe frei. Ohne eine Sekunde Zeit zu verlieren, öffnete er sie, streckte seinen Arm hinaus und zog den Riegel an der Essensklappe meiner Zelle auf. Wir steckten die Brechstange durch den BĂŒgel des VorhĂ€ngeschlosses an der TĂŒr seiner Zelle. Er zog am einen Ende und ich am anderen, mit den Armen durch die Essensklappen. Wir brachen dieses beschissene VorhĂ€ngeschloss auf. Juan kam aus der Zelle und nahm das Messer, das ich ihm gab. Er lief zur Kabine der Guardias. Darin war niemand, also lief er wieder zurĂŒck zu mir, brach das Schloss auf und befreite mich. Wir hatten es geschafft!

Wir durchsuchten die Kabine der Guardias Civiles nach Waffen, es gab aber keine. Wir nahmen also an, dass die beiden ihre Pistolen bei sich trugen.

»Juan, die beiden sind bewaffnet. Wir mĂŒssen aufpassen.« warnte ich.

»Keine Sorge. Wir werden warten, bis sie herunterkommen und greifen sie uns dann. Du hau mit der Stange auf sie ein und pass auf, dass sie ihre Waffen nicht ziehen. Ich fessle sie.«

»Hör mal, wenn es irgendein Problem gibt, hau ohne Zögern drauf, ja? Die sind fÀhig uns umzubringen.«

»Mach dir deswegen keine Sorgen.«

Wir warteten hinter der KabinentĂŒr versteckt auf die RĂŒckkehr der Guardias. Ich hatte Angst, das wĂŒrde mir helfen. Die Angst ist ein sechster Sinn, und bringt man den etwas unter Kontrolle, entwickelt man den heftigsten Überlebensdrang und funktioniert an seinen Grenzen. Aus allen DrĂŒsen strömen Epinephrin, Norepinephrin und die Endorphine, mit dem Effekt, der gemeinhin als Adrenalinschub bekannt ist. Er vervielfacht die ĂŒbliche ReaktionsĂ€higkeit und Kraft. Ich wusste, dass es uns eine Kugel und eine gescheiterte Flucht einbringen konnte, wenn wir nicht genau aufeinander abgestimmt und effektiv handelten. Ich vertraute voll darauf, dass wir es schafften. Wir setzten auf den Überraschungseffekt als unseren Vorteil, doch noch war nichts entschieden. Es vergingen nicht einmal fĂŒnf Minuten, als wir schon Schritte auf der Treppe hörten, die zu uns herunter fĂŒhrte.

»Das sind sie, José«, warnte mich Juan flĂŒsternd.

Wir stellten uns mit Eisenstange und Messer nebeneinander hinter die TĂŒr, bereit zum Losschlagen. Es beruhigte mich, dass Juan da war, ich fĂŒhlte grenzenloses Vertrauen. Ich hatte den besten Genossen zur Seite, den man sich in dieser Lage wĂŒnschen konnte. Er war genau der Richtige fĂŒr so eine Aktion. Als sich die TĂŒr öffnete, sprangen wir auf wie Raubtiere. Sofort war der Guardia Civil, der hereingekommen war, am Boden. WĂ€hrend Juan mit dem scharfen Messer auf seinen Hals drĂŒckte, hielt ich seine HĂ€nde fest und durchsuchte ihn nach seiner Waffe. Er war unbewaffnet.

»Dieser hat keine Knarre dabei.«

»Wo ist dein Kollege?« fragte ihn mein Genosse.

»Oben in der Kabine, die wir auf dem Oberdeck haben«, antwortete der junge Guardia Civil erschrocken.

»Und die Waffen?« fragten wir ihn.

»Auch oben in der Kabine, weggeschlossen. Der KapitÀn erlaubt uns nicht, sie hier zu tragen.«

Wir fesselten ihn und richteten ihn auf. Er hatte sich in die Hosen gemacht, die waren jetzt also nass.

»Willst du die Hose wechseln?« bot ihm Juan an.

»Nein, ist egal.«

Ich setzte ihn auf einen Stuhl und band seine FĂŒĂŸe an die Stuhlbeine. Dann nahmen wir das Geld aus seiner Brieftasche und gingen zu den anderen beiden Gefangenen, die mit uns zusammen gefahren waren.

»Wollt ihr mit uns abhauen?« luden wir sie ein.

»Nein, danke. Wir kommen bald raus…« antworteten uns beide.

Der Kolumbianer war blass vor Angst. Ich bot ihnen Zigaretten an, und nachdem wir ihnen Feuer gegeben hatten, schlossen wir sie in eine der Zellen und blockierten die TĂŒr mit einem kaputten VorhĂ€ngeschloss. Dann gingen wir zurĂŒck, um auf den zweiten Guardia Civil zu warten, der seinem Kollegen zufolge noch etwas brauchen wĂŒrde, um herunterzukommen. In der Zwischenzeit redeten wir mit ihm:

»In welcher Kabine seid ihr oben?«

»In der siebenundsiebzig.«

Ich nahm seine Brieftasche in Augenschein. Er hieß Manuel JesĂșs Plasencia und leistete gerade seinen Wehrdienst bei der Guardia Civil ab. Neben dem Ausweis steckte ein Foto von einem MĂ€dchen.

»Ist das deine Freundin?«

»Ja«, antwortete er sichtlich unbequem berĂŒhrt von meinem Eindringen in sein Privatleben.

»Alles klar, hier, nimm«, sagte ich und steckte ihm die Brieftasche in die Hemdtasche.

Ich wusste genau, was er in diesem Moment fĂŒhlte.

»Gut«, warnte ihn Juan, »jetzt werden wir uns deinen Kollegen greifen. Wenn du schreist oder versuchst, ihm Bescheid zu geben, bist du ein toter Mann, hast du das verstanden?«

»Ja.«

Wir suchten in der Kabine herum und fanden unsere Gefangenenakten. Wir lasen unterhaltsame Dummheiten, die Psychologen und andere Studierte der Menschheit ĂŒber uns geschrieben hatten. So bekamen wir mit, dass Juan ein gefĂ€hrlicher Paranoider war, und dass ich meine Zeit darauf verwendete, den Richtern Briefe zu schreiben und zu versuchen auszubrechen. Wir fanden auch ein paar Briefe, die man uns nicht ausgehĂ€ndigt hatte. Als wir des Lachens mĂŒde wurden und nicht mehr weiterlasen, zerrissen wir alles und zerstörten in erster Linie alle Fotos, um keine Bilder von uns herumliegen zu lassen. Es beunruhigte uns, dass der Guardia so lange brauchte um wiederzukommen und befĂŒrchteten das Schlimmste. Ich steckte mir eine Zigarette nach der anderen an, wĂ€hrend ganze Stunden langsam verstrichen und die Spannung immer weiter anstieg, und dazu noch die Aufregung darĂŒber, was noch alles passieren wĂŒrde.

»Sie haben sicher alles mitgekriegt, José, und sie warten oben schon auf uns.«

»Bleib ruhig, Juan, und beweg dich nicht von der TĂŒr weg, er kann in jedem Augenblick auftauchen.«

Mehrere Stunden spĂ€ter kam er, gegen sechs. Er öffnete die TĂŒr, und sofort warfen wir uns auf ihn, streckten ihn mit dem Messer am Hals zu Boden. Ich durchsuchte ihn schnell, doch er war wie sein Kollege unbewaffnet. Er hatte die Waffe in der oberen Kabine gelassen und die SchlĂŒssel an der Rezeption abgegeben. Wir fesselten ihn und steckten ihn in die leere Zelle. Wir banden ihn dort am Bettgestell fest, nicht ohne ihm vorher 20.000 Peseten abzunehmen und zusammen mit den 10.000, die wir dem anderen abgenommen hatten, unter uns aufzuteilen. Dann banden wir den Kollegen an seine Seite und ließen die beiden in der Zelle zurĂŒck. Wir schlossen die TĂŒr und hĂ€ngten das VorhĂ€ngeschloss davor. Einen Moment lang sah ich mir den Gefreiten durch das Bullauge an. Er war jetzt ein gefallener Held und hatte sich unterworfen. Es war leicht fĂŒr mich, ihm jetzt eins auszuwischen, da er so erschrocken und wehrlos war. Ich hatte mir versprochen, ihm eine Abreibung zu verpassen wegen seiner Angeberei, doch das hĂ€tte mich auf sein Niveau sinken lassen, und ihn zu töten brĂ€chte uns nur Probleme bei der Fahndung. Nach dieser DemĂŒtigung wĂŒrde die Guardia Civil jeden Stein nach uns umdrehen. Und auch so wĂŒrde Santiago Rivera RodrĂ­guez sich von nun an vielleicht hĂŒten, Menschen in Ketten zu provozieren oder zu Objekten seiner Mackerspiele zu machen.

In der Kabine, die die Guardias Civiles belegt hatten, die jetzt in einer unserer Zellen saßen, wechselten wir die Kleidung, um die Fahndung zu erschweren. Ich zog mir eine blaue Polyesterhose, die Schuhe einer der Guardias und ein schwarz-weißes Hemd an. Das alles gekrönt von einer blauen MarinemĂŒtze. Ich rasierte mich vor einem Spiegel und ließ diese Aura eines Seewolfs auf mich wirken: Ich fand mich unwiderstehlich. Juan hatte sich eine Jeans angezogen, Stoffschuhe, ein grĂŒnes Hemd und eine SchirmmĂŒtze, mit der er seine kahlrasierte Glatze verstecken konnte. Gegen acht Uhr abends verstummten die starken Motoren der J.J. Sister. Wir lagen im Hafen.

Ich lieh mir ein paar KleidungsstĂŒcke zum Wechseln von einem der Guardias und packte sie in eine Tasche, dazu eine Straßenkarte. Ich hĂ€ngte mir die Tasche ĂŒber die Schulter. Wir folgten einer Gruppe Passagiere in Richtung Ausgang und gingen eine Wendeltreppe hoch bis auf Deck 4. Wir dachten an die Möglichkeit, die TĂŒr von Kabine 77 aufzubrechen und die Waffen an uns zu nehmen. Wegen des dichten Verkehrs von Passagieren ließen wir es aber sein. Unbewaffnet zu gehen wĂŒrde den SicherheitskrĂ€ften eine gewisse Ruhe verleihen, denn es war nicht dasselbe nach zwei FlĂŒchtigen zu fahnden wie nach zwei Bewaffneten. Auf Deck 4 dieses enormen FĂ€hrschiffs trennten wir beide uns und trafen uns im Warteraum unter die Passagiere gemischt wieder. Wir warteten ungeduldig darauf, dass sie den Laufsteg bis an die Luke heranfĂŒhrten, damit wir ĂŒber die BrĂŒcke zum Zoll gehen konnten.

Es waren fast zwanzig Minuten vergangen, als der Steg mit der BrĂŒcke verbunden und der Weg zum Zoll frei war. Die Tore des Warteraums öffneten sich, und vor uns lag die Freiheit. Der Eindruck war ĂŒberwĂ€ltigend. Ich blieb wie versteinert, als eine Gruppe Guardias Civiles auf der BrĂŒcke auftauchte und in eiligen Schritten an Bord kam. Ich sah unvermittelt Juan an, der ein paar Meter entfernt stand. Wir hatten keine Zeit zu reden, aber wir wussten beide, dass wenn sie unseretwegen gekommen waren, wir die Passagiere als Geiseln nehmen und einen Ausweg verhandeln mussten. Wir konnten jetzt nicht aufgeben und uns ausliefern. Als sie den Steg hinaufgekommen waren, traten sie in den Warteraum und gingen zur Rezeption. Es waren sechs und sie sprachen freundlich mit der Rezeptionistin, was uns beruhigte. Wenn die wĂŒssten! Der Lautsprecher im Saal richtete sich an uns, erst beglĂŒckwĂŒnschte man uns zur Auswahl dieser FĂ€hrlinie und gab dann das Signal zum Verlassen des Schiffes. Unter den Ersten kamen wir nach draußen. WĂ€hrend wir die BrĂŒcke ĂŒberquerten, konnten wir eine große Gruppe Guardias Civiles an der Garageneinfahrt darauf warten sehen, dass die HĂ€ngebrĂŒcke geöffnet wurde. Am anderen Ende der BrĂŒcke, die wir von der Meeresbrise gestreichelt hinabliefen, kontrollierten zwei Guardias die Passagiere und baten um die Ausweise.

»José, wenn sie uns anhalten: Ich halte einen fest und du nimmst ihm die Waffe weg.«

»Nimm den rechten…« sagte ich ihm.

Wir kamen auf die Höhe der Zollkontrolle und waren bereit loszuschlagen, doch man hielt uns nicht an. Wir gingen also weiter eine Treppe hinunter bis in eine große Halle. An einem langen Tresen durchsuchten drei Guardias Civiles alle Taschen und Koffer der Passagiere. Einer von ihnen rief mich: »Hören Sie mein Herr, lassen Sie mich bitte Ihre Tasche sehen?« forderte er mich höflich auf.

»SelbstverstÀndlich«, antwortete ich höflich, öffnete die Tasche und zeigte ihm den Inhalt, den er oberflÀchlich kontrollierte.

»Vielen Dank und gute Reise«, fĂŒgte er hinzu und machte auf die Tasche ein weißes Kreidezeichen.

»Danke.«

Ich ging schnell aus dem GebĂ€ude und suchte meinen Freund Juan. Er stand am Ă€ußeren Ende des Tresens. Er war nicht gegangen, was wohl jeder andere getan hĂ€tte, sondern er hatte auf mich gewartet, um mir helfen zu können falls ich Probleme bekam, auch wenn er so die Freiheit aufs Spiel setzte, die zu erreichen ihn elf Jahre gekostet hatte. Diese Geste zeigte seine wichtigsten CharakterzĂŒge: Sicherheit, Ernsthaftigkeit und Freundschaft. Als ich bei ihm angekommen war, gingen wir zusammen aus dem GebĂ€ude und nahmen gleich in der NĂ€he ein Taxi, das wir in den Ort Puerto de Santa MarĂ­a fahren ließen. Wir kamen dort an und bezahlten den Fahrer. Eigentlich hatten wir den Taxifahrer nach halber Strecke entfĂŒhren und ihn in den Kofferraum sperren wollen, damit ich selbst das Steuer ĂŒbernehmen konnte, direkt ĂŒber die Autobahn nach Sevilla, ohne weitere Zeit zu verlieren. Wir verloren uns im Ort und gingen in eine Cafeteria, um etwas zu uns zu nehmen. Wir kauften mehrere belegte Brote, ein paar Flaschen Wasser, Orangen und Zigaretten fĂŒr mich. Ich musste ĂŒberrascht lachen, als der Zigarettenautomat zu mir zu sprechen anfing, um mir das Wechselgeld zu geben und sich zu bedanken. Mit diesem Einkauf in der TĂŒte gingen wir aus dem Ort und durchquerten die Felder. Als es Nacht wurde, gingen wir in ein großes WaldstĂŒck und bauten als Versteck im Unterholz einen kleinen Unterstand aus Zweigen und BlĂ€ttern. Dort wĂŒrde uns niemand suchen. Jetzt waren wir endlich frei. Ich klopfte meinem Kameraden auf die Schulter und war wirklich froh.

»Wir haben sie ganz schön verarscht, was?« Ich musste lachen.

»Ja, aber wir mĂŒssen hier auch wieder herauskommen.«

»Wir kommen noch weit, du wirst sehen…«

Wir holten die Karte und etwas zu Essen heraus. WĂ€hrend wir aßen, gingen wir die Möglichkeiten durch, die uns die Landstraßen eröffneten. Wir wollten ein Auto stehlen und zusammen bis nach Sevilla fahren. Wir wĂŒrden nachts fahren, gegen fĂŒnf Uhr morgens, wenn die Polizeikontrollen wegen der MĂŒdigkeit am laschesten waren.

»Was hast du vor, Juan?« fragte ich meinen Genossen. Ich lag auf dem RĂŒcken und ruhte aus.

»Ich glaube, wir könnten in Sevilla eine Bank ausrauben, um Geld zu beschaffen und damit eine Weile untertauchen… und du?«

»Ich habe die ein oder andere Verpflichtung mit guten Freunden, die im GefĂ€ngnis sitzen. Ich will ihnen helfen abzuhauen und dann in ein lateinamerikanisches Land gehen, wo sie mich vergessen. Ich wĂŒrde die Zeit, die mir bleibt, in Frieden leben, mit dem Geld aus irgendeiner Bank… Auf jeden Fall helf ich dir, die Bank in Sevilla auszurauben, ich brauche auch Geld.«

»Wir mĂŒssen unbedingt in Kontakt bleiben, ich habe nĂ€mlich auch gute Freunde im GefĂ€ngnis, und zusammen haben wir mehr Chancen ihnen zu helfen. Nebenbei rĂ€chen wir uns fĂŒr alle Gemeinheiten, die sie uns im Knast angetan haben…

Ich war frei. Nach vier Jahren ununterbrochener Isolation, eingesperrt in kleine RĂ€ume aus Beton, fĂŒllten sich meine Lungen jubelnd mit frischer Luft. Meine Augen, gestraft vom Kalkweiß der WĂ€nde und dem tristen Grau der Mauern, genossen wieder BĂ€ume und Vögel, die umherflogen und ihr Nest suchten, um sich zur Nachtruhe zu begeben. Die Nacht erlöste uns, sĂŒĂŸer als ich je getrĂ€umt hatte, von der Hitze des Tages. Dieses Wiedersehen mit der Natur war wie die Schönheit einer Blume auf sich wirken zu lassen, vor ihr stehenzubleiben um zu betrachten, wie sie delikat Farbe und ParfĂŒm versprĂŒhte. Wie konnte man eine Person in eine kalte drei Quadratmeter große Zelle sperren und ihr jahrelang das alles vorenthalten? Was war unter dem Strich das schlimmere Verbrechen, einen Menschen mit solcher Grausamkeit zu bestrafen oder ein einfacher Raub eines Gutes, einer Sache, deren Tageswert am Markt ermittelt wird? Erst in diesem Moment verstand ich den Schmerz wirklich, den sie mir zugefĂŒgt hatten, nicht nur wegen meiner Gefangenschaft, sondern weil diese GefĂŒhle in mir abgestorben gewesen waren. Das GefĂ€ngnis war so bösartig und widerwĂ€rtig wie das schlimmste Verbrechen, das man verĂŒben konnte. Es wurde allerdings im Namen von Justiz und Gesellschaft verĂŒbt.

Zwei Tage lang blieben wir dort versteckt. Die Hitze war unertrĂ€glich und hunderte MĂŒcken stachen uns unaufhörlich. Unsere Körper waren voll von ihren Stichen. Die zweite Nacht ĂŒberredete ich Juan dazu, diesen Ort zu verlassen und ins Dorf zu gehen, um ein Auto zu stehlen. Wir gingen aus dem WaldstĂŒck und ĂŒberquerten mehrere Felder bis wir zur Bahnlinie kamen. Wir gingen an der Bahnlinie entlang weiter und kamen an ein Industriegebiet.

»Wir können nicht weitergehen, José, sie könnten uns sehen.«

»Das glaube ich nicht.«

»Lass uns bei diesen HĂ€usern nachsehen, ob wir ein Auto finden, das wir klauen können«, schlug er vor und zeigte die Straße hinunter.

»OK, alles klar«, stimmte ich zu.

Wir gingen durch ein Wassermelonenfeld und umrundeten ein zweistöckiges Haus, das an der Straße lag. Juan brach eins der Fenster auf und stieg ein. Ich wartete draußen.

Nach einer Weile kam er wieder: »Steht leer, komm rein, es gibt etwas zu essen.«

Ich stieg auch hinein. Das hier war eine Bar und ich glaubte nicht, dass sie leerstand, denn es gab alle möglichen GetrĂ€nke, Automaten und Essen. Ich fĂŒhlte mich unsicher in diesem Lokal. Es gefiel mir nicht. Juan sprang ĂŒber die Theke und ich wollte in der KĂŒche ein Messer suchen, als die Lichter im Lokal angingen und wir GerĂ€usche im oberen Stockwerk hörten. Ich hatte Angst.

»Juan, lass uns gehen, das hier gefĂ€llt mir nicht…«

»Gehen wir hoch und sehen nach, wer da ist?« schlug er vor.

»Quatsch, lass uns gehen!« rief ich und ging nach draußen.

Ich hielt das Fenster offen und half meinem Genossen herauszukommen. Wenn sie die Polizei gerufen hatten, bekĂ€men wir Probleme. Wir konnten nicht in der Bar bleiben. Wir konnten nicht sicher sein, dass sie uns nicht hereinkommen gehört und die Polizei verstĂ€ndigt hatten. Wir versteckten uns im Garten eines Einfamilienhauses und hofften, dass sie uns dort nicht suchen wĂŒrden. Wir wollten das Auto stehlen, das dort geparkt stand. Wir sahen nach, wie wir am besten in das Haus hineinkamen, die dort Wohnenden gefangen nahmen und die AutoschlĂŒssel fanden. Wir wĂŒrden uns umziehen, duschen und etwas essen. Aber alle Fenster waren vergittert. Wir öffneten das Auto mithilfe einer SĂ€ge und schlossen es von drinnen kurz. Wir schafften aber nicht, es zu starten und die Lenkradsperre auszurasten. Wir mussten es lassen. Als letzten Ausweg beschlossen wir schließlich, auf den Tagesanbruch zu warten, bis sie die HaustĂŒr öffneten, um so eindringen zu können. Es wurde Tag, und es verstrichen mehrere Stunden, ohne dass die TĂŒr sich geöffnet hĂ€tte. Dort zu bleiben war gefĂ€hrlich, also gingen wir wieder in die Felder. Wir hatten ganz offensichtlich kein GlĂŒck, das war ein schlechtes Omen. Ich hatte eine schlimme Vorahnung, weshalb ich mich entschloss, mich von Juan zu trennen, gleich hier.

»Juan, ich gehe auf eigene Faust weiter«, erklĂ€rte ich ihm. »Zu zweit ist es risikoreicher, und allein haben wir grĂ¶ĂŸere Chancen es zu schaffen und den anderen zu helfen.«

»Einverstanden. Wo sehen wir uns wieder?«

»In La Coruña. Kennst du den Park Los Cantones?«

»Ja…«

»Dort also, vor der Statue von Rosalía de Castro mit einem Adler und einer Schlange.«

»Am 1. Dezember sehen wir uns also dort, OK?«

»Bis dann, Juan, und pass gut auf dich auf.«

»Viel GlĂŒck!«

Wir verabschiedeten uns mit einem festen HĂ€ndedruck. Ich folgte der Bahn in Richtung Rota und durchquerte das Industriegebiet in die BĂŒsche geduckt auf der anderen Seite der Schienen. Es war heiß, sehr heiß, und ich fĂŒhlte mich erstickt und erschöpft. Ich war schon seit Stunden den vierzig Grad der Sonne von CĂĄdiz ausgesetzt und fast dreißig Kilometer gelaufen. Jetzt fehlten nur noch weitere zwölf bis Rota. Ich setzte mich um Luft zu holen in den Schatten eines alleinstehenden Baums, unfĂ€hig, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Es gab in der NĂ€he einen Brunnen mit schmutzigem Wasser, in dem mehrere Tierchen und ein paar Kaulquappen schwammen. Ich ging hin und benutzte mein Hemd als Filter, trank ein wenig von diesem Wasser, das mir bekam, obwohl es fĂŒrchterlich schmeckte. Dann ging ich zurĂŒck in den Schatten des Baumes und streckte mich erschöpft aus. Die Geschichte ging wieder von vorne los. Auf der Flucht zu sein war wieder die einzig denkbare Freiheit fĂŒr mich. Doch wohin fliehen? Wo blieb freies Land, wo die Gerechtigkeit uns alle zu Gleichen machte und niemand andere verfolgte und einsperrte?

Ich sah auf die weiten Felder hinaus. Ich war nicht frei, ich war nur ein flĂŒchtiger LibertĂ€rer, auf der Flucht vor dem Joch der Überwachung durch System und Gesetz. Ich sollte nicht frei sein, solange auf dem Antlitz der Erde andere Menschen existierten, die bereit dazu waren, mich abzuschießen oder einzusperren und in Ketten zu legen. Ich sollte nicht frei sein, solange eine kalte GefĂ€ngniszelle auf mich wartete.

Vierter Teil: Auf dem Weg in die Repression

Oft habe ich euch von einem, der ein Unrecht begeht,

reden hören, als sei er nicht einer von euch,

sondern ein Fremder und ein Eindringling in eure Welt.

Aber ich sage euch, selbst wie der Heilige und Rechtschaffene nicht

ĂŒber das Höchste hinaussteigen kann, das in jedem von euch ist,

so kann der Böse und Schwache nicht tiefer fallen

als das Niedrigste, das auch in euch ist.

KHALIL GIBRAN, Von Schuld und SĂŒhne

San José de Calasanz, La Coruña, November 1979

Das Taxi hielt vor der riesigen Schule. Das altertĂŒmliche InternatsgebĂ€ude von San JosĂ© de Calasanz schien mir regelrecht die Hölle zu sein. Die graue KĂ€lte dieses staatlichen Internats erschreckte mich. Hier also wĂŒrde man von jetzt an meine Vormundschaft und Erziehung ĂŒbernehmen. Meine Eltern zu Hause versuchten derweil, die Finanzen und ihr Zusammenleben in Ordnung zu bringen. Ich stieg aus dem Taxi, und meine Mutter nahm mich an die Hand. Ihr Gesicht drĂŒckte gewaltigen Schmerz aus. Der Hungerlohn, den sie fĂŒr das Putzen fremder Wohnungen verdiente, reichte nicht aus, um die MĂ€gen von vier Kindern zu fĂŒllen, geschweige denn ihre Schulbildung zu bezahlen. Sie hatte keine andere Wahl und litt darunter. Mit hastigen Schritten gingen wir die Treppen hinauf bis zum Eingang. Meine Mutter drĂŒckte die Klingel an der schweren HolztĂŒr, und nach einer Weile öffnete uns eine in die Jahre gekommene Aufseherin.

»Hallo, guten Tag«, grĂŒĂŸte sie uns.

»Guten Tag«, antwortete meine Mutter höflich. »Ich bringe meinen Sohn. Ich wĂŒrde gerne erst einmal mit der Direktorin sprechen…«

»Wir haben Sie erwartet. Das Jugendamt hat uns avisiert, dass Sie heute kommen.« Sie lud uns zum Eintreten ein.

Die Aufseherin fĂŒhrte uns durch einen Speisesaal und ĂŒber mehrere Flure, die stark nach Putzmittel rochen, bis ins BĂŒro der Direktorin, die sie uns als Doña Petra vorstellte.

»Hallo«, begrĂŒĂŸte sie meine Mutter. »Ist das Ihr Sohn JosĂ©?« fragte sie und strich mir ĂŒber das Gesicht.

Ich wich ihrer Hand aus.

»Er ist ein bisschen schĂŒchtern«, entschuldigte sich meine Mutter und streichelte mich an den Haaren.

»Das wird sich legen. Es gibt hier viele Kinder und er wird schnell Freunde finden.«

Sie erledigten den bĂŒrokratischen Vorgang fĂŒr meine Übergabe in die Obhut des Internats. Nach ein paar Unterschriften kam der gefĂŒrchtetste Moment. Wir wĂŒrden uns trennen mĂŒssen, bis meine Mutter sich um mich kĂŒmmern und definitiv wieder mit nach Hause nehmen konnte. Ich wusste, dass die Verantwortung fĂŒr diese Entwicklung in dem Benehmen meines Vaters zu suchen war, eines alkoholkranken Mannes, dessen einzige Sorge im Leben war, sich zu betrinken und in den Puff zu gehen, um anschließend betrunken nach Hause zu kommen und meine Mutter zu schlagen.

»Ich muss gehen, mein Sohn. Versprich mir, dass du dich gut benehmen wirst«, bat sie mich und versuchte die TrĂ€nen zurĂŒckzu-halten, die rebellisch darum rangen, aus ihren braunen Augen zu laufen.

Ihre kĂŒhlen HĂ€nde, gestraft von den Putzmitteln und der Arbeit, strichen mir ĂŒber den Hals, als ich meine Mutter umarmte. Es war der Versuch, das bereits Unausweichliche hinauszuschieben.

»Sorgen Sie gut fĂŒr ihn, bitte«, bat sie die Direktorin.

»Das werden wir, gnĂ€dige Frau, doch jetzt mĂŒssen Sie gehen, sonst wird es fĂŒr ihn nur schlimmer.«

»Auf Wiedersehen, mein Sohn«, verabschiedete sie sich und kĂŒsste mich. »Ich werde bald kommen und dich besuchen.«

»Auf Wiedersehen, Mama.« Ich sagte ihr lebewohl.

Als meine Mutter in der TĂŒr verschwunden war, fĂŒhlte ich eine große Leere um mich herum: die brutale Unermesslichkeit einer neu zu entdeckenden Welt. Eine Nonne nahm sich meiner an und brachte mich in den dritten Stock, wo die SchlafrĂ€ume lagen. Dort wies sie mir einen kleinen Spind mit einer Nummer zu, der dreiundzwanzig. Diese Nummer wĂŒrde von jetzt an auf allen meinen Sachen und KleidungsstĂŒcken zu finden sein. Sie wies mir auch eins der vierzig Betten zu, die es in dem Schlafraum gab, und die in vier Reihen Ă  zehn standen und den Spinden entsprechend nummeriert waren. Am Ende des Schlafsaals ging es in die Dusch- und WaschrĂ€ume. Der Schlafsaal war kalt und hatte keine Heizung. Er wurde von einer Reihe Leuchtstoffröhren an der Decke erhellt. Ich fĂŒhlte mich allein und brach in bittere TrĂ€nen aus, die Nonne versuchte vergeblich, mich zu trösten.

Sie brachten mich zum Mittagessen in den Speisesaal im Erdgeschoss hinunter. Es gab dort zwanzig Tische, von denen einige nicht besetzt waren. An den Tischen saßen Kinder in Gruppen. Sie ließen fĂŒr einen Moment das Essen sein, um mich neugierig zu beĂ€ugen. Man hieß mich an einen Tisch mit drei gleichaltrigen Kindern setzen, die von nun an meine TischgefĂ€hrten sein sollten. Ich fĂŒhlte mich unwohl und fehl am Platz und konnte kaum etwas essen. Weil das am ersten Tag normal war, ließen sie es zu.

Als wir mit dem Essen fertig waren, brachten sie uns in Gruppen in den Schlafsaal zur Siesta. Wir mussten uns die ZĂ€hne putzen und die HĂ€nde waschen, bevor wir uns in die Betten legten. Als wir lagen, gingen sie, schlossen die TĂŒr und ĂŒberließen uns der Obhut der Ältesten. Mein Nachbar, der auch am Tisch neben mir gesessen hatte, sprach mich an.

»Wie heißt du?« fragte er mich leise.

»José«, antwortete ich ihm von meinem Bett aus.

»Ich heiße Ángel. Bist du Waise?«

»Nein. Sie haben mich hergebracht, weil wir zu Hause Probleme haben…«

»Ich habe keine Eltern und bin schon viele Jahre hier. Willst du mein Freund sein?« bot er mir an.

»Gern!« Ich nahm an.

Am Nachmittag, zwei Stunden spĂ€ter, öffneten sie die TĂŒr und brachten uns in die Klassenzimmer, die im zweiten Stock lagen, neben der Kapelle. Ich kam in die fĂŒnfte Klasse, zusammen mit meinem neuen Freund, was mich etwas tröstete. Den Unterricht erteilte ein Lehrer, den alle Don Jorge nannten. Wie Ángel mir schon vor dem Eintreten in den Klassenraum erzĂ€hlt hatte, hatte dieser Lehrer die hĂ€ssliche Angewohnheit, die Kinder mit einem Gasflaschenschlauch zu schlagen – den hatte er immer dabei. An diesem ersten Schultag saß ich nur in meiner Bank und beobachtete den Fortgang des Unterrichts. Als die Stunde zu Ende war, gingen wir auf den Hof in die Pause. Der große steinerne Hof lag vor dem Speisesaal, neben der KĂŒche und den GĂ€rten, durch die hindurch man zu einem Basketballplatz kam, den allerdings niemand benutzte. Wir spielten mit Murmeln oder andere Gruppenspiele, wie das beliebte Stein, Schere, Papier. Ich fĂŒhlte mich gehemmt, setzte mich auf die Treppen zum Fußballplatz und sah den anderen Kindern beim Spielen zu. Ángel und zwei Freunde von ihm kamen dazu, um mir Gesellschaft zu leisten.

»Hallo José«, begrĂŒĂŸte er mich, setzte sich an meine Seite, und seine Freunde setzten sich dazu.

Ángel war zwölf, dreizehn Jahre alt und sah dĂŒnn und krĂ€nklich aus. Dieser Junge mit den dunklen Augen und dem breiten Grinsen sollte mein Komplize werden, ein Bruder fĂŒr mich wĂ€hrend meines Aufenthalts hier.

»Das sind Juan und Miguel«, stellte er mir die Zwillinge vor. Wir begrĂŒĂŸten uns mit Handschlag.

»Wirst du lange hier bleiben?« fragte mich Miguel.

»Das weiß ich nicht«, antwortete ich. »Zu Hause gibt es Probleme zwischen meinen Eltern, und bis sie sich nicht vertragen, glaube ich nicht, dass sie kommen um mich abzuholen, es sei denn fĂŒr ein Wochenende.«

»Genau wie wir«, sagte Juan.

»Komm, wir spielen Murmeln«, schlug Ángel vor und bot mir welche von seinen an.

»Nein, keine Lust…«

»Komm!« Er nahm mich am Arm und brachte mich bis zu einem kleinen Rechteck aus Beton, wo ein paar Kinder spielten.

Ich nahm die Murmeln, die er mir angeboten hatte, und wir spielten bis zum Abendessen. Die Nonnen hatten dabeigesessen und auf uns aufgepasst. Nun riefen sie uns zum Essen.

Sofort nach dem Abendbrot wurden wir wieder in den Schlafsaal gebracht. Wir putzten uns die ZĂ€hne und legten uns in die Betten, unter der Aufsicht von drei Nonnen, Doña Pepita, Señorita Nieves und Doña Conchita. Letztere war die Schlimmste von allen, wie ich mit der Zeit noch feststellen sollte. Als wir alle im Bett lagen, gingen die Lichter aus, und sie schlossen die TĂŒr ab. Obwohl es verboten war zu sprechen, wĂŒnschte Ángel mir eine gute Nacht.

»Gute Nacht«, antwortete ich ihm leise.

Ich versuchte einzuschlafen, schaffte es aber nicht. Ich hatte einen Kloß im Hals und brach wieder in TrĂ€nen aus, diesmal stumm, damit mich die anderen Kinder nicht hörten. Diese Dunkelheit machte mir Angst, zusammen mit der fast tragischen Stille, die den Schlafsaal umfing und ihn traurig machte, als ob die Nacht die Geschichte von allen und jedem von uns kennte. Ich fĂŒhlte mich allein und verloren, genau wie die anderen Kinder dort. Ich konnte mich nur nicht daran gewöhnen. Ich dachte an meine Mutter, bis ich schließlich einschlief, es war schon fast Morgen.

San JosĂ© de Calasanz war riesig. Neben dem HauptgebĂ€ude gab es GĂ€rten, in denen ObstbĂ€ume wuchsen und ein GĂ€rtner einen GemĂŒseanbau pflegte. Er kĂŒmmerte sich auch um die Schweine und Kaninchen des Internats. Das ganze GelĂ€nde aus Beton und Erde war von einer Mauer umgeben, die uns mit unserer damaligen KörpergrĂ¶ĂŸe hoch vorkam. Zu dem eindeutigen Zweck, ihr Erklettern zu verhindern, steckten oben auf der Mauer Glasscherben. Es war das erste Mal, dass ich das unertrĂ€gliche GefĂŒhl der Ohnmacht jemandes spĂŒrte, der gegen seinen Willen festgehalten wird.

An den Vormittagen, nach dem Aufstehen, mussten wir an unsere jeweiligen Spinde treten und abwarten, bis Doña Conchita sie aufsperrte, um Handtuch und Seife hervorzuholen und ins Bad zu gehen. Dann mussten wir die Betten machen. Sie verlangten, keine Falte zu sehen, und falls doch, mussten wir das Bett noch einmal machen, und so weiter, bis sie zufrieden waren. Den am wenigsten Disziplinierten oder den beim Bettenmachen Ungeschicktesten setzte es dabei verschiedentlich Ohrfeigen, genauso wie den Kleinsten, die immer noch manchmal ins Bett machten.

Das alles gefiel mir ziemlich wenig, und bald begann ich zornig auf die Nonnen zu werden. »Diese SĂ€ue«, pflegte Ángel zu sagen wenn wir ĂŒber sie sprachen.

Nachdem wir uns gewaschen und die Betten faltenlos gemacht hinterlassen hatten, gingen wir in den Speisesaal hinunter. Alles, was sie einem vorsetzten, musste gegessen werden, sonst ließen sie einen dort am Tisch sitzen, bis alles aufgegessen war. An den meisten Tagen konnte man ein Kind am Tisch sitzen und vor einer Tasse Kakao oder einem Teller Suppe weinen sehen. In den Klassenzimmern, in denen wir uns vormittags vier und nachmittags zwei Stunden aufhielten, standen die Dinge in puncto Disziplin nicht anders. Wenn jemand nicht aufpasste oder etwas machte, das ihm als Respektlosigkeit gegenĂŒber dem Lehrer ausgelegt wurde, trug er leicht ein paar Schlauchhiebe davon, oder blieb sogar nach ein paar Ohrfeigen die ganze Woche ĂŒber zur Strafe im BĂŒro der Direktorin auf Knien und mit ausgestreckten Armen sitzen, ohne Hofpause. Die Waisen erhielten die hĂ€rtesten Strafen, denn da sie keine Familie hatten, brauchte sich die Direktion vor niemandem zu rechtfertigen, wenn sie zu weit gegangen war, was insgesamt zu oft vorkam. Mit denen, die wie ich Familie hatten, ließen sie bei der Bestrafung grĂ¶ĂŸere Vorsicht walten. Ich hasste diesen Ort.

Das ein oder andere Wochenende verbrachte ich zu Hause bei meiner Familie. Meine Schwester Emily kam aus ihrer Nonnenschule, die in der NĂ€he von San JosĂ© de Calasanz lag, und holte mich ab. Sie war dort genau wie ich im Internat. Manchmal kam meine Mutter um uns abzuholen. Bei Gelegenheit war ich auch wegen einer Flegelei bestraft worden, die als grob eingeschĂ€tzt wurde, durfte nicht nach Hause und musste ĂŒber das Wochenende im Internat bleiben. Einmal bat ich meine Mutter zu erlauben, dass Ángel mit zu uns nach Hause kam. Sie besprach das mit der Direktorin und diese stimmte zu. Wir zogen uns also um, verließen diesen verhassten Ort und gingen zusammen mit meiner Mutter nach Hause.

Als wir dort ankamen, stellte ich meinen Freund Ángel meinen Freunden aus dem Viertel vor. Wir spielten den ganzen Nachmittag bis wir mĂŒde wurden und gingen dann zusammen zu einer alten HĂŒtte aus Brettern und Karton, in der wir die kleinen Katzen versteckt hielten, die unsere Bande gerade erst erobert hatte. Dort steckten wir uns Zigaretten an, nahmen kurze ZĂŒge und reichten sie herum. Wir feierten, wieder zusammen zu sein. Wir tauschten in einem schon ĂŒblichen Spiel einige KĂŒsse mit MĂ€dchen. Ángel hatte mĂ€chtig viel Spaß und wurde von Anfang an von allen gut aufgenommen, besonders von einem der MĂ€dchen, Sonia, der er offensichtlich gefiel. Wir machten SpĂ€ĂŸe darĂŒber, ließen sie beide rot werden und forderten sie auf, einander zu kĂŒssen. Als es dunkel wurde, verabschiedeten wir uns bis zum nĂ€chsten Tag und gingen zurĂŒck nach Hause. Schon vor unserer HaustĂŒr forderte ich meinen Freund zu einem Wettrennen ĂŒber die Treppen auf, das ich verlor. Wir kamen erschöpft an der WohnungstĂŒr an, wo uns meine Mutter lĂ€chelnd in Empfang nahm.

»Los, los, waschen und zum Abendbrot«, ordnete sie an. »Wo habt ihr denn gesteckt?« fragte sie laut und besah sich unseren unordentlichen Zustand. Wir grinsten nur und waren so befreundet wie nie.

In dieser Nacht lagen wir im Zimmer auf den Betten und redeten bis spĂ€t ĂŒber die MĂ€dchen und ĂŒber uns. Ich schlug ihm vor, ihn zu adoptieren, sobald wir uns bei meiner Mutter einrichten onnten, ohne meinen Vater, denn die Scheidung war schon im Gang.

»Stell dir vor wir werden BrĂŒder!« sagte ich voller Freude.

»Das wĂ€re toll…«

Der Sonntag wurde genau wie der Sonnabend. KĂŒsse, Streicheleinheiten und ein paar Zigaretten im Schutz der Holzbretter jener alten HĂŒtte. Wir konnten uns kaum daran erinnern, dass hiermit Schluss sein wĂŒrde und wir ins Internat zurĂŒckkehren mussten. Mit dem wenigen Taschengeld unserer Eltern gingen wir an diesem Nachmittag alle zusammen ins Kino und sahen Die glorreichen Sieben. Der Film beeindruckte Ángel und mich tief. Als wir aus dem Kino kamen, trugen wir beide etwas von Chris, dem Helden, in uns. An unserer HaustĂŒr verabschiedete sich Ángel von Sonia mit einem Kuss, und wir gingen mit großem Appetit die Treppen hinauf. An diesem Abend gingen wir auf Bitten meiner Mutter gleich nach dem Essen ins Bett, wir mussten ja am nĂ€chsten Morgen frĂŒh aufstehen und an den Ort zurĂŒckkehren, den wir am meisten hassten. Wir redeten kaum und wurden vom Blinklicht des Herkulesturms, der sich durch das Fenster abzeichnete und die Wand in AbstĂ€nden erleuchtete, bald in den Schlaf gewiegt. Am nĂ€chsten Morgen standen wir Ă€ußerst widerwillig auf und kehrten per Autobus nach San JosĂ© de Calasanz zurĂŒck. Im Hof trafen wir auf Juan und Miguel, die auch gerade gekommen waren, und erzĂ€hlten ihnen von unseren Abenteuern. FĂŒr Ángel waren diese zwei Tage außergewöhnlich gewesen. Man musste ihm nur zuhören, um das zu merken – diese zwei Tage waren seine einzigen freien Momente gewesen. Seit es ihn gab, war er in staatliche Schulen eingeschlossen gewesen. Wir mussten lachen, als ich erzĂ€hlte, dass er sich verliebt hatte. Wir vier waren eine unzertrennliche Gruppe und den Lehrern bald als die »Totenkopfbande« bekannt.

An diesem Abend war Duschen an der Reihe. Wir kamen ja schon geduscht von zu Hause und versuchten mit dieser Ausrede von einer neuerlichen Dusche befreit zu werden. Doña Conchita allerdings ordnete an, dass wir duschten. Wir nahmen also die HandtĂŒcher und die WĂ€sche zum Wechseln aus den Spinden, gingen zĂ€hneknirschend in die WaschrĂ€ume und warteten, bis wir dran waren. Das Wasser war kalt, doch wir hatten keine andere Chance als uns unter den kalten Strahl zu stellen. Mir stockte der Atem. Ich benetzte mir nur den Kopf und tat fertig geduscht. Als ich herauskam, bemerkte Doña Conchita den Schwindel.

»Du gehst wieder rein und duschst noch einmal«, befahl sie mir.

»Du bist bestraft wegen LĂŒgens und gehst jetzt augenblicklich duschen.«

»Das Wasser ist so kalt«, protestierte ich.

Sie gab mir eine Ohrfeige, nahm mir das Handtuch von der HĂŒfte, schob mich in die Dusche und ließ die TĂŒr offen. Unter das Wasser mischten sich TrĂ€nen des Zorns und verschwanden leise im Abfluss. Ich wollte aus der Dusche heraus, das kalte Wasser ließ meinen Atem stocken, doch ich wurde wieder hineingeschubst. Ich stand unter der Dusche und sah Doña Conchita mich durch ihre dicken BrillenglĂ€ser beobachten. Ich fĂŒhlte Scham, ich war nackt und schutzlos ihrer WillkĂŒr ausgeliefert. Ich hasste sie aus ganzer Seele.

So ein Verhalten war bei Doña Conchita normal. Ihr gefiel es, uns so zu behandeln, besonders die Kleinsten und die Waisen, die sie hĂ€ufig höchstpersönlich abtrocknete, auch wenn sie schon alt genug waren, um sich selber abzutrocknen. Man erzĂ€hlte es im Internat herum, die am lĂ€ngsten da waren, erzĂ€hlten es: Es gefiel ihr, die Jungen anzufassen und sie nackt in der Dusche zu sehen, was mir realistisch vorkam, nachdem ich ihren dreckigen Blick auf meiner Nacktheit gespĂŒrt hatte. Man sagte sogar, dass sie manchmal nachts kam, um eins ihrer Lieblingswaisenkinder zuzudecken und fasste ihm dann an Penis und Hoden. Von allen Nonnen hassten wir Doña Conchita und Doña Petra am meisten, neben den Schleimern.

Ich ging sonnabends zum Musikunterricht und lernte Gitarre, Laute und Bandurria spielen. Der Lehrer war eigentlich gar nicht so schlecht, doch ich hatte die Instrumente, den Unterricht und den Lehrer bald satt. Wir gingen auch hĂ€ufig auf den Fußballplatz und spielten, wĂ€hrend eine der Nonnen, Señorita Nieves, uns freundlicherweise als Schiedsrichterin diente und so gut sie konnte von einem Ende des Platzes zum anderen lief. Manchmal entkamen wir der Aufsicht der Nonnen und sahen den Schweinen im Stall beim Fressen und Keilen zu. Sie bissen sich gegenseitig und machten sich dabei hĂ€ufig die Schnauzen und Ohren blutig. Aber normalerweise machten wir immer dasselbe: Murmeln spielen, Doña Conchitas Unterhosen angucken, wenn sie sich auf einen Stuhl im Hof setzte und einschlief, oder Stein, Schere, Papier. Wir hatten keine Alternative.

An einem dieser Nachmittage, ich spielte gerade eine Partie Murmeln mit einem Waisen, hatten wir Streit. Der andere hatte gerade die meisten Murmeln an mich verloren. Aus grĂ¶ĂŸerer Entfernung hatte ich gut geschossen, und darin war er eigentlich einer der Besten ĂŒberhaupt. Er wurde zornig, weil meine Kugel die seine aus dem Kreis geschossen hatte, den wir auf den Boden gemalt hatten und der die Grenzen unseres Spielfelds markierte. Ich hatte die Partie gewonnen und auch die Murmel, mit der er gespielt hatte, seine Lieblingsmurmel. Er behauptete, sie sei im Spielfeld geblieben, obwohl die dabeistehenden Kinder mir Recht gaben.

»Na los, gib die Murmel her«, sagte ich und richtete mich auf.

»Sie ist dringeblieben, auf der Linie.«

»Sie ist rausgeflogen, alle haben es gesehen, nicht wahr?« fragte ich.

»Das stimmt, sie ist nach draußen gerollt«, antworteten einige.

»Ist sie nicht.« Er bestand darauf.

Dann verwickelten wir uns in einen Zank und fĂŒgten uns mehrere SchlĂ€ge zu, bevor die Nonnen erschienen, um uns zu trennen. Sie bestraften uns beide mit Pausenverbot fĂŒr eine Woche. WĂ€hrend der Pausen mussten wir auf Knien sitzen und die Arme ausgestreckt halten. Wir mussten im BĂŒro der Direktorin an der Wand das Bild Jesu Christi am Kreuz imitieren.

Weihnachten kam. Meine Mutter holte mich fĂŒr eine ganze Woche zu sich nach Hause. Diesmal erlaubten sie nicht, dass Ángel mit uns mitkam. DarĂŒber war ich sehr verĂ€rgert, denn ich hatte fest damit gerechnet, dass wir diese Woche zusammen zu Hause verbringen wĂŒrden.

Wir verabschiedeten uns mit ziemlich traurigen Gesichtern. Zu Hause sprach ich meine Mutter auf die Möglichkeit an, Ángel dort mit uns zusammen leben zu lassen, wenn erst einmal die Bedingungen geschaffen waren und sie sich von meinem Vater trennte:

»Mama, warum holen wir nicht Ángel zu uns nach Hause, wenn ich aus dem Internat komme?«

»Das können wir nicht, mein Sohn«, antwortete sie. »Ich verdiene nicht einmal genug, um euch alle zu Hause zu haben, geschweige denn noch einen mehr. Tut mir Leid fĂŒr ihn. Wenn sie noch einmal erlauben, dass er ĂŒbers Wochenende kommt, nehmen wir ihn mit, aber er kann nicht bleiben.«

Das war eine schwere EnttĂ€uschung fĂŒr mich. Was wĂŒrde mit meinem Freund geschehen? In dieser Nacht, zwischen einladenden sauberen Laken im Bett in meinem Zimmer, erinnerte ich mich an die dunkle KĂ€lte des Schlafsaals im Internat und stellte mir meinen Freund vor, wie er zusammengerollt im Bett lag, mit meinem Bett gegenĂŒber, das ich leer hinterlassen hatte. Das war ungerecht. Ich wĂŒrde arbeiten, wenn es sein musste, um meiner Mutter zu helfen und so Ángel zu uns holen zu können. Ich verfluchte meinen Vater, ich hasste ihn sogar ein Bisschen. Mein Blick war starr auf die Lichtreflexe an der Wand gerichtet, die vom Herkulesturm kamen —die treuen Begleiter aller meiner KindheitstrĂ€ume. Ich verstand trotz allem, wie viel GlĂŒck ich hatte, eine Familie zu haben, mit der ich Weihnachten verbringen konnte.

Ich verbrachte diese Woche mit meiner Mutter und mit meinen Schwestern Emily und Yolanda, und mit meinem Bruder Oskar, dem Benjamin. Ich liebte meine Familie, besonders aber meine Mutter, sie vergötterte ich. Ich hatte ein besonderes VerhĂ€ltnis zu ihr, obwohl ich immer der aufmĂŒpfigste unter uns Geschwistern und hĂ€ufig Anlass fĂŒr ihr Missfallen war. Meine Mutter erinnerte an die Worte meiner Großmutter Carmen und sagte, ich sei vom Teufel besessen, ich sei unfĂ€hig stillzusitzen, und es sei unmöglich, mich lĂ€nger als eine Stunde im Haus zurĂŒckzuhalten. Immer entwischte ich ihr und lief auf die Straße, um mit meinen Freunden um die Wette zu rennen. Ich war sogar zweimal von zu Hause abgehauen und bescherte ihnen große Sorgen. Aber sie liebte mich und war vor ihren Freundinnen stolz auf mein gutes Herz, in dem es ihr zufolge von GĂŒte nur so wimmelte. Jetzt legte sie sich krumm, um meinen Geschwistern die Schule zu bezahlen und die Kosten zu tragen, die es bedeutete, uns zu kleiden und den Haushalt zu fĂŒhren. Immer bei der Arbeit, mĂŒde und mit schmerzendem RĂŒcken opferte sich diese edle Señora auf, um uns im Rahmen dessen, was ihr Gehalt ermöglichte, das Beste zu geben, ein Fels in der harten Brandung des Lebens.

Als die Weihnachtsferien verstrichen waren, kam ich ins Internat zurĂŒck. Ich brachte meinem Freund Ángel Bonbons und andere SĂŒĂŸigkeiten mit. Er erzĂ€hlte mir, was in dieser Woche alles passiert war, und ich ĂŒberbrachte ihm GrĂŒĂŸe von meinen Freunden. Ich sagte ihm, dass er nicht bei uns wohnen könne, jedenfalls im Moment nicht, denn meine Mutter konnte nicht fĂŒr unser aller Unterhalt sorgen. Ich musste ihm aber unbedingt sagen, dass wir ihn spĂ€ter zu uns holen wĂŒrden, fĂŒr immer. Meine Mutter wĂŒrde ihre Meinung schon noch Ă€ndern. Ich erfuhr von Ángel, dass Juan und Miguel in ihre Familien zurĂŒckgekehrt waren, zu ihrer Mutter, und dass wir sie wahrscheinlich nicht wiedersahen. Ich hörte Traurigkeit in seiner Stimme. Die beiden waren jahrelang seine Familie in diesem Irrenhaus gewesen. Irgendwie freute er sich aber auch darĂŒber, dass sie weg waren. Mit der besonderen GroßzĂŒgigkeit derer, die am wenigsten besitzen, teilte er die SĂŒĂŸigkeiten und die Bonbons, die ich ihm mitgebracht hatte, mit den Waisen, die ihn darum baten. Sie hatten um uns eine Traube gebildet. Es war

kalt an diesem Morgen und wir waren in dicke alte MĂ€ntel eingepackt. Offensichtlich hatten wir alle hier eines gemeinsam, das uns alle verband: Unsere Armut.

Im Internat wurde im Sinne seiner religiösen Richtlinien in Bezug auf die Disziplin Kurs gehalten. Die PĂ€dagogik war auf Verhaltensmaßregeln gegrĂŒndet und nicht auf gegenseitige Zuneigung. Nonnen und Lehrer fĂŒhrten zur Abschreckung stĂ€ndig neue Strafen ein, in der Hoffnung, dass wir einsahen, dass die Disziplin an erster Stelle stand. Wir konnten das damals nicht reflektieren, es kam uns aber ungerecht vor. Es regte uns auf. Unserem eigenen Wesen gingen die AutoritĂ€t und deren Missbrauch, den wir von unseren angeblichen Pflegern und BeschĂŒtzern erdulden mussten, absolut gegen den Strich. Das sahen viele Jungen und MĂ€dchen so, auch was die Praxis der Bestrafungen in ihren eigenen Familien an-

ging. Nie machte sich jemand die MĂŒhe, ein Kind verstehen zu wollen. Man setzte voraus, dass Kinder den Erwachsenen gehorchen mussten, einfach so. Die Erwachsenen hatten die Macht, sie immer dann zu bestrafen, wenn sie gegen deren Sicht der Dinge verstießen, und formten die Kinder nach ihrem Abbild, ohne ihnen eine Wahl zu lassen. Deshalb sehnten viele von uns die VolljĂ€hrigkeit herbei, um dem Joch, zu dem die Erwachsenen unsere Jugend gemacht hatten, zu entkommen.

Solche Gedanken verschweigt ein Kind grundsĂ€tzlich, denn es fĂŒhlt sich unterdrĂŒckt und ungerecht behandelt. Dieses Schweigen lĂ€sst in ihm Zorn entstehen und wachsen, den es aus Angst vor Strafe nicht ausdrĂŒcken oder loswerden kann und der immer weiter wĂ€chst und meistens zu Auflehnung und Gewalt fĂŒhrt. Junge oder MĂ€dchen, Heim- oder gar Waisenkind, wir wurden schlecht behandelt, geschlagen und vernachlĂ€ssigt. Sorglos schuf man eine instabile Welt ohne emotionale Verbundenheit, wenig geeignet fĂŒr die Entwicklung eines Kindes. Kinder brauchen Liebe, Spiel, Freunde, stĂ€ndige emotionale Zuwendung und nicht Strafen und strenge Disziplin. Die mit der Erziehung Betrauten ließen keine Umsicht walten und vergaßen in ihrem Arbeitsalltag den menschlichen Aspekt. Sie beschrĂ€nkten sich auf Vorschrift und Strafe und missbrauchten hĂ€ufig ihre AutoritĂ€t. Ein Kind wurde in diesem Sinne wie ein Erwachsener behandelt. Es weinte nicht mehr, denn es verstand, dass das nichts brachte. Es stumpfte ab und hasste die, die es bestraften, es sah kein Bisschen Liebe oder Zuneigung in der Strafe, sondern AutoritĂ€t und Zwang. So kommt es, dass ein Großteil der Jugendlichen, die Internat oder Erziehungsheim durchgemacht hatten, mehr als einmal straffĂ€llig wurden. Viele verfaulten im GefĂ€ngnis, zu gefĂ€hrlichen StraftĂ€tern gemacht. Der Staat, der die Aufgabe hatte, sich um sie zu kĂŒmmern, machte damit ein GeschĂ€ft. Die Gesellschaft konnte ihre Enterbten, die problematischen Armen, in Internate, WaisenhĂ€user und Erziehungsheime internieren und sie so verstecken. Chancengleichheit von Geburt an war eigentlich Grundrecht, allen sollte das gleiche GepĂ€ck auf die Reise durchs Lebens mitgegeben werden. Die Begriffe »reich« und »arm« sollten dem der Gleichheit Platz machen. Alle Jungen und MĂ€dchen auf der Welt besaßen das gleiche legitime Recht darauf, sich in geeigneter Umgebung zu entwickeln und mithilfe bester Lehrer und Lehrmittel eine gleichwertige Allgemeinbildung zu erhalten. Solange das nicht gewĂ€hrleistet war, durfte sich niemand darĂŒber wundern, dass die Kinder, die heute auf der Straße Ball spielten, morgen im GefĂ€ngnis saßen: Die Ketten, an denen sie im GefĂ€ngnis verfaulen sollten, warteten schon auf sie.

Zu dieser Jahreszeit regnete es stĂ€ndig in La Coruña, und so verbrachten wir die meiste Zeit statt auf dem Hof in einem geschlossenen Raum. Bei Regen bekam ich Heimweh und stellte mich oft ans Fenster des Aufenthaltsraums, um dabei zuzusehen, wie der Regen auf die Straße tropfte, ĂŒber die Autos mit eingeschalteten Scheibenwischern fuhren. An solchen Tagen vermisste ich mein Zuhause, meine Familie, meine Mutter. Das Heimweh bemĂ€chtigte sich meiner immer mehr. Obwohl ich eigentlich ein guter SchĂŒler war und meine Noten immer befriedigend bis sehr gut gewesen waren, bekam ich Probleme im Unterricht und handelte mir hĂ€ufig irgendeine Zurechtweisung oder Strafe von Don Jorge ein, der mich immer deutlicher auf dem Kieker hatte. Eines Tages stahl ich in der KĂŒche ein paar Körner Reis, und Ángel und ich unterhielten uns dann wĂ€hrend des Unterrichts damit, die Körner durch die Röhrchen von Kugelschreibern auf andere Kinder zu schießen. Das spielten wir hĂ€ufig, mit Reiskörnern oder zerkauten PapierkĂŒgelchen. Doch an diesem Tag hatten Ángel und ich das Pech, ein Reiskorn direkt auf die Glatze von Don Jorge zu schießen. Er stand auf, das Gesicht rot vor Zorn.

»Wer war das?« fragte er wĂŒtend.

Er schritt die Pulte ab und bekam keine Antwort. Alle, die bei der kleinen Schlacht mitgemacht hatten, versteckten in aller Eile ihre Kugelschreiberröhrchen, und als ich meines gerade verstecken wollte, sah er es. Er kam bis zu meinem Pult und nahm das Röhrchen aus seinem Versteck. Er zog mich an den Haaren bis nach vorne an die Tafel, vor aller Augen.

»Ich war es nicht!« rief ich mehrmals.

Dann nahm er wie gewöhnlich einen Gummischlauch und schlug mir damit brutal auf RĂŒcken und Beine. Ich fiel vor Schmerz schreiend zu Boden, doch es setzte weitere Hiebe, er war außer sich geraten. Er schlug weiter, bis er genug hatte. Dann befahl er mir, mich die Wand anblickend auf die Knie zu setzen und hielt meinen Klassenkameraden eine drohende Ansprache. Ich weinte vor Schmerz mit Rotz gemischte TrĂ€nen, unglaublich schockiert von dem, was gerade passiert war.

Nach der Stunde brachte Don Jorge mich vor Doña Petra, die Direktorin. Ich hoffte, wenigstens sie wĂŒrde mir glauben, doch ihre erste Reaktion auf das Gehörte war eine schallende Ohrfeige, die mich wieder in TrĂ€nen ausbrechen ließ.

»NatĂŒrlich musstest du es sein!« schrie sie mich an. »Du hast eine Woche keine Hofpause und bleibst auf Knien hier in meinem BĂŒro. Wir werden dir schon Anstand vor den Lehrern beibringen.«

»Ich war es nicht«, brachte ich unter Schluchzen hervor.

Als einzige Antwort auf den Versuch, mich zu verteidigen, erhielt ich eine weitere Ohrfeige.

»Du gehst jetzt sofort zum Essen runter und dann direkt in den Schlafraum«, und an Don Jorge gewandt fĂŒgte sie hinzu: »Sie können sicher sein, dass so etwas nicht noch einmal vorkommt.«

»Das will ich hoffen. Ein Teufel ist dieser Bengel!«

Ich bekam Lust, darauf mit einem Schimpfwort zu antworten, hielt mich aber zurĂŒck, um noch mehr Ohrfeigen zu vermeiden. Dann ging ich in den Speisesaal hinunter und setzte mich an einen Tisch. Alle anderen sahen mich an und schwiegen. Ángel brach die Stille: »Hat sie dich bestraft?«

»Eine Woche ohne Pause und obendrein noch zwei Ohrfeigen.«

»Die beschissene Alte!« rief mein Freund aus.

Nach dem Essen gingen wir in den Schlafraum. Als wir uns im Bad die ZÀhne putzten, hob Ángel mein Hemd hoch und sah die mehrfachen roten Striemen.

»Du hast rote Stellen«, sagte er.

Ich drehte mich zum Spiegel und sah mir ĂŒber die Schulter. Die Striemen liefen quer ĂŒber meinen ganzen RĂŒcken bis auf die Seite. An wen konnte ich mich damit wenden? Das Schlimmste war, dass ich es gar nicht gewesen war, dass sie mich wegen etwas, das ich gar nicht getan hatte, zweimal geschlagen hatten. In diesem Augenblick entschied ich, aus diesem religiösen Irrenhaus zu fliehen. Zur Mittagsstunde teilte ich es Ángel mit. Ich hoffte, er wollte mich begleiten.

»Hauen wir ab?«

Mein Freund sah mich verwundert an und lachte: »Du bist verrĂŒckt, wo sollen wir denn hin?«

»Wir können in mein Viertel gehen und uns in der HolzhĂŒtte verstecken, die wir dort haben. Meine Freunde werden uns mit Decken und etwas zu essen versorgen…«, war meine Antwort. Ich hielt das fĂŒr einen hervorragenden Plan.

»Ich nicht«, antwortete er ernst.

»Warum denn nicht?« wollte ich wissen.

»Weil ich, falls sie uns erwischen, so gut wie sicher in ein Heim komme, und das will ich nicht.«

Er hatte Recht. Falls sie uns erwischten, wĂŒrden sie mich schlimmstenfalls hinauswerfen, was mir sehr recht wĂ€re. Ángel aber wĂŒrden sie in eine Besserungsanstalt einweisen, zum Beispiel nach Palavea, drei Kilometer weiter. An diesem Nachmittag redeten wir nicht weiter darĂŒber, aber die Idee mich zu wehren und abzuhauen machte von nun an unablĂ€ssig in meinem Kopf ihre Runden.

In der gesamten Woche verbrachte ich die Pausenstunden damit, die Wand anzublicken. Wenn es mir einmal einfiel, meinen Kopf zu drehen, beförderte eine Ohrfeige ihn wieder zurĂŒck in die vorgeschriebene Stellung. Eines Mittags, als ich beim Essen durch die Scheiben des Speisesaals sah und von weitem den Regen beobachten konnte, hatte eine der Nonnen die brillante Idee, eines der Fenster zu öffnen. Ich fĂŒhlte den Luftzug und die Freiheit auf der anderen Seite. Ich fĂŒhlte gleichzeitig Angst und Euphorie. Ich musste nur losrennen, durch das Fenster springen und laufen so weit ich konnte.

Ángel bemerkte meine NervositÀt: »Was ist mit dir?«

»Ein Fenster steht offen… Siehst du es?«

»Haust du ab?«

»Ja. Kommst du mit?«

»Ich trau mich nicht«, gestand er mir. »Geh du.«

Als die Teller eingesammelt wurden, war ich immer noch unentschlossen. Ich hatte noch nichts gegessen, ich wĂŒrde also als einer der Letzten sitzenbleiben, bis ich alles aufgegessen hatte. Unter dem Tisch gaben Ángel und ich uns die Hand.

»Pass auf dich auf«, sagte er mir.

Doña Conchita kam an unseren Tisch und sah vor mir zwei volle Teller stehen. Sie regte sich auf: »Du, Ángel, nach oben«, befahl sie meinem Freund. »Und du bleibst hier, bis du alles aufgegessen hast.« Sie schrie mich an. Als sie sich ausreichend weit entfernt hatte, stand ich schnell auf, schob den Tisch zur Seite und rannte auf das Fenster zu. Die Nonnen riefen ĂŒberrascht durcheinander und sahen mich erstaunt an. Mit jugendlicher Leichtigkeit sprang ich durch das Fenster und verlor mich die Treppe hinunter, auf die Straße und in die Felder. Ich rannte durch den Regen, wie ich noch nie gerannt war. Ich begegnete dem InternatsgĂ€rtner, der gerade eine Schubkarre mit Rechen und Hacken ĂŒber einen Feldweg zurĂŒck auf das GelĂ€nde schob. Er hielt erstaunt inne und rief: »Wo lĂ€ufst du denn hin, Junge?«

Ich rannte ohne Pause weiter, bis ich das Internat nicht mehr sah und nicht mehr konnte. Vollkommen erschöpft und durchnĂ€sst stellte ich mich zum Schutz vor dem Regen unter einen Baum. Ich konnte keinen Schritt weiterlaufen. Das Herz pochte vor Anstrengung gewaltig. Ich blickte ĂŒber offenes Feld. Ich hatte es geschafft.

Ich rechnete nicht damit, dass es irgendwo auf der Welt immer jemanden geben wĂŒrde, der mich verfolgen und einsperren wollte. Ich wusste noch nicht, dass ich Sklave diktierter Gesetze war, zu denen mich niemand gefragt hatte. Ich wusste auch nicht, dass ich elf Jahre spĂ€ter drei Tage lang einer der meistgesuchten MĂ€nner des Landes sein wĂŒrde.

Rota, 28. August 1991

Gegen drei Uhr nachmittags kam ich nach Rota. Mir taten die FĂŒĂŸe weh. Ich hatte Blasen, denn meine geliehenen Schuhe waren eine Nummer zu groß. Das Laufen schmerzte mich sehr, und ich verfluchte, dass ich nicht daran gedacht hatte. Ich sah ziemlich schmutzig und zerzaust aus und fiel auf, obwohl ich die Hose gewechselt hatte. Ohne Zeit zu verlieren, fragte ich einen Passanten nach dem Weg zum Strand von Rota und ging dort hin. In der NĂ€he fand ich einen kleinen Laden, der immer noch geöffnet hatte und ging hinein, um Seife zu kaufen, eine Rasierklinge, einen Kamm, ein FlĂ€schchen Eau de Toilette und ein kleines Strandtuch, das im Sonderangebot war. Dann ging ich zu den Duschen am Strand, und fĂŒr fĂŒnfzig Peseten ließ man mich hinein. Ich duschte, rasierte und parfĂŒmierte mich. Ich putzte die Schuhe und polierte sie blank. Ich tauschte das Hemd gegen ein sauberes kurzĂ€rmeliges T-Shirt und krempelte die Hose bis auf die Knie hoch. So ging ich an den Strand, mit den Schuhen in der Hand. Das schmutzige Hemd und das ganze andere Zeug warf ich in einen Papierkorb, so wie jemand vier Jahre GefĂ€ngnis in einen Eimer wirft, und mischte mich unter die Leute, die am Strand spazieren gingen. Einmal am Strand spazieren zu gehen und das Meer unter meinen nackten FĂŒĂŸen zu spĂŒren, war ein Versprechen, das ich mir schon vor Jahren gegeben hatte. Ich liebte das Meer. Ich hielt an, um an einem kleinen Stand eine TĂŒte Erdbeer-Sahne-Eis zu erstehen, ging weiter und freute mich ĂŒber dieses Geschenk, das ich mir selbst gerade gemacht hatte. Ich dachte daran, was fĂŒr Gesichter meine Freunde aus La Coruña machen wĂŒrden, wenn sie mich kommen sahen. Ich dachte an meine Familie und an die Aufregung, die meine Flucht und die Fahndung nach mir zweifellos ausgelöst hatten. Sicher litten sie darunter, doch im Grunde ihres Herzens waren sie wohl so fröhlich wie ich. Mir kamen die Jahre der Isolation in den Sinn, die ich hinter mir gelassen hatte. Ich musste lĂ€cheln, als ich an die Freude und Hoffnung dachte, die meine Flucht den Freunden bescherte, die noch in den faulig stinkenden Kerkern der spanischen GefĂ€ngnisse eingesperrt waren. Ich dachte im Besonderen an Anxo und Musta. Ich spĂŒrte Wut, als ich mir vorzustellen versuchte, wie viele hundert Mal ich mich vor launischen und herzlosen Schließern hatte ausziehen mĂŒssen, als ich an die verschiedenen Haftanstalten dachte, La Coruña, Zamora, Daroca, Teneriffa. Dort wurde unterdrĂŒckt und gefoltert, wer den Mut gehabt hatte, sich gegen das System aufzulehnen, alle jene Frauen und MĂ€nner, deren Gegenwart genau die ehrbaren BĂŒrger störte, die mich jetzt gerade in Scharen umgaben und die hier in der Sonne lagen und lachten. Sie dachten nicht daran, dass andere litten, damit sie hier einen ruhigen Urlaub genießen konnten. Das stimmte: Damit einige ihr ekelerregendes entfremdetes Leben fĂŒhren konnten, den Kopf voll mit Konsum und anderen Komplexen, mussten andere Leute, genaugenommen vierzigtausend, in eisige SchweinestĂ€lle eingesperrt ĂŒberleben, ihres Lebens beraubt. Die Herren hatten sich der Welt bemĂ€chtigt und hielten sie exklusiv reserviert fĂŒr sich. Die StrĂ€nde waren ihre, die Straßen gehörten ihnen, die Felder, der Himmel… Alles stand unter ihrer Kontrolle, und an diesen wunderbaren Sachen durfte nur teilhaben, wer die herrschende Doktrin anerkannte. In BetĂ€ubung versunken, eingeschlĂ€fert von den MĂ€rchen der Politiker, lag der Wille der Gesellschaft konturlos unter einer Schicht Bequemlichkeit und SicherheitsgefĂŒhl. Diese Leute gaben mir niemals eine Chance, und falls doch, hĂ€tte ich sie nicht akzeptiert: Ich wollte lieber mit Entrechteten, RĂ€ubern, DrogenabhĂ€ngigen und AIDS-Kranken zusammenleben. Lieber als unter diesen gesichtslosen BĂŒrgerlein mit Minderwertigkeitskomplexen.

Ich verließ den Strand und nahm ein Taxi zum Postamt. Dort gab ich ein Telegramm auf. Mit einem vorher abgemachten Text teilte ich Musta mit, dass er auf mich zĂ€hlen konnte. Dann ging ich in ein SportgeschĂ€ft und kaufte eine kleines Jagdmesser, auf das ich vielleicht angewiesen war, solange ich mir noch keine Waffe beschafft hatte. Ich schlenderte durch die Stadt und betrat ein Lokal, in dem Arbeiter in blauen Overalls zu Mittag aßen. Ich setzte mich an einen der Tische. Eine freundliche Señora in fortgeschrittenem Alter kam, um mich zu bedienen.

»Guten Tag. Sie wĂŒnschen?«

»Mittagessen, bitte.«

»Gut. Wir haben Paella, AlbĂłndigas, Schnitzel mit Pommes Frites, Eier…«

»Bringen Sie mir ein gutes Kalbsschnitzel mit viel Pommes und zwei kurzgebratenen Spiegeleiern.«

»Caramba! Sie mĂŒssen Hunger haben«, bemerkte sie lĂ€chelnd.

»Etwas zu trinken?«

»Haben sie Milch?«

»Ja.«

»Bringen Sie mir bitte eine Flasche Milch.«

»Das ist gut. Noch etwas?«

»Nein Danke.«

Nach einer Weile kam sie mit einem randvollen Teller knuspriger Pommes Frites wieder, dabei ein StĂŒck Fleisch und zwei Spiegeleier.

Der Anblick verstÀrkte meinen verspÀteten Hunger.

»Lassen Sie es sich schmecken«, sagte höflich und nett diese angenehme Frau.

»Ganz sicher«, antwortete ich.

Ich aß mit großem Appetit. Mir gefiel das GefĂŒhl, das mir die Freundlichkeit dieser Señora gab. Seit Jahren hatte mich niemand mehr so behandelt. Auch in der Gesellschaft gab es gute, anstĂ€ndige Menschen, Leute, denen ich unter keinen UmstĂ€nden etwas zuleide tun konnte. Als ich mit dem Essen fertig war, rĂ€umte ich den Tisch ab und trug das Geschirr an den Tresen. Ich setzte mich in der NĂ€he der KĂŒchentĂŒr auf einen Barhocker. Die Inhaberin kam auf mich zu:

»Vielen Dank. WĂŒnschen Sie noch etwas?«

»Einen Carajillo, und die Rechnung bitte.«

Ich zahlte und trank den Kaffee mit Schuss, der mich merklich anregte. Bevor ich das Lokal verließ, verabschiedete ich mich von der Inhaberin:

»Auf Wiedersehen, Señora. Das Schnitzel war sehr gut…«

»Kommen Sie jederzeit wieder.«

Es war Nachmittag geworden. Ich ging in einen Buchladen und besorgte mir mehrere Tageszeitungen. Die Nachricht von unserer Flucht war in allen nationalen und regionalen BlĂ€ttern vertreten. In ABC, El PaĂ­s und Diario de CĂĄdiz waren Fotos von uns zu sehen. Mich kĂŒmmerten die Fotos nicht allzu sehr, denn die Bilder, die sie von mir hatten, waren ziemlich alt und man erkannte mich kaum. Die große Bedeutung, die dieser Nachricht beigemessen wurde, sicherlich auf Betreiben der Generaldirektion, erklĂ€rte ich mir mit einer Strategie, ein allgemeines UnsicherheitsgefĂŒhl schĂŒren zu wollen und die Bevölkerung dazu anzuhalten, bei der Fahndung mitzuhelfen und uns zu verraten. So konnten auch neue Maßnahmen gerechtfertigt werden, die schon lĂ€ngst erdacht waren, um die Welle der AusbrĂŒche und Geiselnahmen im GefĂ€ngnis zu stoppen. Als Vorsichtsmaßnahme ging ich in ein FriseurgeschĂ€ft, um mir die Haare schneiden zu lassen. Dann kaufte ich in einer Apotheke Mullbinden und verband mir die linke Hand wie nach einem Arbeitsunfall, damit man die TĂ€towierungen nicht sah. Ich ging auch in einen Optikerladen und kaufte eine dunkle Sonnenbrille. Dann fragte ich nach dem Weg zum Busbahnhof und ging dort hin. Ich setzte mich in einem kleinen Park auf eine Holzbank und beobachtete sorgfĂ€ltig die Bewegungen um die Bussteige auf der anderen Straßenseite. Ein paar Stunden spĂ€ter kaufte ich eine Fahrkarte nach Sevilla und ging wieder zu der Holzbank in der Gartenanlage. Ich schien keine Reaktion hervorgerufen zu haben, alles schien normal. Um neun Uhr abends stieg ich mit den anderen Passagieren zusammen in den Bus nach Sevilla. Wir erreichten die Stadt gegen zehn. Ich besah mir durch die Scheiben das Treiben im Bahnhof und bemerkte nichts Außergewöhnliches. Ich verließ den Bus und durchquerte den Bahnhof in Richtung Ausgang. Plötzlich erschienen zwei Zivilpolizisten vor mir und fragten mich nach meinem Ausweis. Ich war unbewaffnet, hatte nur das Jagdmesser bei mir, was mir in dieser Lage wenig nĂŒtzen wĂŒrde. Als Erstes kam ich auf die Idee loszurennen, doch ich wusste, dass ich nicht weit kommen wĂŒrde, mit den FĂŒĂŸen voller aufgeplatzter Blasen. Ich konnte auch keine Geisel nehmen, denn ich war einer der Letzten gewesen, die den Bus verlassen hatten, und es war niemand in der NĂ€he. Zu dieser Uhrzeit war der Busbahnhof nahezu menschenleer.

»Ich habe keinen Ausweis«, erklÀrte ich mich und versuchte Zeit zu gewinnen. Das gefiel den beiden nicht und ein Dritter kam hinzu: »Kommen Sie bitte mit.«

Sie brachten mich in einen kleinen Raum und gaben einem weiteren Kollegen Bescheid, wahrscheinlich einem Beamten der Bahnhofswache.

»Wie heißt du?« fragten sie mich.

»José Luis Rodríguez López«, sagte ich. Es war der Name eines alten Freundes.

»Woher kommst du?«

»Aus Melilla. Ich bin LegionĂ€r…«

Sie stellten mich an die Wand und durchsuchten mich. Sie nahmen mir das Messer ab. »Und das hier?«

»Das ist Gewohnheit. Beim MilitÀr haben wir immer eins dabei.«

»Und diese Schnitte?« fragte einer von ihnen, als er die alten Narben meiner Selbstverletzungen sah.

»Das ist normal in der Legion, Sie wissen schon, wie die TĂ€towierungen…«

»Ruf im PrĂ€sidium an. Sie sollen dir alles durchgeben, was sie zu dem Namen haben, den er uns gegeben hat«, befahl ein Polizist dem anderen. »Der ist sicher aus der Kaserne abgehauen«, fĂŒgte er

noch hinzu.

Sie fesselten mich mit den HĂ€nden auf dem RĂŒcken an einen Stuhl. Als ich die Handschellen um meine Handgelenke einrasten spĂŒrte, verfluchte ich mich dafĂŒr, wie dĂ€mlich und infantil ich gewesen war, diesen verdammten Bus genommen zu haben. SpĂ€ter sollte ich mitbekommen, dass man mich zufĂ€llig kontrolliert und festgehalten hatte. Die Kontrollen fanden wegen der Bombendrohungen im Namen von ETA statt, die zur Weltausstellung 1992 in Sevilla Chaos in der Stadt verbreiten wollte. Zweifellos hatte ich mich wie ein AnfĂ€nger benommen, und das wĂŒrde mich teuer zu stehen kommen. So war es nun einmal: Nie konnten wir sicher wissen, wozu eine Entscheidung fĂŒhren konnte. Als der Polizist den Telefonhörer auflegte und mich mit ernstem Gesicht ansah, wusste ich, dass sie mich hatten.

»Das ist jemand anderes«, erklÀrte er seinen Kollegen. »Wartet einen Moment und lasst ihn nicht aus den Augen.«

Nach einer Weile kam er mit zwei Tageszeitungen wieder und legte sie geöffnet auf den Tisch. »Das ist einer von den beiden hier«, sagte er, erkannte aber mein Foto nicht.

Die Blicke Aller wechselten zwischen mir und den Fotos in der Zeitung. Die Fotos schienen ihnen nicht so recht zu passen.

»Was machen wir mit ihm?« fragte der, der als Letzter hereingekommen war.

»Sie kommen vom PrÀsidium und holen ihn ab.«

Als er das gesagt hatte, zog er eine Pistole aus der HĂŒfte und legte eine Patrone in die Kammer. Dann steckte er sie wieder ein, prĂŒfte meine Handschellen und schloss sie noch etwas fester. Alle meine Hoffnungen hatten sich vollstĂ€ndig in Luft aufgelöst, als sie mich aus dem Busbahnhof und in einen der Polizeiwagen brachten, die sich eingefunden hatten.

Sie brachten mich direkt zur ED-Behandlung. WĂ€hrend sie mir die FingerabdrĂŒcke abnahmen, fiel mir ein an der Wand hĂ€ngendes Plakat auf. Es waren mehrere Fotos von Aktivisten der GRAPO zu sehen und darunter unsere beiden Fotos, vergrĂ¶ĂŸert. Einige Bilder waren mit einem X durchgestrichen, was soviel wie eliminiert bedeutete. Andere waren mit einem Gitter aus horizontalen und vertikalen Linien versehen, das waren die Verhafteten. Die ĂŒbrigen hatten sie noch nicht gefunden. Ich freute mich, dass das Bild von Juan dabei war, er hatte es also geschafft.

Meine AbdrĂŒcke wurden per Computer ĂŒberprĂŒft. Als meine IdentitĂ€t feststand, beglĂŒckwĂŒnschten sie sich. Sie nahmen mir Hosen und Schuhe ab und brachten mich in den Gewahrsam hinunter. In Unterhosen lag ich in diesem Kerker auf einer verfaulten Matratze und sah an die weiße Decke. Ein schwacher Lichtstrahl erhellte dĂŒrftig den engen Raum. Ich wollte losheulen, doch ich beherrschte mich. Ich konnte nichts mehr tun, außer auf eine neue Gelegenheit warten und wieder ausbrechen. Etwas Besseres fiel mir in diesem Moment nicht ein.

Am nĂ€chsten Morgen warfen sie mir die Schuhe und die Hose ins Innere der Zelle und befahlen mir, mich anzuziehen. Als ich fertig war, schlossen sie mir die HĂ€nde auf dem RĂŒcken zusammen und fĂŒhrten mich in einen Fahrstuhl, in dessen großem Spiegel ich mein zerzaustes Bild betrachten konnte. Wir fuhren in den dritten Stock zur Brigade fĂŒr RaubĂŒberfĂ€lle. Es waren drei.

»Setz dich auf den Stuhl«, befahl mir einer der drei und deutete

auf einen Hocker in der Mitte des BĂŒros.

Ich setzte mich, sie schlossen die TĂŒr und stellten sich rings um mich.

»Wir werden hier mit allen fertig, verstehst du? Besser, du antwortest auf meine Fragen«, warf mir der AnfĂŒhrer der Gruppe an den Kopf. Er war groß und trug Schnurrbart, der klassische Zivi-Bulle. »Wo sind die Waffen?« fragte er.

»Was fĂŒr Waffen?« fragte ich.

»Die dein Freund und du von dem Schiff mitgenommen haben.«

»Wir haben keine Waffen mitgenommen.«

Er sah einen seiner beiden MÀnner an. »Hol den Stock raus«, befahl er ihm.

Hinter einem Tisch holte er einen BaseballschlĂ€ger aus Holz hervor und ĂŒbergab ihn seinem Chef. Der fragte mich wieder, mit dem SchlĂ€ger in der Hand: »Ich habe mich wohl verhört. Wo sind die Waffen?«

»Wir haben keine Waffe mit von dem Schiff genommen«, antwortete ich wieder. »Erkundigen Sie sich, Sie werden sehen.«

Er dachte einen Augenblick nach und befahl dann einem seiner MÀnner, die Guardia Civil anzurufen, von wo man ihm bestÀtigte, was ich gesagt hatte. Sie fragten weiter:

»Wo ist dein Freund?«

»Weiß ich nicht.«

»Wo habt ihr euch getrennt?«

»Im Hafen von Cådiz, nach Verlassen des Schiffs.«

»Du lĂŒgst.«

Ich antwortete nicht. Sie wussten, dass ich ihnen nicht die Wahrheit sagen und ihnen auch keine AufschlĂŒsse ĂŒber seinen möglichen Aufenthalt geben wĂŒrde. Mein Schweigen war die Antwort.

»Sag mir, wo Redondo ist oder ich hau dir den SchĂ€del auf«, drohte er mir und hob den SchlĂ€ger ĂŒber meinen Kopf.

»Ich weiß es nicht.«

Dann tat er so, als wolle er zuschlagen. Ich schloss die Augen und wartete auf den Aufschlag, doch der kam nicht. Es war nur zum Schein gewesen.

»Du wirkst gar nicht so wild, wie man dich in der Zeitung und im Fernsehen darstellt, Tarrío«, meinte der Bulle, der hinter mir stand, und gab mir Klapse auf den Hinterkopf.

Er machte sich ĂŒber mich lustig, ich fiel aber nicht auf seine Provokationen herein. Als sie endlich davon ĂŒberzeugt waren, dass sie mit diesem Verhör nichts Brauchbares herausbekommen wĂŒrden, steckten sie den SchlĂ€ger weg und ließen meinen Pflichtverteidiger herein. Dann wurde mir formal die Aussage abgenommen. Es war ungeheuerlich, dass diejenigen, die dafĂŒr zustĂ€ndig waren, das Recht geltend zu machen, in allen Techniken der Repression und feiger Folter versierte WĂŒstlinge waren. Unter anderen UmstĂ€nden hĂ€tten sie mich zu Brei geschlagen. Jetzt verhinderten das die Anwesenheit des Anwalts und die anschließende Überstellung meiner Person an den Richter. Damals konnte noch niemand wissen, was aus diesen drei Henkern im Auftrag der Gesellschaft, JosĂ© Antonio GarcĂ­a Candel, JosĂ© Antonio Macuca und AnfĂŒhrer JosĂ© Antonio de la Rosa, was aus der »Bande der JosĂ© Antonios« werden wĂŒrde: Nur drei Jahre spĂ€ter traten sie in meine Fußstapfen und landeten im GefĂ€ngnis, wegen Folter und Mordes an einem zwanzigjĂ€hrigen StraffĂ€lligen aus Sevilla, der als Niño Kiko bekannt war. Wer hĂ€tte gedacht, dass diese ehrbaren und braven Polizisten im Dienst von Recht und Ordnung den JĂŒngling in den Kerkern des PrĂ€sidiums foltern, auf ein freies Feld hinaus fahren, ihm dort eine Kugel verpassen und ihn in einen Sumpf werfen sollten? Die Leute auf der Straße hielten sich in ihrer andauernden und vorsĂ€tzlichen Ignoranz nicht mit solchen Nachrichten auf. Auch trotz dieses Ereignisses sollten sie weiterhin denken, so etwas komme schon seit dem »Fall AlmerĂ­a« nicht mehr vor, und sonst nur in Diktaturen oder einigen DrittweltlĂ€ndern. Doch da irrten sie. Folter und Mord im Auftrag des Staats waren nach wie vor an der Tagesordnung, und FĂ€lle wie Santiago Corella alias El Nani zeigten das. Damals verfĂŒgte die Bevölkerung anscheinend nicht ĂŒber ausreichende Information, doch zu den Genannten sollten neue FĂ€lle hinzukommen und den schmutzigen Krieg aufdecken, den die Herrschenden fĂŒhrten. Die Basken Lasa und Zabala sollten in einer Höhle gefunden werden, begraben unter ungelöschtem Kalk, mit eindeutigen Anzeichen schwerer Folter: Ihnen fehlten die FingernĂ€gel. Zuvor war der Fall Mikel Zabaltza bekannt geworden; er war an der berĂŒhmten Foltermethode der »Badewanne« in einer Kaserne der immer noch faschistisch aktiven Guardia Civil gestorben. Polizisten wie diese kontrollierten den Drogenhandel in den großen StĂ€dten, erpressten junge StraffĂ€llige mit dem GefĂ€ngnis, ließen sie fĂŒr sich arbeiten und strichen ihren Teil ein. Die Morde im Auftrag des Staats und die Mörder in den SicherheitskrĂ€ften gingen viel weiter als man wusste. Sie verfĂŒgten ĂŒber Mittel, alles zu verdunkeln. Doch auch so konnten die BĂŒrger von der AktivitĂ€t von Gruppen wie GAL unter FĂŒhrung von Amedo und DomĂ­nguez wissen (ihnen folgten SancristĂłbal, Rafael Vera Planchuelo, Damborenea, Barrionuevo und wen die sozialdemokratische Elite noch hervorbringen sollte). Ermordet wurden LucĂ­a Irigoitia, Ángel Gurmindo, Domingo Peruena und Eugenio RodrĂ­guez Salazar. Und von wie vielen Verbrechen hatten wir nichts erfahren? Eigentlich konnte es nicht im Interesse der Gesellschaft sein, dass eine kleine Gruppe MĂ€nner so viel Macht ĂŒber alle anderen Frauen und MĂ€nner hatte – es brachte nur Ungerechtigkeit, Machtmissbrauch und Ungleichheit. Zu den Sheriffs der BĂŒrger gemacht, waren die Staatsdiener diesen eigentlich Respekt schuldig. Viele Polizisten aber maßten sich einen Missbrauch ihrer Dienstmarke an, zu eigenen Zwecken oder im Sinne der faschistischen Ideologie, der die Mehrheit anhing. Die einen bereicherten sich mit der Ausrede der VerbrechensbekĂ€mpfung, erpressten und prĂŒgelten, die anderen fĂŒhrten versteckte Kassen. Sie hielten die Kontrolle ĂŒber die Gesellschaft an sich und ĂŒberschwemmten das Land mit Drogen und dem entsprechenden Elend. So hielten sie die widerstĂ€ndigsten Bevölkerungsteile, die Jugendlichen, betĂ€ubt und im Dienst des Systems. Was fĂŒr Gewaltexzesse hatte es gegeben im Namen von Recht und Gesetz!

An diesem Nachmittag wurde ich ins GerichtsgebĂ€ude gebracht. Ich fĂŒhlte mich niedergeschlagen. Das Schlimmste war, nur daran zu denken, zurĂŒck ins GefĂ€ngnis zu mĂŒssen. Es kam mir unwirklich vor, es war, als ob ich einen Traum gehabt hatte. Der Schmerz und die Bitterkeit, die auf mir lasteten, machten mir aber bewusst, dass alles wahr war. Mit Handschellen hinter dem RĂŒcken holte mich eine Gruppe Polizisten aus dem Transporter. Die Aasgeier von Presse und Fernsehen hielten diese Bilder fest, um sie der kranken Gesellschaft zu ĂŒbermitteln. Eine Polizeisperre hielt diese ĂŒbergeschnappte Horde zurĂŒck. Über mich war stets nur Schlechtes geschrieben worden, und dieses Mal sollte es nicht anders sein. Sie behandelten mich wie einen gefĂ€hrlichen Schwerverbrecher, wie eine aus ihrem KĂ€fig entflohene Bestie. Ein Spektakel, das ihnen bei hoher Einschaltquote erlaubte, ihre Demagogie weiterzuentwickeln. In Wirklichkeit war ich nichts anderes als ein kranker Mann in Ketten, der einfach nur in Freiheit sterben wollte, vielleicht in einem fernen Land, wo die Gesellschaft humaner war.

Sie brachten mich vor Richterin und Staatsanwalt. In der Amtsstube setzte ich mich auf einen Stuhl.

»Gut, TarrĂ­o«, sprach mich der Staatsanwalt an, »die machen ja einen ganz schönen Aufstand da draußen.«

»Wieso hat der Wunsch frei zu sein einen derartigen Nachrichtenwert?« fragte ich. »Um die Freiheit ist es wohl allgemein nicht so gut bestellt.«

»Werden Sie eine Aussage machen?« brachte sich die Richterin in die Unterhaltung ein.

»Nein.«

»Wie alt sind Sie?«

»Dreiundzwanzig.«

»Sie sind sehr jung. Weshalb verstricken Sie sich in so einen Schlamassel?«

»Schicksal, Sie wissen schon…«

»Jetzt wird es fĂŒr Sie nur noch schlimmer, merken Sie das denn gar nicht? Unterschreiben Sie hier«, bat sie mich und schob mir ein Papier zu.

Sie nahmen mir die Handschellen ab und ich unterschrieb das Papier, das mich wieder ins GefÀngnis brachte. Dann sagten sie zu meiner Wache: »Sie können ihn mitnehmen.«

»Und mal sehen, ob sie nicht noch einmal ausbrechen«, scherzte der Staatsanwalt.

»Nein. Von nun an bleibe ich in der Zelle und stricke Pullover«, antwortete ich mit Ironie und verließ das BĂŒro in Richtung GefĂ€ngnis.

GefÀngnis Sevilla 2, 30. August 1991

Zwanzig Schließer warteten auf mich auf dem GelĂ€nde dieses modernen GroßgefĂ€ngnisses. Es war erst vor kurzem von Antoni AsunciĂłn eingeweiht worden. Kaum war ich durch die TĂŒr, schon ergriffen sie mich und stießen mich vor sich her bis in die psychiatrische Abteilung. Dort legten sie mich auf einen Tisch, zogen mir die Hose herunter und machten anschließend eine Reihe Röntgenaufnahmen. Sie hofften, in meinem Inneren verbotene GegenstĂ€nde zu finden. Ich hatte nichts in mir. Dann nahmen sie mir die Polizeihandschellen ab und verpassten mir anstaltseigene. Ich kam in die Isolation. Dort schlossen sie die Handschellen wieder auf und wiesen mich an, mich auszuziehen. Sie ĂŒbergaben mir einen blauen Overall und Plastiklatschen.

»Was ist mit meiner Kleidung?« fragte ich.

»Vergiss deine Kleidung. Alles, was du von jetzt an tragen wirst, ist dieser Anzug«, antwortete der Dienstleiter.

Ich streifte mir den Overall ĂŒber und zog mir die Latschen an. GeschmĂŒckt mit meinem brandneuen StrĂ€flingsanzug kam ich in eine der Zellen. Sie war vollkommen leer, es lag nur eine Matratze auf der metallenen Bettplatte. Ich trat ans Fenster.

»Ist da jemand?« rief ich.

Nach einer Weile antwortete mir eine Stimme: »Wer bist du?«

»Ich bin José aus La Coruña«, stellte ich mich vor.

»El Che?«

»Ja.«

»Was ist los, erkennst du mich nicht oder was? Ich bins Mann, Trancho!«

Die Gegenwart meines Freundes tröstete mich sehr. Das war alles, was ich in diesem Moment brauchte, da mein Mut bis unter den Nullpunkt gesunken war.

»Sie haben mich gestern geschnappt und hier bin ich. Und du, was machst du hier?«

»Hier hĂ€nge ich ab, mit einem Overall, ohne Hofgang, ohne Economato, ohne Dusche, ohne alles… Das haben sie sich extra fĂŒr uns ausgedacht.«

»Was?«

»Sie haben fĂŒr uns neue Bedingungen geschaffen, FIES heißen die. Seit einem Monat geht das so, und es scheint, als ob es noch lange so weitergehen kann.«

»Bist du allein?«

»Nein. Hier ist noch Victor. Dein Landsmann Ayude und Barrot liegen in dem anderen Trakt an das Bett gefesselt. Auch Beni ist da und ein paar Leute, die du wahrscheinlich nicht kennst. Alle unter gleichen Bedingungen.«

»Und warum haben sie dich hierher gebracht?«

»Nach eurer Geiselnahme auf Teneriffa haben Anxo und ich versucht, von Puerto 1 abzuhauen, vom GelĂ€nde. Sie haben uns gekriegt…«

»Und wo ist Anxo?« fragte ich nach.

»In Villanubla, und du glaubst nicht, wie es dort ist. Sie haben außerdem FIES-Trakte in Badajoz und in JaĂ©n 2 aufgemacht, und noch einen in Dueso, der den GerĂŒchten nach der schlimmste ist.«

»Das hat uns noch gefehlt«, antwortete ich auf diese Flut schlechter Nachrichten. »Habt ihr gar nichts in der Zelle?«

»Nichts. Du hast auch nur Overall und Latschen, oder?«

»Ja.«

»So wie wir alle. Wir können uns nicht einmal rasieren oder duschen gehen, du kannst dir also vorstellen, wie es uns geht.«

»Scheiße!«

Auf diesen Ausruf antwortete Trancho mit seinem ĂŒblichen schallenden GelĂ€chter.

»Es sieht schlecht aus, Josiño«, sagte er.

Klarer Fall. Unter dem Vorwand der jĂŒngsten Geschehnisse in den spanischen GefĂ€ngnissen hatten Antoni AsunciĂłn, gerade erst auf den Posten des GeneralsekretĂ€rs des GefĂ€ngniswesens befördert, und seine rechte Hand Gerardo MĂ­nguez Prieto, stellvertretender Direktor der Strafvollzugsaufsicht, in Zusammenarbeit mit dem Justizministerium unter Cuadra Salcedo die FIES-Sonderbedingungen geschaffen. Betroffen waren alle als besonders gefĂ€hrlich eingestuften Gefangenen, die an AufstĂ€nden, Geiselnahmen oder Ausbruchsversuchen teilgenommen hatten, oder die einfach störten. Sie hatten ein Netzwerk aus HochsicherheitsgefĂ€ngnissen geschaffen, richtiggehende Bunker, in denen man uns eher begrub als einsperrte. Zu diesem Zweck brachen sie alle vorangegangenen Gesetze und handelten nach ihrem eigenen, wonach dem Rechtsstaat alles erlaubt war. Das Justizministerium brachte alle kritischen Stimmen aus der Richterschaft zum Schweigen und versprach Beförderungen. Den sich den Herrschenden anbiedernden Medien wurde eine Richtlinie unterbreitet, nach der sie von nun an alles verschweigen sollten, was mit den betroffenen Gefangenen im GefĂ€ngnis geschah. Sie sollten eine gegen uns eingenommene Stimmung schaffen, uns als Psychopathen hinstellen, damit die Leute diese Methoden akzeptierten, falls der ein oder andere ehrbare Jurist doch einmal etwas durchsickern lassen sollte. Man wĂŒrde alle notwendigen Maßnahmen ergreifen und alles tun, um die Beschwerden der Gefangenen zu ersticken, APRE(r) zu zerschlagen und Ordnung und Disziplin in den GefĂ€ngnissen wiederherzustellen, mit Terrormethoden. Diese Methoden kannte ich, denn sie waren schon gegen COPEL angewandt worden. Die UnterdrĂŒckung sollte funktionieren, indem man den kĂ€mpferischen Geist der HĂ€ftlinge neutralisierte und ihr Bewusstsein, indem man sie Angst spĂŒren ließ, ihr Nervensystem konstant bombardierte, bis sie wirksam annulliert waren. Schwere Zeiten kamen auf uns zu, wir wussten noch nicht, wie schwere…

GefÀngnis El Dueso, Santoña, September 1991

Um sechs Uhr morgens stĂŒrmte eine große Gruppe Schließer in die Zelle, legte mir hinter dem RĂŒcken die Handschellen an und stieß mich in die Aufnahmeabteilung. Dort erwarteten mich mehrere Guardias Civiles, die mich ansahen, als ob sie neugierig waren, einen von den Typen kennenzulernen, die dazu fĂ€hig waren, zwei ihrer Kollegen außer Gefecht zu setzen. In ihren Augen stand Misstrauen geschrieben. Bosheit konnte ich aber nicht entdecken, was mich beruhigte. Sie ĂŒbernahmen die ZustĂ€ndigkeit fĂŒr mich, wechselten die Handschellen und schlossen sie mir vor dem Bauch. Dann steckten sie mich in einen kleinen Transporter, und wir fuhren los. Ich wusste nicht wohin. Beim Verlassen des GelĂ€ndes versuchte ich, das herauszubekommen.

»Hören Sie, agente«, fragte ich, »wo fahren wir hin?«

»Nach Dueso«, antwortete der GruppenfĂŒhrer. Nach einer Weile

fĂŒgte er hinzu: »Ihr habt den Kollegen ganz schön zugesetzt,

was?«

»So ist das eben…«

»Wenigstens habt ihr ihnen nichts angetan, darauf kommt es an«, mischte sich der Fahrer ein.

Ich ignorierte diesen Kommentar. Die Nachricht, dass das Ziel meiner Reise El Dueso hieß, gefiel mir nicht. In diesem Moment war das die schlimmste Möglichkeit. Es war, als ob alle UnglĂŒcke auf einmal ĂŒber mich hereinbrechen wollten. Ich dachte an die Worte der Inspektoren der Generaldirektion auf Teneriffa nach der Geiselnahme und wusste nun, dass sie ihr Wort halten sollten. El Dueso war ein Nest von versierten Folterern. Dort saßen die schlimmsten Schließer der Franco-Ära zusammen. Ich fĂŒrchtete zu Recht um meine körperliche Unversehrtheit. Vor Ocaña 1, Puerto de Santa MarĂ­a und Herrera de la Mancha war die Anstalt El Dueso mit Abstand das schlimmste GefĂ€ngnis im Land. Es war klar, dass das kein Urlaub fĂŒr mich werden wĂŒrde.

Ich hatte ĂŒber tausend Kilometer vor mir. Die verbrachte ich mit der Betrachtung der regionalen Landschaft, deren Schönheit von den verschweißten Gittern vor den kleinen Fenstern gemindert wurde. WĂŒrde ich diese Gitter noch einmal von der anderen Seite sehen können? Dass die Natur uns wunderbarerweise mit Augen ausgestattet hatte, war nur zur HĂ€lfte gelungen. Warum fiel es uns so schwer, das Offensichtliche auszumachen und zu erkennen? Wir Menschen sollten ein Recht auf ein zweites Leben haben. Dieses Leben war ungerecht, tyrannisch und unduldsam mit den Menschen. Warum schĂ€tzten wir es dann so, wo der Tod doch vielleicht eine Lösung war?

Es war so kompliziert, den Dingen auf den Grund zu gehen. Es war leichter, sie einfach zu ignorieren. Im Abgrund der AbsurditĂ€t, versunken in Widersinn wohnten wir der Zerstörung des Menschen durch den Menschen bei. Wenn die Justiz es ĂŒbernahm, jemandes Leben kaputt zu machen, tat sie das endgĂŒltig. Ein absurder Wutanfall nur eines Herrschenden konnte die Zukunft einer ganzen Familie Ă€ndern und sie in UnglĂŒck und Leid stĂŒrzen. Ein einziges bescheuertes Urteil konnte fĂŒr einen Menschen unsagbare Leiden bedeuten, ohne dass die Gesellschaft sich schĂ€mte. Sie stimmte mit dem religiösen Akt der AusĂŒbung ihres Wahlrechts zu. Mich und viele andere MĂ€nner und Frauen verschwinden zu lassen und die GefĂ€ngniskloake hinunterzuspĂŒlen wĂŒrde nichts Ă€ndern und kein Problem lösen, sondern nur noch mehr Probleme schaffen.

Wir hielten mehrmals zwischendurch an. Meine WĂ€chter fanden eine menschliche Geste und kauften mir ein belegtes Brot und eine Flasche Wasser. Wir aßen und tranken und fuhren dann weiter. Ich schwieg die ganze Fahrt ĂŒber und sah durch das vergitterte Fenster auf Felder und Berge, in die Freiheit hinaus. Es wurde Nacht, als wir ĂŒber die Provinzgrenze von Santander fuhren. Dann geschah etwas, das ich nie vergessen werde. Wir hielten an einer Ampel, und neben uns hielt ein Viehtransport. Direkt in mein Fensterchen, genau vor mir, blickte mich ein Kalb mit großen dunklen Augen an und leckte am Gitter seines KĂ€figs, das es vielleicht mit dem Euter seiner Mutter verwechselte, die nun weit weg war. Wir sahen uns neugierig an, und ich fand, das wir etwas gemeinsam hatten, sogar ziemlich viel. Beide waren wir Vieh auf dem Weg ins Schlachthaus, nur dass es bei ihm schneller gehen wĂŒrde. Beide waren wir Opfer derer, die sich als unsere jeweiligen Herren berufen fĂŒhlten.

Als wir in El Dueso ankamen, war es Nacht geworden. Es war ein riesiges GefĂ€ngnis, in Bezug auf seine FlĂ€che das grĂ¶ĂŸte im ganzen Land. Hinter den ersten Absperrungen fuhren wir auf einer kleinen Straße ĂŒber das GelĂ€nde bis zur FIES-Abteilung, die soeben eingeweiht worden war. Sie hatte einen gesonderten Bau, wie um klarzumachen, dass hier ein anderer Strafvollzug umgesetzt wurde, ein besonderer. Der trĂŒbselige Anblick dieser Anstalt bei Nacht beeindruckte mich. Eine große Gruppe sichtlich nervöser Schließer holte mich aus dem Transporter und brachte mich in ihre Abteilung. Noch in Handschellen fĂŒhrten sie mich sofort in das untere Stockwerk, wo sich die Duschen befanden. Dort schlossen sie mich ein und nahmen mir die Handschellen durch das verriegelte TĂŒrgitter hindurch ab. Von draußen befahl mir ein Schließer:

»Ziehen Sie sich aus.«

Ich streifte den Overall ab und gab ihn heraus, wie auch die Plastiklatschen. Das war alles, was ich hatte.

»Wenn Sie duschen wollen, können Sie das tun.«

»Ich habe kein Handtuch.«

»Wir holen Ihnen eins aus der Zentrale, das können Sie behalten.«

Ich öffnete den Hahn einer der Duschen und wartete auf das warme Wasser. Dann stellte ich mich unter den Wasserstrahl und benutzte ein kleines StĂŒck Seife, das ich dort vorfand, und wusch mich ohne Eile. Die Schließer sahen mir dabei zu. Als ich fertig war, trocknete ich mich mit einem kleinen weißen Handtuch ab, das mir die Schließer zusammen mit einem neuen blauen Overall und neuen Plastiklatschen ĂŒbergeben hatten. Diese moderne Kleidung war dazu gemacht, uns am Rennen zu hindern und uns ĂŒberall sofort als Gefangene erkennbar zu machen. Nordamerikanisches Vorbild natĂŒrlich. Ich zog die StrĂ€flingskleidung und die Latschen an.

»Drehen Sie sich um.«

Ich drehte mich um und stellte mich mit dem RĂŒcken vor das TĂŒrgitter des Duschraums. HinterrĂŒcks legten sie mir Handschellen an. Dann öffneten sie die TĂŒr, und eine grĂ¶ĂŸere Gruppe brachte mich an den Ort, an dem ich von nun an einsitzen sollte. Die Zellen lagen in einem Minitrakt im oberen Geschoss. Ein kalter Flur aus Kacheln, verschlossen mit einem alten Gitter aus langen und dicken Streben. Dahinter, in einer Reihe wie Grabstellen, die nummerierten GrĂŒfte. Ich bekam Nummer elf. Als ich drinnen war, schlossen sie die GittertĂŒr und nahmen mir die Handschellen ab. Dann schlossen sie die eigentliche TĂŒr und ließen mich allein. Es war eine kleine Zelle mit einem metallischen Bett, einer Matratze, zwei Decken und einem Satz Bettlaken. Es gab ein Waschbecken, einen Holztisch ohne Stuhl und einen ebenerdigen Abort. Zwischen GittertĂŒr und EisentĂŒr brannte eine GlĂŒhbirne. In der oberen HĂ€lfte der EisentĂŒr gab es ein Guckfenster aus dickem Sicherheitsglas, und nach draußen eines mit Holzrahmen. Ich trat an das Fenster und öffnete es. Hier gab es nur Einsamkeit und Stille. Vor der Abteilung lag ein großer ummauerter Hof. Wenigstens waren die Fenstergitter halbwegs normal; sie waren allerdings ĂŒber Kreuz verstĂ€rkt mit zusĂ€tzlichen Eisenstangen. Man konnte sie aber durchsĂ€gen und auf diese Weise etwas versuchen. Zumindest eine Hoffnung, dachte ich, als ich sie sah. Eine Stimme rief mich aus einem anderen Fenster:

»Wer ist da gekommen?«

»Wer bist du?« fragte ich dagegen.

»Juanjo Garfia.«

Zu wissen, das ein Freund in der NĂ€he war, hob meine Stimmung.

»Ich bin José.«

»Wann bist du gekommen?«

»Eben gerade, aus Sevilla 2«

Wir hatten beide enorme Lust miteinander zu sprechen. Eine Unterhaltung begann.

»Und was hast du da gemacht?«

»Sie haben mich da geschnappt, im Busbahnhof.«

»Das heißt, du bist abgehauen? Wir kriegen hier ĂŒberhaupt nichts mit.«

»Wer ist noch hier?« fragte ich.

»Pedro Våzquez, ein Baske. Netter Kerl.«

»Das war so«, erzĂ€hlte ich, »Juan und ich sind vom Schiff abgehauen, das zwischen CĂĄdiz und Teneriffa verkehrt. Kennst du ja…«

»Und Juan?«

»Ist noch frei, wenigstens habe ich nicht gehört, dass sie ihn geschnappt hÀtten. Als ich bei der Polizei war, suchten sie ihn noch.«

»Mann, wie geil! Und wie geht es dir?«

»Gut. Ein bisschen geschockt von dem hier…«

»Du machst dir noch gar keine Vorstellung, JosĂ©. Wir sind hier seit zwei Wochen, und es ist immer noch wie am ersten Tag. Sie lassen uns nicht auf den Hof raus und wir haben keinen Besuch, nicht von der Familie und nicht vom Anwalt. Wir sind völlig isoliert und kriegen nicht einmal mit, was draußen los ist, denn es gibt keine Presse und kein Radio, nichts.« Nach einer Pause sagte er: »Sie lassen uns nur ein Handtuch, eine zur HĂ€lfte abgesĂ€gte ZahnbĂŒrste, Seife, eine Rolle Klopapier und den Anzug. Die Decken und die Matratze nehmen sie uns morgens ab, nach dem ZĂ€hlappell. Um acht also, und sie geben sie uns bis zehn Uhr abends nicht wieder.«

»Mach keinen Scheiß!« rief ich.

»Du wirst schon sehen«, versicherte er mir und musste lachen.

»Die haben sich hier etwas ganz Nettes fĂŒr uns ausgedacht.«

»Und was ist mit dir?« wollte ich wissen.

»Die GEOS haben die Wohnung gestĂŒrmt, in der ich ĂŒbernachtet habe. Sie haben mir nur Zeit gelassen fĂŒr ein paar Mal ficken und ein paar Bankraube…«

»Wenigstens hast du dir den Schwanz anfeuchten können, ich nicht mal das.« Wir mussten beide Lachen.

»Staatsfeind Nummer eins also, was?«

»Dummheiten der Presse, José.«

Ich war mĂŒde von der Reise und legte mich nach der Unterhaltung mit meinem Freund hin. Mit alten GefĂ€ngniscodes hatte Juanjo mich wissen lassen, dass die Chance bestand, etwas zu versuchen. Ich vermutete, dass sich im Trakt eine SĂ€ge befand. Ich freute mich. Mit dieser Hoffnung im Sinn ĂŒberfiel mich der Schlaf.

Am nĂ€chsten Morgen, ich war noch sehr schlĂ€frig, erschien eine Gruppe Schließer in der Zelle. Ich stand auf und zog mir den Overall an. »Was ist los?«

»Wir mĂŒssen Ihnen Handschellen anlegen. Drehen Sie sich um.«

Ich trat an das Gitter und ließ mir Handschellen anlegen. Dann öffneten sie die TĂŒr und fĂŒhrten mich in eine andere Zelle. Sie nahmen Matratze, Decken und Laken mit und brachten mich wieder zurĂŒck. Danach machten sie dasselbe mit Juanjo und Pedro. Dann gingen sie. Ich war immer noch mĂŒde, breitete das Handtuch auf der Metallplatte aus und legte mich darauf. Eine Weile spĂ€ter brachten sie das FrĂŒhstĂŒck.

»Stellen Sie sich in die Ecke«, befahl mir der Schließer.

Sie legten auf ein kleines an das Gitter geschweißtes Tablett ein Brötchen und einen Becher verwĂ€sserter Milch. Das Gitter hatte ein Loch, durch das ich mir das Essen holen konnte.

»Ab heute stellen Sie sich immer wenn die TĂŒr aufgeht in den hinteren Bereich der Zelle, mit den HĂ€nden sichtbar ausgestreckt. Und spĂ€ter holen Sie sich das FrĂŒhstĂŒck oder was auch immer, verstanden?«

Ich antwortete nicht. Es schien, als sei das ernst gemeint. Ich aß hungrig das Brot und trat dann ans Fenster, um mit meinen Genossen zu reden.

»Guten Morgen, Juanjo«, rief ich.

»Guten Morgen.«

»Krass, wie diese Typen hier drauf sind, was?«

»Hab ich dir doch gesagt. Im Moment ist das Beste, abzuwarten was passiert. Sie sind sehr verÀrgert. Ich glaube nicht, dass es noch lange so weitergeht.«

An diesem Morgen hatte ich meinen ersten Kontakt mit den Möwen. Es gab dutzende. Sie waren klein und weiß, hatten schwarze Augen und orangene SchnĂ€bel. Sie kamen vom Strand und dem KĂŒstenland um das GefĂ€ngnis, setzten sich auf die Mauer oder landeten im Hof und suchten Nahrung. Wir warfen ihnen Brotkugeln zu, um die sie sich mit den wendigen Spatzen stritten. Ich sah mir die Vögel an, als die TĂŒr aufging. Mehrere Schließer betraten in Begleitung von Leuten in Zivilkleidung die Zelle.

»Wir mĂŒssen einige Tests an Ihnen durchfĂŒhren, TarrĂ­o«, sagte einer von ihnen.

»Was fĂŒr Tests?«

»Röntgenbilder.«

»Erst vor zwei Tagen wurden Röntgenaufnahmen gemacht, in Sevilla 2.«

»Egal, wir mĂŒssen neue machen.«

»Nein.«

Einer der Zivilisten mischte sich ein und stellte sich als stellvertretender medizinischer Leiter vor. Ich las auf seinem Schild den Namen Enrique Acín. »Wenn du dich weigerst, zwingst du uns, die Bilder mit Gewalt zu machen.«

»Nur zu, wenn Sie meinen…«

Sie schlossen die TĂŒr und versuchten es bei meinen Genossen.

Sie bekamen dieselbe Ablehnung. Wir waren ihnen wehrlos ausgeliefert. Wir gingen an die Fenster und redeten:

»Was haben sie zu euch gesagt, Juanjo?«

»Dasselbe wie zu dir.«

»Was können wir tun?« fragte Pedro.

Wir diskutierten diese Frage bevor sie zurĂŒckkamen. Wir konnten nichts anderes tun, als die Aufnahmen machen zu lassen, wir konnten es nicht verhindern. Falls wir uns weigerten, wĂŒrden sie uns zusammenschlagen und die Aufnahmen genauso anfertigen. Diese paar Minuten kamen uns auf jeden Fall gelegen, damit Juanjo und Pedro ihre SĂ€gen an einen sicheren Ort bringen konnten. Als die Schließer mit KnĂŒppeln bewaffnet und mit Handschellen wiederkamen, leisteten wir keinen Widerstand, und sie holten einen nach dem anderen aus der Zelle. Sie legten uns unter einen Röntgenapparat, den sie im Trakt aufgebaut hatten, zogen uns den Anzug herunter und machten mehrere Aufnahmen. Mehrere Schließer hielten uns solange fest. Nach dieser Erniedrigung brachten sie uns zurĂŒck in die Zellen. In der medizinischen Akte sollte stehen, dass wir die Aufnahmen aus freien StĂŒcken hatten machen lassen, oder sie wurden gar nicht erwĂ€hnt.

Vieles von dem, was im GefĂ€ngnis stattfand, war nichts als unverblĂŒmtes Sklaventum, verdeckt von theoretisch fortschrittlichen Verordnungen und von irrefĂŒhrenden technischen Begriffen. Wenn sie uns zum Beispiel siezten, wurde so die RealitĂ€t mit einem scheinbaren Respekt verdeckt, wĂ€hrend die Behandlung dieselbe blieb. Es ist dem Gefangenen egal, ob er unter der Folter geduzt oder gesiezt wird. Es war widersinnig, jemanden zu sietzen und ihn aufzufordern, nackt Kniebeugen zu machen oder nach dem Empfang von Besuch in einen Eimer kacken zu lassen, was auch in den Anstalten zweiten Grades normal war. Es war ekelhaft und abstoßend, dass sich jemand Arzt schimpfte, der diese Praxis mit Röntgenstrahlen zuließ und verdunkelte. Wir konnten leicht einen Krebs davontragen, so oft wie wir den Strahlen ausgesetzt waren. Dasselbe Muster galt fĂŒr den Namen der Institution. »GefĂ€ngnis« hatte man durch »Strafvollzugsanstalt« ersetzt, »Schließer« durch »Beamter«, »Folter« durch »unangemessene HĂ€rte« (ha, ha, ha), »PrĂŒgel« durch »Behandlung«. Damit und mit ein paar GĂ€rten um die GefĂ€ngnisse wollte die Behörde der Gesellschaft ein »humaneres« Bild vermitteln, ein falsches, scheinheiliges und zynisches Bild, das die harte RealitĂ€t in den wirklichen GefĂ€ngnissen vertuschen sollte. Und was uns gerade passiert war, sollte nur der Anfang sein. Diese RealitĂ€t sollte ihren höchsten Ausdruck erst noch erfahren.

An diesem Nachmittag rief ich den Schließer, damit er mir Schreibpapier und Kugelschreiber brachte. Ich wollte einen Brief an eine Freundin in Bilbao schreiben und sie bitten, zu mir zu kommen. Der Schließer brachte mir ein einziges Blatt und die Mine eines Kugelschreibers.

»Sie schreiben den Namen der Person, die den Brief erhalten soll, und ihren eigenen an das Ende, und wir schicken ihn zur Genehmigung nach Madrid. Wenn Sie fertig sind, geben Sie mir die Mine und das Blatt. Verstanden?«

Ich schrieb den Brief an meine Freundin. Sie hieß Ana und ich hatte sie in La Coruña kennengelernt, vor Jahren. Wir waren verknallt gewesen und ich hoffte, sie wĂŒrde die richterliche Erlaubnis bekommen, mich zu besuchen. Ich schickte ihr die Telefonnummer meiner Familie in Galizien, damit sie sie anrief und sie darĂŒber auf dem Laufenden hielt, wo ich mich befand. Ich erzĂ€hlte nichts davon, wie wir hier lebten, damit der Brief sie erreichte. Wenn sie dieses ganze System aus Eingriffen in unsere PrivatsphĂ€re geschaffen hatten, dann war es, um zu verhindern, dass etwas ĂŒber unsere Situation nach außen drang. Ich hoffte, sie wĂŒrde kommen. Als das Abendessen gebracht wurde, gab ich das Blatt und die Mine ab. Ich holte mir das Essen und aß im Stehen vor dem Fenster, wĂ€hrend ich mich mit meinen Freunden unterhielt.

»Das geht zu weit! Wir mĂŒssen etwas dagegen tun«, sagte ich.

»Sie haben uns ganz schön am Sack, José«, sagte Juanjo. »Am besten, wir warten ein paar Tage ab, mal sehen, was sie machen. In der Zwischenzeit treiben wir Sport. Ihr wisst schon…«

Ein paar Möwen drehten immer noch frei ihre Runden und es machte Spaß, ihnen die Reste des HĂŒhnchens zuzuwerfen, das sie uns zum Essen gebracht hatten. Ich fand es lustig, dass man die Knochen von den HĂŒhnerbeinen entfernte, damit wir keine Messer daraus machen konnten. Diese Irren hatten zu viele James-Bond- Filme gesehen. Genauso lustig fand ich die Gier der Möwen und die KĂ€mpfe, die sie sich lieferten um ein StĂŒck Huhn. Ohne Zaudern hackten sie aufeinander ein. Die verschlagensten warteten auf der Mauer, bis eine Möwe sich ein StĂŒck erkĂ€mpft hatte, und ĂŒberfielen sie dann von hinten. Die ĂŒberfallene Möwe versuchte dann erschrocken und aufgebracht die andere zu verfolgen, doch zwecklos. Mit der Zeit sollte ich feststellen, dass diejenigen, die die anderen Möwen ĂŒberfielen, das aus der UnfĂ€higkeit heraus taten, mit den anderen zu kĂ€mpfen. Um zu ĂŒberleben nutzten sie also die Vorteile aus, die sie vor den anderen hatten: Hinterlist und Schnelligkeit. Die Möwen waren eine der Spezies, die sich am besten an den Menschen und seine StĂ€dte angepasst hatten, an die Umweltverschmutzung. Das garantierte ihr Überleben. Sie waren intelligent und hatten wie die Ratten AbfĂ€lle zu ihrer Grundnahrung gemacht. Sie wĂŒrden nie Hunger leiden.

Um acht kamen die Schließer zur Durchsuchung. Demzufolge, was mein Freund Juanjo mir erzĂ€hlt hatte, wĂŒrde das jeden Tag nach dem Abendessen anstehen. Sie befahlen mir, die Kleidung abzulegen und durchsuchten den Overall. Dann legten sie mir Handschellen an und brachten mich in eine andere Zelle, um meine zu durchsuchen. Sie schlugen mit einer Stange an die Gitterstreben und prĂŒften, ob sie angesĂ€gt waren. Nach der Durchsuchung brachten sie mich in die Zelle zurĂŒck. UngefĂ€hr um zehn legten sie mir erneut Handschellen an und schoben Matratze, Decken und Laken in die Zelle. Das alles war ein Irrsinn, der im Stande war, das widerstĂ€ndigste Hirn zu zermartern, falls das so weiterging. Wir hofften, es wĂŒrde nicht so weit kommen.

Über den Dienstleiter erreichten wir wenigstens, dass uns BĂŒcher aus der Bibliothek gebracht wurden. Wie erhielten die Erlaubnis nur unter der Bedingung, dass wir die BĂŒcher nicht untereinander austauschten oder dieselben Titel bestellten und lasen. Man wollte nicht, dass wir uns ĂŒber die BĂŒcher Nachrichten zukommen ließen. Wir waren große Leser, was uns neben dem Sport und den langen GesprĂ€chen dabei half, Einsamkeit und Entfremdung zu bekĂ€mpfen. Sie erlaubten uns zu duschen, wir mussten allerdings mit Handschellen auf dem RĂŒcken und einer bedeutenden Begleitung in die Duschen hinunter gehen, nur mit dem Handtuch um die HĂŒfte bekleidet. Dieser Ablauf musste eingehalten werden, wenn wir duschen wollten. Das taten wir dann dort unten, nackt vor unseren Schließern, ohne eine Sekunde IntimitĂ€t. Es war abstoßend, den Blick dieser Schweine auf deinen Körper gerichtet zu fĂŒhlen, dreckige und unanstĂ€ndige Blicke. Ja, es war erniedrigend.

Pedro, Juanjo und ich organisierten uns schnell so gut wir konnten gegen das alles. Wir lasen viel und machten stĂ€ndig Übungen. Wir machten uns gegenseitig Mut. Garfia und ich bastelten aus Buchseiten winzige Schachspiele mit kleinen Spielsteinen aus gemalten Figuren – wir hatten zum Schein um Briefpapier und Kugelschreibermine gebeten. Dann spielten wir lange Partien, leise und vorsichtig, damit sie uns nicht hörten und uns die Spielbretter wegnahmen. Wir mussten sehr aufpassen, dass sie sie bei der Durchsuchung nicht fanden; die Schachspiele waren alles, was wir hatten und wir mussten sie retten. So verlief die erste Woche in Dueso. Es war das GefĂ€ngnis im GefĂ€ngnis. Sie ließen uns nicht auf den Hof und nicht telefonieren. Sie erlaubten uns keinen Kontakt zu den AnwĂ€lten. Denen sagten sie, wir seien woanders oder gerade verlegt worden. Sie nahmen uns morgens die Matratzen weg und gaben sie erst abends wieder heraus, sie durchsuchten weiter jeden Abend Zelle und Person, wobei wir uns immer nackt ausziehen mussten. Die Kleidung war auch immer noch dieselbe: Ein blauer Overall und Plastiklatschen. Nichtsdestotrotz nahmen wir es mit Humor. Wir sahen aus wie Maurer. Der Anzug, den sie mir gegeben hatten, war etwas zu klein, die Hosenbeine hingen oberhalb der Knöchel und die Ärmel kurz vor den Ellbogen. Bei Juanjo war es genau anders herum, wie er sagte. Sie hatten ihm einen viel zu großen Overall gegeben, er musste Beine und Ärmel hochkrempeln. Pedro schien einen in seiner GrĂ¶ĂŸe abbekommen zu haben. Es war schon komisch. Die Ärzte fĂŒhrten ganz gelassen jeden Tag ihre Visite durch und boten uns alle möglichen Drogen an. Sie behaupteten, nichts fĂŒr uns tun zu können, außer uns unter Tranquilizer zu setzen, wenn wir sie brauchten. Wir weigerten uns, medizinische Hilfe von diesen BĂŒtteln der Vollzugsbehörde anzunehmen.

Wie zu erwarten war, verkomplizierte sich bald die Situation. In der zweiten Woche dort verlor Pedro VĂĄzquez die Nerven und weigerte sich nach dem Mittagessen, dem Schließer das Tablett auszuhĂ€ndigen. Das mussten wir aber sofort nach Mittag- und Abendessen, denn wir durften nichts in der Zelle haben, das fester war als Stoff, Papier oder das StĂŒck Seife, die sie ĂŒbrigens bald durch FlĂŒssigseife ersetzen sollten. Von unseren Zellen aus hörten wir die Diskussion:

»Geben Sie das Tablett heraus!« schrie ein Schließer auf dem Flur.

»Nein. Komm doch rein und hol’s dir, wenn du willst.«

»Wenn wir reinkommen ist es nur schlimmer fĂŒr dich.«

»Schlimmer als was ihr jetzt schon mit uns macht? Das geht nicht. Wir sind hier seit fast einem Monat wie Hunde eingesperrt, ohne Hof, ohne Kommunikation… Ich habe die Nase voll von dem hier und von euch allen.«

Sie schlossen die TĂŒr und gingen. Kurz darauf kam eine ganze Horde, mit Schlagstöcken und Helmen. Sie öffneten die ZellentĂŒr unseres Genossen und dann das Gitter. Sie stĂŒrmten hinein und schlugen Pedro. Als er am Boden lag, schlossen sie ihn mit den HĂ€nden hinter dem RĂŒcken an das Gitter. Ich war von Wut ergriffen, konnte mich nicht zurĂŒckhalten und hĂ€mmerte an die TĂŒr, als die Schließer vorbeigingen.

»Was willst du?« antwortete mir einer und blickte durch das Guckfenster.

»Machen Sie die TĂŒr auf«, bat ich ihn.

Er öffnete die TĂŒr und nĂ€herte sich mir: »Was ist los?«

Durch das Gitter ergriff ich ihn dann am Hals. Überrascht von meiner Reaktion warf er sich nach hinten und versuchte, mit einem Tritt meinen Arm zu treffen.

»Ihr seid ein Haufen feiger Hunde«, rief ich. »Ihr habt ĂŒberhaupt keinen Grund, meinen Genossen zu schlagen…«

»Bringt die SchlĂŒssel«, bat er seine Kollegen.

Ich ging an das Fenster, riss den Holzrahmen aus den Angeln und stellte mich damit vor das Gitter.

»Mal sehen, ob du zuerst reinkommst, Feigling«, sagte ich zu dem Schließer.

DĂŒnn und mit einem tĂŒckischen Antlitz, hatten wir diesen Schließer den »Totenkopf« getauft. Er war ein SchlĂ€ger. Ihm gefiel es, sich an dem GefĂŒhl der Macht zu laben, die ihm dieser schmutzige Beruf verlieh. Man sah es an seinen Augen und an seiner Gestik. EingeschĂŒchtert von meinem Auftreten gingen sie und suchten VerstĂ€rkung und Schilde. Es kam ein knappes Dutzend. Die TĂŒren gingen auf. Die Horde stĂŒrmte herein und schĂŒtzte sich mit Plastikschilden vor meinen SchlĂ€gen. Der Totenkopf kam als Letzter. Sie stießen mich mit den Schilden nach hinten, drĂŒckten mich an die Wand und nahmen mir dort das Fenster aus der Hand. Die KnĂŒppelhiebe regneten nur so herab. Ich sackte zusammen und krĂŒmmte mich auf dem Boden. Instinktiv versuchte ich mit den HĂ€nden das Gesicht zu schĂŒtzen, schaffte es aber nicht. Ich spĂŒrte eine Reihe Tritte in die Rippen, und mir entfuhr der ein oder andere Schmerzenslaut. Dann schleiften sie mich bis an das Gitter und schlossen mich daran fest. Als ich mit den HĂ€nden hinter dem RĂŒcken gefesselt war, wandte sich Totenkopf an mich.

»Und wÀre ich alleine hereingekommen, es wÀre dasselbe gewesen«, gab er an.

Als sie weg waren, brummte mir heftig der SchĂ€del. Trotz der Erregung konnte ich mit anhören, wie sie mit Juanjo diskutierten und sich darauf vorbereiteten, zu ihm hineinzugehen und ihn zu verprĂŒgeln. Er hatte sich in SolidaritĂ€t mit uns in der Zelle verschanzt. Ich rief laut seinen Namen: »Juanjo, Juanjo…«

»Was?« antwortete er durch sein Zellenfenster.

»Lass es sein, du erreichst nichts, nur dass sie dich schlagen. Bleib ruhig, mir geht es gut. Lass es sein, ernsthaft…«

»Geht es dir wirklich gut?«

»Ja.«

Obwohl er keinen Widerstand zeigte, einfach weil er sich solidarisiert hatte, schlossen sie ihn genauso wie uns an das Gitter, schlugen ihn aber nicht. Pedro hatte sich inzwischen mĂŒhsam aufgerichtet und das Waschbecken von der Wand getreten. Er beschimpfte weiter die Schließer. Die aber gingen und ließen uns dort allein, gefesselt. Eine fĂŒrchterliche Stille breitete sich in der Galerie aus. Einmal mehr hatten unangreifbare Ungerechtigkeit und Missbrauch stattgefunden. Das war nur eine Machtdemonstration der Behörde, eine Demonstration ihrer Methode. Wir riefen uns zu:

»José!«

»Sprich!«

»Wie geht es dir?«

»Ich bin ein bisschen platt. Ich glaube mit Platzwunden am Kopf.«

»Arschlöcher!«

»Und du? Wie geht’s?«

»Von hinten an das Gitter geschlossen.«

»Und du Pedro?«

»Ich bin OK«, rief er uns von der anderen Seite der Galerie aus zu. Über den Flur hörten wir deutlich das Echo seiner Stimme. »Sie haben mir eins ĂŒbergebraten und jetzt bin ich hier festgeschlossen.«

»Was hast du kaputtgemacht?« fragte ich ihn.

»Das Waschbecken. Ich konnte nichts anderes machen, ich bin gefesselt…«

UnverstĂ€ndlicherweise mussten wir lachen. Wir redeten weiter und schimpften noch eine gute Weile auf die Schließer. Dann wurde es wieder still, grabesstill. Die Position war langsam unbequem. Sie hatten uns so angeschlossen, dass wir uns weder ganz hinsetzen noch richtig hinstellen konnten. Nach ein paar Stunden war das eine ziemlich schmerzhafte Tortur. Wir hofften, sie nahmen uns zur Nacht die Handschellen ab, doch da irrten wir. Gegen zehn kamen sie mit mehreren Decken in die Galerie, gingen die Zellen ab und warfen eine Decke auf jeden von uns. Als sie bei mir waren, stieß ich mit den Beinen die Decke weg. Einer von ihnen provozierte mich:

»WĂ€re ich heute Nachmittag hier gewesen, hĂ€ttest du ordentlich was abbekommen…«

Ich machte den Fehler, ihm auf den Leim zu gehen.

»Nimm mir doch die Fesseln ab und zeig’s mir!« sagte ich.

»Du bist auch noch frech?« rief er und trat gegen meinen Kopf.

Meine Stirn knallte auf die Fliesen an der Wand und eine von ihnen ging dabei kaputt. Ich hatte einen Schnitt an der rechten Augenbraue. Ich fĂŒhlte wie das Blut ĂŒber meinen Kopf lief und wie zwei neue Tritte auf mein Gesicht trafen. Ich konnte hören, wie mein Freund Juanjo sie beschimpfte, wĂ€hrend einer von ihnen meine Handschellen enger stellte. Der Stahl drĂŒckte sich in meine Handgelenke. Ich brauchte eine Weile, um die Benommenheit abzuschĂŒtteln. Die Schließer verschlossen Gitter und TĂŒr und gingen.

»Was ist passiert, José?« fragte mich Juanjo.

»Nichts. Ein Arschloch hat mich ein paar mal getreten…«

»Feiglinge!«

Ich war unheimlich wĂŒtend. Ich drehte den Kopf dem Fenster zu und sah in den schwarzen Sternenhimmel, um die verhassten weißen WĂ€nde zu vermeiden. Das Blut rann mir immer noch ĂŒber das Gesicht und ließ ein Auge halb erblinden. In diesem Moment hĂ€tte jeder von uns, hĂ€tte er eine Waffe, ohne Zögern ein Massaker veranstaltet. Indem sie das »Recht« auf diese Weise mit FĂŒĂŸen traten, potenzierten sie in uns die Gewalt. Man forderte uns förmlich dazu auf, die Hemmschwelle der lĂ€stigen Todesangst zu ĂŒberwinden und daran zu denken, ein Massaker zu veranstalten. Dies war die Wirkung bei einigen. Bei anderen waren es Selbstmordgedanken. Tief ergriffen von Wut und Hass litten wir unter unserer Ohnmacht, unter der Ungerechtigkeit und der feigen Folter. Den ganzen Tag in Ketten, die ganze Nacht nackt, wie Vieh unter Röntgenapparate geschoben, waren unsere Herzen so voll des Bösen, dass in ihnen nur noch Platz war fĂŒr Wut und RachegelĂŒste. Wie sollten wir ĂŒber alles hinwegsehen, ĂŒber den blauen Overall, die EiseskĂ€lte, ĂŒber den Gedanken an AIDS, der in meinem Kopf herumgeisterte? Wie sollte ich nicht mit Hass darauf reagieren, dass mein Genosse zusammengeschlagen wurde? Die Seele weinte tödlich gekrĂ€nkt; dieses Begraben des Mitleids unter den Menschen, diese Gitter, die Handschellen, diese schweinischen Blicke, diese Kerker, diese höllische Unterwelt, in der es immer noch eine Steigerung gab. Hass in der Stille, TrĂ€ume von sadistischem Totschlag in durchwachten NĂ€chten, in denen die Gedanken wĂŒtend umherirrten, in denen sich der Tyrann im Herzen aufbaute, auf tie- fem Schmerz in der Seele. Dieses vergewaltigende Mustern durch das glĂ€serne Guckfenster, diese dreckige Defloration aller IntimitĂ€t, dieses Fertigmachen der gefangenen Person mit stĂ€ndig erweitertem Repertoire, dieses Treiben in Selbstmord, Irrsinn und Hoffnungslosigkeit. Wie konnte ein Mensch das alles ĂŒberleben und dabei normal bleiben?

Es gab im GefĂ€ngnis keine gefĂ€hrlichen Menschen: Die gefĂ€hrlichen Menschen wurden dort gemacht, das war ein großer Unterschied. Die EinfĂ€ltigkeit dieser barbarischen Methoden stellte die Geltung und das Funktionieren dieses sogenannten Rechtsstaats bloß. Doch wen interessierte, was los war in den GefĂ€ngnissen? Niemanden, das war klar. Die Gesellschaft brauchte sich nicht darum zu kĂŒmmern, was mit einer Handvoll vandalischer APRE(r)-Mitglieder geschah. Es reichte, dass die Schließer ihre Arbeit taten: Die Drecksarbeit. Unter dem Strich waren wir diejenigen, die sich in Freiheit zusammentaten, um auf ihre Kosten zu leben. Ich gestand der Gesellschaft das Recht zu, uns, die »Bösen«, zu verachten. Ich gestand ihr sogar das Recht auf Rache zu. Ja, ohne Zweifel. Doch was ich nicht akzeptieren konnte war, wenn jemand sich selber dabei als ehrbaren StaatsbĂŒrger bezeichnete. Ich gestand diesen Leuten nicht das Recht zu, nach ihren Gesetzen in Freiheit zu leben, wenn sie diese selbst grob verletzten, mit einer ganzen Reihe ihrem eigenen Gesetz zufolge schwerer Straftaten kollaborierten oder ihr eigenes Geld dafĂŒr hergaben und mit ihrem Schweigen und ihrer WĂ€hlerstimme dabei mithalfen. Die uns geringschĂ€tzten, verachteten sich in Wirklichkeit selbst in ihrem schĂ€bigen Kleinmut.

Wo blieb die Ethik der freien Menschen? Wo die Gleichheit vor dem Gesetz? Geduckt in feigen Zynismus, Parteilichkeit, Egoismus. Sie genossen es, zur Herde zu gehören, ihren Hirten »Staat« nennen zu dĂŒrfen und ihr Gewissen den »Mehrheitswillen«. Es gab nichts Niedrigeres, als das Benehmen eines feigen und bösen Schließers; nichts, außer einer Bevölkerung, die zu feige war, ihn dafĂŒr zur Rechenschaft zu ziehen.

Die Nacht verging langsam, und der Schmerz in den steifen Armen wurde unertrĂ€glich. Ich probierte unterschiedliche Stellungen aus, doch ich erreichte nur noch stĂ€rkere Schmerzen. Bald spĂŒrte ich kalte Feuchtigkeit auf meinem Körper, besonders an den nackten FĂŒĂŸen. Ich streckte mich so gut es ging, und mit ausgestreckten Beinen reichte ich bis an die Decke, die ich Stunden zuvor weggestoßen hatte. Ich zog sie zu mir heran und legte sie mir um die FĂŒĂŸe. Ich versuchte zu schlafen, doch das war unmöglich. Ich versuchte, mich auf andere Gedanken zu bringen und nicht auf den Schmerz zu achten. Ich dachte an die Vergangenheit und traf in meiner Vorstellung alte Freunde wieder. Weit lag meine Zeit im Internat zurĂŒck, diese herrlichen Zeiten, in denen Freundschaft und Abenteuer uns stĂ€rker als je zusammengeschweißt hatten. Ich musste lĂ€cheln, als ich mich an meinen Freund Chico erinnerte und daran, wie wir einmal in eine Textilfabrik eingebrochen waren. Was fĂŒr eine Überraschung, als wir entdeckten, dass es sich bei der dort gelagerten Kleidung um IntimwĂ€sche fĂŒr Damen handelte, hauchdĂŒnne durchsichtige Slips mit kleinen Schleifchen als Halter und BĂŒstenhalter mit alarmierenden KorbgrĂ¶ĂŸen. Ich hatte laut lachen mĂŒssen, als Chico in dem GebĂ€ude ein BĂŒro durchstöberte und mit einem Korsett und einem weißen Slip erschien, den er sich mit den HĂ€nden an die HĂŒfte hielt. Er schickte mir von der BĂŒrotĂŒr aus ein paar KĂŒsschen herĂŒber und fragte: »Na, wie sehe ich aus?« – wir brachen beide in GelĂ€chter aus. Oder jenes andere Mal, als wir aus der Erziehungsanstalt in Palavea abgehauen waren, nachdem wir die Erzieher eingeschlossen hatten, und in derselben Nacht mit einem gestohlenen Auto, einer Flinte des Kalibers zwölf und unseren Freunden zurĂŒckkamen. Einer steuerte das Auto im Kreis um das Erziehungsheim und wir anderen schossen vom RĂŒcksitz aus abwechselnd auf die Glasscheiben der staatlichen Anstalt, die damals fĂŒr unsere UnterdrĂŒckung zustĂ€ndig war. Ohne Zweifel waren das zwei meiner schönsten Jugenderinnerungen. Wunderbare Zeiten.

Über diesen Erinnerungen wurde es Tag. Ich kehrte in die RealitĂ€t zurĂŒck und ertrug so gut es ging die KĂ€lte, vor allem aber den Schmerz in den gefesselten Armen. Ich musste noch ein paar Stunden lĂ€nger aushalten, bis eine Gruppe Schließer die ZellentĂŒr öffnete.

»Tarrío, wir werden Ihnen die Fesseln abnehmen. Wenn Sie irgendetwas versuchen oder etwas kaputtmachen, fesseln wir Sie wieder, verstanden?«

Ich war völlig fertig und antwortete beruhigend: »Von mir aus gibt es kein Problem.«

Sie ließen mich los. Ich brauchte mehrere Minuten, bis ich die Arme wieder bewegen konnte. WĂ€hrend sie meine Genossen noch losmachten, ging ich schon die Zelle auf und ab. Ich hatte versucht, dass sie mir die Decke ließen, aber sie verweigerten es. Ich brauchte Bewegung und musste hin und her gehen, um die KĂ€lte abzuschĂŒtteln, die mir in den Knochen saß. Ich rief ĂŒber das Fenster Juanjo und Pedro:

»Wie geht es euch?«

»Mir ist arschkalt«, antwortete Pedro.

Ich stellte ihn mir vor, wie er genau wie ich die Zelle auf und ab ging.

»ScheißgefĂ€ngnis!« rief Juanjo. »Mal sehen, ob sie uns etwas Warmes zum FrĂŒhstĂŒck bringen oder wenigstens ĂŒberhaupt etwas.«

»Mal sehen…« antwortete ich.

Und wirklich. Mit humanitĂ€rer Geste gewĂ€hrten sie uns ein FrĂŒhstĂŒck und boten uns an, warm zu duschen, allerdings nur, wenn wir nackt bis auf das Handtuch und in Handschellen hinunter gingen. Wir frĂŒhstĂŒckten mit großem Hunger. Danach brachten sie uns nacheinander zu den Duschen, damit wir uns einweichten. Mein Gesicht war voll getrocknetem Blut und der Anzug war fleckig, das wĂŒrde mir gut tun. Unter der Dusche wusch ich mich, und sie ĂŒberraschten mich mit einem sauberen Overall in meiner GrĂ¶ĂŸe, weißen Polyesterunterhosen und einem dazu passenden kurzĂ€rmeligen T-Shirt. Als ich angezogen war, brachten sie mich in eine andere Zelle am Ende der Galerie.

Etwas spĂ€ter erhielten wir Besuch der Herren Ärzte. Ich hatte eine Wunde an der rechten Augenbraue, die ich mir mit Klebebandstreifen zukleben ließ. Ich redete mit dem Arzt, wĂ€hrend er mich behandelte:

»Mir ist kalt. Könnten Sie nicht erreichen, dass man uns ein paar Decken gibt?«

»Das fÀllt nicht in meine ZustÀndigkeit.«

»Ich bin HIV-positiv und weiß nicht, wie es um meine AbwehrkrĂ€fte bestellt ist. Ich weiß aber, dass eine LungenentzĂŒndung mich bei schwacher Abwehr umbringen kann«, ich gab nicht auf.

»Wir werden Sie untersuchen. Mehr kann ich nicht tun.«

Sie schlossen die TĂŒr. WĂ€re das Gitter nicht gewesen, ich hĂ€tte ihn an Ort und Stelle erwĂŒrgt. Ich fĂŒhlte an die Wunde unter dem Pflaster und legte mich dann auf die metallene Bettplatte. Ich dachte an jenen Satz, den Freud sich zu Eigen gemacht hatte:

»Homo homini lupus«, der Mensch ist des Menschen Wolf. Er hatte vollkommen Recht.

Man rief nach mir. Es war Juanjo.

»José, hör mal!«

»Was ist?« antwortete ich und trat ans Fenster.

»Hast du kalte FĂŒĂŸe?«

»Ja, verdammt nochmal.«

»Schmeiß die BrottĂŒten nicht weg und benutze sie als StrĂŒmpfe. Wickel dir vorher Klopapier um die FĂŒĂŸe.«

Das war eine gute Idee, und wir teilten sie Pedro mit. Wir alle drei machten es. Als ich mich mit diesen revolutionĂ€ren StrĂŒmpfen sah, konnte ich einen Lachanfall nicht unterdrĂŒcken. Ich ging ans Fenster:

»Sieht ganz schön albern aus.«

»Ha, ha, ha…« hörte ich Juanjo lachen.

»Hör zu! Sie sind gar nicht so schlecht«, machte sich Pedro lustig, mit seinem ihm eigenen Humor.

»Sie haben dir das Schachspiel weggenommen, oder?« fragte ich Juanjo.

»Ja.«

»Heute Nachmittag machen wir ein neues, wenn die Wache wechselt.«

»Hast du immer noch nicht genug davon zu verlieren?«

»Eh, ich lasse dich nur gewinnen, um dich bei Laune zu halten.«

Schnell verstanden wir, dass es notwendig war, dass wir unseren Humor nicht verloren. Humor half uns. Hier waren wir stĂ€rker noch als sonst aufeinander angewiesen, und das verband. Wir stellten neue Schachspiele her, sie nahmen sie uns wieder weg, und wir machten wieder neue. Wir lasen viel, und da es ja verboten war, dieselben BĂŒcher aus der Bibliothek kommen zu lassen, erzĂ€hlten wir uns gegenseitig die BĂŒcher nach, die wir lasen. Darunter waren die Nikomachische Ethik von Aristoteles und seine Theorie ĂŒber die Freundschaft. Juanjo erklĂ€rte sie mir. Aristoteles teilte die Freundschaft in drei Gruppen ein. Eine Form der Freundschaft war die jugendliche – die wahrhaftigste laut diesem Buch. Die Freundschaft aus Interesse war die zweite Form der Freundschaft, die verbreitetste unter den Menschen. Die dritte Form war die der Tugend, das war die dauerhafteste. Wir verbrachten Stunden mit der Diskussion dieser Themen. Pedro las weniger, weshalb er sich bei diesen Unterhaltungen nicht so stark einbrachte. Mit unserem Meinungsaustausch ĂŒber die Metamorphosen, die Odyssee, Hamlet oder die militĂ€rischen Unternehmungen der Griechen in der Autobiographie Xenophons verbrachten wir einen Großteil der Zeit, die uns eigentlich moralisch zerstören sollte. Um nicht in körperliche TrĂ€gheit zu verfallen, forderten wir uns gegenseitig zur grĂ¶ĂŸten Anzahl LiegestĂŒtze oder anderer Übungen heraus. Juanjo bestand sehr auf die körperliche Erscheinung und ermutigte mich andauernd, er provozierte damit auf gesunde Art und Weise, dass wir unsere Muskeln trainiert hielten. An manchen Nachmittagen machten wir bis zu fĂŒnfhundert LiegestĂŒtze in Gruppen zu zwanzig oder fĂŒnfzig. Die Direktion begann ihrerseits mit der VerschĂ€rfung der Sicherheitsvorkehrungen. Sie schweißten neue Streben an die Gitter vor der TĂŒr, so dass man, um ein so großes Loch zu machen, dass ein Mensch durchpasste, mindestens sechs Streben durchzusĂ€gen hatte. Das war unmöglich, ohne dass sie es merkten. Sie brachten an dem Gitter ein zweites gepanzertes Schloss an, mit gesondertem SchlĂŒssel. HĂ€tten wir einen Schließer in unserer Gewalt, konnten wir so nur eine der Zellen öffnen, denn sie kamen zu uns immer nur mit dem zu der jeweiligen Zelle passenden SchlĂŒssel. Das senkte die Chance, eine Geiselnahme zu organisieren, drastisch herab. Um ihre Sicherheit zu garantieren, begruben sie uns lebend. Sie zwangen uns auch zu neuen Röntgenaufnahmen. Dieses Mal brachten sie uns in Handschellen bis in die Krankenstation der Anstalt, etwa zweihundert Meter von der FIES-Abteilung entfernt, wo sie uns auf einen Tisch legten, der mit Ketten ausgestattet war, an die wir an mehreren Stellen festgebunden wurden. Die Schließer gingen dann zu den Ärzten in eine spezielle Kabine, die vor den Strahlen schĂŒtzte. Dann zogen sie uns an und brachten uns zurĂŒck in die Abteilung in andere Zellen. Dabei holten sie uns immer einen nach dem anderen ab, stets unter Bewachung von einem Dutzend Schließer, es sei denn, sie verlegten uns innerhalb unseres Trakts – da waren nur vier Schließer dabei. Wir waren also besser bewacht als die Zentrale einer Großbank. Bei Tag standen wir sogar unter der zusĂ€tzlichen Aufsicht eines Guardia Civil, der mit Sturmgewehr bewaffnet auf einem der Ă€ußeren WachtĂŒrme stand.

Es kam der Monat Oktober. Wir durften immer noch nicht auf den Hof hinaus. Pedro hatte es geschafft, mit einem Anwalt zu sprechen, man hatte den Besuch aber in dem Moment abgebrochen, da er ihm gerade erzĂ€hlen wollte, wie es uns hier erging. Jede Unterhaltung mit den AnwĂ€lten draußen und jeder Brief, der von den FIES-Sonderbedingungen sprach, wurde sofort zensiert. Da das alles mit EinverstĂ€ndnis des Untersuchungs- und Strafvollzugsgerichts Santoña geschah, hatten unsere Anzeigen keine Wirkung und kĂŒmmerten die Behörde nicht. Anfang diesen Monats brachten sie Ernesto PĂ©rez Barrot aus Sevilla 2. Wir redeten, und er erzĂ€hlte, dass die Entwicklung in Sevilla sich ĂŒberschlagen hatte. Auch dort hatte das Gericht auf die FIES-Linie eingeschwenkt. Mit Bedauern nahmen wir zur Kenntnis, dass Juan Redondo in Sevilla in die HĂ€nde der Polizei gefallen war, als er versuchte, einem motorisierten Streifenpolizisten die Waffe zu entwenden. Wir erfuhren auch, dass Ermittlungsverfahren wegen unserer Haftbedingungen eröffnet worden waren, das war ein Hoffnungsschimmer. Die Vorsitzende des Strafvollzugsgerichts Sevilla war aufgebracht ĂŒber die Bedingungen, unter denen sie die FIES-Betroffenen vorgefunden hatte, mit blauen Overalls, ohne Zugang zur Dusche, gefesselt und seit einem Monat nicht rasiert, alle sichtbar misshandelt. Sie wies das Untersuchungsgericht Nummer 9 aus Sevilla an, ein Verfahren zu eröffnen, und unter der Nummer 4.024/91 wurde gegen Antoni AsunciĂłn HernĂĄndez, Gerardo MĂ­nguez Prieto, Antonio de Diego MartĂ­n und Isidoro ColĂłn DurĂĄn wegen verschiedener Verdachtsmomente der Folter ermittelt, wegen unangemessener HĂ€rte, Rechtsbeugung und FĂ€lschung offizieller Dokumente. Die Richterin Elena SĂĄnchez Sevilla hatte beispielhaft gehandelt. Sie war im ganzen spanischen Staat die einzige, die sich in der Lage zeigte anzuzeigen, was die Regierung mit den Gefangenen machte, die auf die FIES-Sonderlisten gekommen waren. Andere Strafvollzugsrichter wie JosĂ© Luis Castro in Valladolid, MartĂ­nez de la Concha in Badajoz und das Gericht in Santander verschwiegen die Situation in den Strafanstalten ihrer Provinzen. Solche Haftbedingungen konnten nur mit eindeutiger UnterstĂŒtzung der Gerichte aufrechterhalten werden. Mit etwas mehr WĂŒrde wurden in Sevilla StaatsanwĂ€lte tĂ€tig, was einem Schrei zum Himmel gleichkam, und zeigten sich wĂŒtend, als die Angeklagten Antoni AsunciĂłn und Konsorten auf Kaution freikamen, mit zwanzig Millionen Peseten aus staatlichen Kassen, aus den Sonderfonds, die noch berĂŒhmt werden sollten. Der damalige Generalstaatsanwalt Eligio HernĂĄndez wies seine Untergebenen an, die Anklagen gegen die Mitglieder der PSOE fallen zu lassen. Da sie nicht unabhĂ€ngig arbeiten konnten, sahen sie sich gezwungen, der Anweisung Folge zu leisten. Der an den Ermittlungen beteiligte Staatsanwalt Luis FernĂĄndez ArĂ©valo zog allerdings fĂŒr die Leitung der Strafvollzugsbehörde bedrĂŒckende Schlussfolgerungen, wie in dem Schriftsatz nachzuvollziehen ist, den er am 8. Januar 1992 an das Untersuchungsgericht Nummer 9 in Sevilla richtete.

Ein paar Tage nachdem Barrot nach El Dueso gekommen war, brachten sie Juan Redondo. Er erzÀhlte uns, dass man FIES in Sevilla 2 verboten und die dort Einsitzenden in alle Richtungen verstreut hatte, um die richterliche Anweisung zu unterlaufen. Juan kam zu uns nach El Dueso, die anderen entweder nach Villanubla oder Badajoz.

»Was gibt’s, Juan?« begrĂŒĂŸte ich ihn.

»Hier bin ich, wieder eingesperrt. Wie geht es dir?«

»Gut. Haben sie Röntgenbilder von dir gemacht?«

»Ja, sie haben mich gleich als ich kam in die Krankenstation gebracht und mich mit zwei Paar Handschellen an die Ketten dieses Röntgentisches gefesselt.«

»Von uns haben sie auch welche gemacht. Sie wiederholen das ungefÀhr alle vierzehn Tage. Bis jetzt jedenfalls.«

Mittels geheimer Zeichen teilten wir Juan mit, dass es im Trakt zwei SĂ€gen gab, und dass wir Pedro zufolge, der die Anstalt am besten kannte, durchaus etwas versuchen konnten. Er bekundete sofort seine Absicht mitzumachen.

Einmal mehr wurden wir in andere Zellen verlegt, und ich bekam die erste, das heißt die, die neben der Wachstube lag. Juan und Pedro brachten sie in die zwei hintersten. Also waren sie damit an der Reihe, die Fenstergitter durchzusĂ€gen. Sie machten sich an die Arbeit, wĂ€hrend Juanjo und ich Liebeslieder sangen und ordentlich LĂ€rm veranstalteten, damit niemand, der es nicht sollte, die GerĂ€usche der SĂ€gen hören konnte, die sich in die Gitterstreben fraßen. Ich musste darauf aufpassen, wann sich das Gitter am Eingang zum Trakt öffnete und die Schließer hereinkamen, damit meine Genossen es mitbekamen und aufhörten zu sĂ€gen. Wenn das passierte, rief ich Juan ĂŒber das Fenster:

»Hör mal, Juan! Schau, die kleine Möwe da, wie hĂŒbsch sie ist…«

Dann wusste er, dass ich ihn davor warnte, dass ein Schließer kam. Er gab seinerseits Pedro Bescheid:

»Pedro! Sieh mal die Möwe, wie putzig.«

Juanjo machte hĂ€ufig mit bei dieser Arbeit, denn ich hatte noch nie ein gutes Gehör gehabt. Wir hatten unser eigenes Sicherheitssystem, und wenn es einen Ausfall gab, war da immer ein Genosse, der einspringen konnte. An einigen Nachmittagen gingen die Schließer mit einer Ordonnanz auf den Hof unter unseren Fenstern hinaus und fegten ihn. Der ein oder andere Schließer ließ es sich dabei nicht nehmen, geringschĂ€tzig zu uns hinaufzusehen und uns mit psychologischer Munition zu beschießen, wie etwa: »Hier kommt ihr nie wieder raus, es sei denn in einer Kiste aus Kiefernholz.« Wir hinter den vergitterten Fenstern beschrĂ€nkten uns darauf, sie verachtend anzublicken und uns ĂŒber sie aufzuregen, nur unter uns, nicht an sie gewandt – wir lachten und fanden allerhand Kommentare zu Ehren ihrer blödsinnigen Grausamkeit, die sie gar zu gerne zur Schau stellten.

»Lacht nur«, sagten sie sichtlich verĂ€rgert zu uns, »mehr als einer von euch wird bald darum flehen, hier herauszukommen. Wir werden ja sehen, ob ihr in ein paar Monaten immer noch lacht…«

Der Alltag lief immer gleich ab. Wir hatten immer noch keine Nachrichten aus der Außenwelt und trugen diese blauen AnzĂŒge und die Plastiklatschen. Eines Nachmittags verlor Barrot die Kontrolle und zerschlug die Glasscheiben in der Zelle. Er konnte nicht lĂ€nger ohne zu rauchen aushalten und ertrug die stĂ€ndige Einsamkeit und Leere der trĂŒbseligen Zellen nicht mehr, denen jede Spur von Menschlichkeit fehlte. Hinzu kamen die extreme KĂ€lte, die Fesselungen, die tĂ€gliche Durchsuchung und die vollkommene Abschottung von der Außenwelt. Eine starke Gruppe Schließer drang in Barrots Zelle vor, verpasste ihm ein paar KnĂŒppelhiebe und ließ ihn an das Gitter geschlossen zurĂŒck. Dabei blieb es, und einige Stunden spĂ€ter nahmen sie ihm die Handschellen ab. Wir versuchten, ihn zu beruhigen und ihm zu erklĂ€ren, dass die Genossen dabei waren, die Fenstergitter durchzusĂ€gen, und dass es nicht weiterhalf, die Schließer in Aufregung zu versetzen. Und in der Tat machten sich nur wenige Tage spĂ€ter Schließer und Ordonnanzen daran, unsere Fenster mit zusĂ€tzlichen im Beton verschraubten hölzernen Fensterrahmen zu versehen. Sie gingen von Zelle zu Zelle und verlegten uns in der Zwischenzeit in andere. In die fertigen Rahmen setzten sie dicke Scheiben aus Plexiglas mit mehreren Bohrlöchern, die scheinbar die Luftzirkulation ermöglichen sollten. Ich sage scheinbar, denn in Wirklichkeit machten sie sich daran, uns auf unerhörte Weise lebendig zu begraben. Nun ließen sich die Fenster nicht mehr öffnen, und wir kamen nicht mehr an die Gitterstreben. Vor allem aber war nun keine Kommunikation zwischen uns mehr möglich. Sie erachteten es als notwendig, uns voneinander abzuschotten und zu verhindern, dass die menschliche WĂ€rme, mit der wir uns einander zuwandten und die langen, immer herzlichen GesprĂ€che, die wir fĂŒhrten, uns Kraft zum Widerstand gegen unsere UnterdrĂŒckung gaben. Nach dieser Strategie hatte uns in jedem Moment unseres Aufenthalts in El Dueso das Leiden unter der Isolation voll bewusst zu sein, damit wir nachgaben, psychisch zu Grunde gingen, uns in uns selbst zurĂŒckzogen. Unser Geist sollte zerstört werden.

Als die Plexiglasscheiben in den Zellen, in denen wir gesessen hatten, fertig angebracht waren, kamen alle meine Genossen zurĂŒck in ihre Kerker. Nur mich ließen sie dort, wo ich war, denn die Arbeit an der fĂŒr mich vorgesehenen Zelle war noch nicht abgeschlossen. Wir hörten uns kaum, wenn wir miteinander sprachen und mussten schreien, um uns zu verstĂ€ndigen. Wir vereinbarten, die Scheiben kaputtzumachen. Sofort nach diesem Beschluss waren laute SchlĂ€ge in der Galerie zu hören. Ich war sehr aufgeregt, wie meine Genossen wohl auch. Die Plexiglasscheiben gaben bald nach, und große StĂŒcke Plastik landeten auf dem Hof. Als die Schließer in die Galerie kamen, war schon kein Fenster mehr ganz. Sie erschienen im Schutz ihrer Schilde und Helme und waren mit Schlagstöcken bewaffnet. Ihnen saß offensichtlich ein Kloß im Hals. Unsere plötzliche und unerwartete offen subversive Reaktion hatte sie tatsĂ€chlich schwer beeindruckt. FĂŒr sie war keine andere Reaktion denkbar, als dass wir unter der Lawine an Druckmitteln, die man ĂŒber uns rollen ließ, klein beigaben. Die Schließer gingen von Zelle zu Zelle und schlossen meine Genossen an die TĂŒrgitter, schlugen sie aber nicht. Als sie weg waren, redete ich mit ihnen.

»Juan, was ist passiert?« fragte ich.

»Sie haben mich an das Gitter geschlossen, aber bleib ruhig. Das Plexiglas ist kaputt…«

»Hier auch«, warf Pedro ein. »Ich habe das Waschbecken dagegen gerammt.«

»Bist du auch gefesselt?«

»Ja.«

»Und du, Juanjo?«

»Ich auch. Das Plexiglas ist kaputt. Jetzt können sie es neu kaufen«, er machte sich darĂŒber lustig.

Barrot war vor einigen Tagen zu einem Prozess in die Anstalt Ocaña gebracht worden. Er hatte die Party verpasst. Stunden nach diesem Vorfall entschied ich, aus Protest gegen die Fesselung meiner Genossen meine Zelle kaputtzuschlagen. Ich riss das Fenster aus seinem Rahmen und trat das Waschbecken von der Wand. Dann schlug ich damit auf das TĂŒrgitter ein, um zu provozieren, dass die Schließer auftauchten. Es kam eine ganze Horde unter FĂŒhrung des Dienstleiters. Sie öffneten die TĂŒr.

»Was ist jetzt schon wieder los, Tarrío?« wandte sich der Dienstleiter an mich.

»Nehmen Sie meinen Genossen die Fesseln ab«, bat ich ihn.

»Na klar, und ihr macht munter so weiter, nicht?«

»Nein. Sie haben die Plexiglasscheiben zerschlagen, weil das eindeutig zu weit geht, und das wissen Sie. Ansonsten wollen wir keine Schwierigkeiten.«

»Zuerst lÀsst du das Fenster los und lÀsst dir Handschellen anlegen. Ich werde die Angelegenheit dann besprechen. Ich gebe dir mein Wort, dass ich euch allen vier noch vor dem Abendessen die Handschellen wieder abnehme. Einverstanden?«

Ohne das Gitter zu öffnen, banden sie mich an dessen eiserne Streben und schlossen dann die TĂŒr. Juan rief mich:

»Was hat er gesagt?«

»Dass er uns vor dem Abendessen die Fesseln abnimmt.«

»Uns allen?« fragte Juanjo.

»Das hat er jedenfalls gesagt.«

Und er hielt sein Wort. Vor dem Abendessen nahmen sie meinen Genossen die Handschellen ab und fĂŒhrten sie in andere Zellen. Dann war ich an der Reihe. Sie gaben uns zu Essen, und wir unterhielten uns angeregt von Fenster zu Fenster und warfen den Möwen FleischstĂŒckchen zu, um die die gefrĂ€ĂŸigen Viecher mit lautem Schnattern balgten.

»Mann, das sind verkleidete Geier«, sagte ich zu Juan, beeindruckt von der GefrĂ€ĂŸigkeit der Vögel.

»Nein, nein«, lachte er, »das sind ganz herzliche Geschöpfe.«

Am nĂ€chsten Morgen kamen die Zimmerleute und nahmen die Fensterrahmen ab. Das machte uns Mut. Die Zellenwechsel brachten allerdings mit sich, dass Juan und Pedro nun von vorne anfangen mussten, ihre Fenstergitter anzusĂ€gen. Wir beschlossen, damit ein paar Tage zu warten, bis sich die Schließer beruhigt hatten und Gras ĂŒber diesen Zwischenfall gewachsen war.

An einem dieser Tage erhielt ich einen Brief, mit zwei Monaten VerspĂ€tung. Er war von Ana und enthielt auch einige Fotos. Als er ihn mir ĂŒbergab, sagte der Schließer:

»Wenn Sie den Brief gelesen haben, hole ich ihn wieder ab. In der Zelle dĂŒrfen keine Briefe behalten werden.«

Ich antwortete nicht auf diese Gemeinheit und las den Brief meiner Freundin. Sie wollte zu Besuch kommen, wozu wir die Erlaubnis des Strafvollzugsrichters benötigten. Ich sah mir ihre Fotos an: Sie saß in einem Garten auf grĂŒnem Rasen und war so schön wie frĂŒher. Ich liebte sie ohne Zweifel und wollte sie bald sehen. Als ich den Brief zu Ende gelesen hatte, machte ich mich sofort daran, eine Antwort zu schreiben. Dann setzte ich einen Brief an das Gericht auf, in dem ich beantragte, sie sehen zu dĂŒrfen. Ich legte mich auf die Metallplatte, die als Bettgestell diente, und mit dem zusammengerollten Handtuch als Kissen lag ich da, betrachtete die Fotos und ließ mich von meinen GefĂŒhlen wiegen.

Zum Mittagessen verlangte der Schließer, der mir den Brief gebracht hatte, dessen Herausgabe. SelbstverstĂ€ndlich weigerte ich mich. Der Schließer wurde wĂŒtend und drohte mir:

»Wenn Sie mir den Brief nicht geben, kommen wir hinein und holen ihn uns.«

Ich holte mir das Essenstablett und stellte es auf die Bettplatte. Dann zerriss ich den Brief und die Fotos vor seinen Augen in kleine StĂŒcke, warf alles in den Abort und drĂŒckte auf die SpĂŒlung. Ich sah zu, wie diese Fetzen aus meinem Leben im Abfluss verschwanden und sagte zu dem Schließer:

»Da hast du ihn.«

»Sie haben einen Verweis«, sagte er und schlug die TĂŒr zu.

Ich nahm das Tablett und aß im Stehen am Fenster. Die Möwen auf dem Hof hatten sich vor Juans Fenster versammelt – er gab ihnen am meisten zu essen. Die Möwen liebten ihn. Es schien, als ob sie ihn von uns anderen unterschieden, worĂŒber wir uns lustig machten: »Eh, Juan, die Möwen rufen dich.« Ihm gefiel es, sie »die Wesen« zu nennen, vielleicht, um ihnen einen menschlicheren Anstrich zu geben als den eigentlichen Menschen. Und in der Tat konnte weder Juan noch sonst jemand von uns sich eine Gruppe Möwen vorstellen, die eine andere ins GefĂ€ngnis sperrte und sie Tag fĂŒr Tag folterte, die ihr eine Matratze vorenthielt, eine Decke oder gar den Brief eines geliebten Wesens.

Barrot kam von seinem Prozess zurĂŒck und bestĂ€tigte, dass in Badajoz, Valladolid und JaĂ©n Ă€hnliche Bedingungen eingefĂŒhrt worden waren, wie sie fĂŒr uns hier in El Dueso galten. Die meisten Ausbrecher und AufstĂ€ndischen waren davon betroffen, und wir kannten sie alle persönlich. Allerdings waren unsere Bedingungen etwas anders, was die Sicherheitsmaßnahmen und den psychischen Druck betraf. Wir waren fĂŒr die jĂŒngsten libertĂ€ren Aktionen verantwortlich, die das grĂ¶ĂŸte Echo in Medien und Gesellschaft gehabt hatten. Deshalb hatte die Behörde uns ausgesucht, um an uns vor den anderen Gefangenen ein Exempel zu statuieren: Wir mussten uns fĂŒgen und es ĂŒber uns ergehen lassen… oder die Geduld verlieren und an die Decke gehen. Immer noch kamen wir nicht auf den Hof hinaus, hatten keinen Besuch, hatten die blauen Overalls und die Plastiklatschen an. Sie gaben uns nur ein paar BlĂ€tter Papier und die Mine eines Bic-Kugelschreibers. Wir durften keine BriefumschlĂ€ge und Briefmarken haben. Wenn wir einen Brief nach draußen bringen wollten, mussten wir ihn auf ein Blatt Papier schreiben und ihn abgeben. Die Schließer versahen ihn dann mit Umschlag und Briefmarke und er erreichte den EmpfĂ€nger mit etwas GlĂŒck zwei Monate spĂ€ter.

Wir mussten den ganzen Tag in diesen leeren Kerkern verbringen, und das war schwer zu ertragen. Wir hatten keinen anderen Zeitvertreib, als auf papiernen Brettern Schach zu spielen oder ein Buch zu lesen. Das war es, was uns am meisten half, unsere Lage zu ertragen. Nie hatte der Spruch mehr Sinn gehabt als hier, nach dem die BĂŒcher offene »Fenster zur Welt« sind. Im ĂŒbertragenen Sinn brachen wir durch diese Fenster aus und ertrugen so die Isolation. Es gab lange Stunden der Stille, einer brutalen, hoffnungslosen Stille, die die Galerie in eine dĂŒstere Stimmung tauchte und die uns klarmachte, was wir ohnehin nicht vergessen konnten: Wir waren lebendig begraben in GrĂŒfte aus Beton. Dann kam der Gedanke, alles kaputtzuschlagen und zu schreien. Schreien, damit die Welt wusste, dass wir trotz allem noch am Leben waren und unser kĂ€mpferischer Geist intakt.

In ihrem andauernden Bestreben, uns alles zu nehmen, gingen die Schließer von Zelle zu Zelle, montierten die Waschbecken und WasserhĂ€hne ab und ersetzten letztere durch transparente PlastikschlĂ€uche, die in der Wand steckten, direkt ĂŒber dem ebenerdigen sogenannten arabischen Abort der Marke »stell dich auf die Tritte und ziele«. Wasser trinken oder das Gesicht waschen bedeutete, sich ĂŒber das Loch zu hĂ€ngen, durch das die Exkremente verschwanden. Bei Gelegenheit fĂŒhrte das dazu, dass wir unfreiwillig die ganze Zelle unter Wasser setzten, denn wenn wir den Knopf an dem Wasserhahn-Schlauch drĂŒckten, kam auf Höhe ein Meter dreißig ein Wasserstrahl aus der Wand, der auf den Abort hinab und von dort in die Zelle spritzte. Da wir keinen Eimer und nichts zum Wischen hatten, blieb das Wasser auf dem Boden bis zum nĂ€chsten Tag, an dem man uns einen Wischmopp mit einem nicht zwei Handbreit langen Stiel ĂŒbergab. Der Eimer zum Auswringen stand auf der Außenseite des TĂŒrgitters. Wir hatten keinen Stuhl und keinen Tisch, um uns zum Essen, Lesen und Schreiben hinsetzen zu können. Jede einzelne Geste und Handlung, die unter anderen UmstĂ€nden normal gewesen wĂ€re, erinnerte uns an die Besonderheit unserer Situation, sogar fĂŒr GefĂ€ngnismaßstĂ€be. Zum FrĂŒhstĂŒck, zu Mittag und zum Abendbrot wiederholte man uns monoton die immer gleiche Botschaft: Wir waren es nicht wert, auf einem Stuhl zu sitzen und am Tisch zu essen. Wenn wir etwas trinken wollten oder uns morgens das Gesicht waschen, erinnerte man uns daran, dass der Abort es war, den wir zu diesen Verrichtungen verdient hatten.

Wenn sie sich wie Tiere auffĂŒhren, behandeln wir sie eben wie Tiere, dachten sie. Dagegen ist es vielmehr so, dass man von einem Menschen, den man derart brutal behandelt, kein normales Verhalten erwarten kann. Die Behandlung, die man uns angedeihen ließ, ließ uns bloß die Menschlichkeit der Henker als nicht existent betrachten. Obendrein nahmen sie dir die wenigen Briefe, die dich erreichten, und drohten dabei, dir keine weitere Post auszuhĂ€ndigen, falls du dagegen protestiertest. Als der Schließer mir den Brief von Ana wegnehmen wollte, war ich so frech gewesen und trug jetzt genau diese Konsequenz. Was sie am meisten schmerzte war, dass wir in ihren Augen die WĂŒrde desjenigen verkörperten, der sich niemals unterwirft und dem Henker direkt in die Augen sieht, mit dem Ausdruck von Stolz und Freiheitswillen. Sie konnten uns einsperren, doch sonst nichts; sie konnten die SchlĂŒssel im Schloss herumdrehen, zehn Riegel davorschieben, die Gitterstreben verdoppeln, uns foltern und beschimpfen… doch sonst nichts. Das frustrierte sie: Sie wollten uns entwĂŒrdigt und flehentlich am Boden kriechen sehen, ohne Persönlichkeit, geistig und emotional am Ende.

Anfang November wurden neue Röntgenaufnahmen gemacht, wobei Juan und Pedro zusammengeschlagen wurden. Wir nahmen die Arbeit an den Fenstergittern wieder auf, und es wurde wieder gesĂ€gt. Wir fĂŒhrten unter uns ein altes System der Kommunikation ĂŒber Kryptographien aus Buchstaben und Zahlen ein, das aus dem Zweiten Weltkrieg stammte. Hatte man den SchlĂŒssel nicht, der aus zehn Zeichen bestand, konnte man die Nachricht nicht entziffern, auch wenn das zugrunde gelegte logische System bekannt war. Das war Ă€ußerst sicher, und man konnte es mit unseren Schachspielen verwechseln, bei denen wir ebenfalls Buchstaben und Zahlen verwendeten, die die Koordinaten der SpielzĂŒge angaben. Die Schließer hatten keine Ahnung von unseren Unternehmungen, obwohl sie sehr aufmerksam waren.

Eines Morgens gingen sie daran, Elektrokabel fĂŒr eine Überwachungskamera zu verlegen, die auf der Außenmauer platziert und auf unsere Fenster gerichtet war. Über jedes Fenster malten sie eine große Nummer, um diese von der Wachstube aus auf dem Bildschirm schnell und zweifelsfrei identifizieren zu können. Die Genossen mussten sich beim SĂ€gen beeilen, wenn sie an ihrem Plan festhalten wollten.

In denselben Wochen beschlossen sie auch, uns auf den Hof zum Spazieren zu fĂŒhren und uns zusĂ€tzliche Anstaltskleidung auszuteilen, denn es wurde empfindlich kalt. Wir bekamen jeder eine Hose, ein Hemd, einen Pullover und eine Cordjacke. Die Overalls wurden eingesammelt. Diese Lumpen waren sehr unbequem. Ein Dienstleiter und mehrere Schließer kamen, um mit mir zu reden.

»TarrĂ­o, von heute an werden Sie auf dem Hof spazieren gehen«, teilte mir lĂ€chelnd der Chefschließer mit.

»Und die anderen?« fragte ich ihn.

»FĂŒr den Anfang erstmal Sie, und wenn Sie sich benehmen, werden wir auch die anderen hinauslassen. Sie werden nur fĂŒnfzehn Minuten hinauskommen und eine gelbe Hose tragen. Sie dĂŒrfen die weiße Linie, die ihren Bereich markiert, nicht ĂŒbertreten. Verstanden?«

»Ich verzichte auf den Hofgang.«

»Wie bitte?«

»Unter diesen UmstĂ€nden gehe ich nicht auf den Hof. Nicht, bis es fĂŒr uns alle gilt.«

»Na gut, umso schlechter fĂŒr Sie…«

Sie schlossen die TĂŒr und redeten mit meinen Genossen, von denen sie dieselbe Antwort bekamen. Sie gaben nach. Wir akzeptierten die Geschichte mit der weißen Linie nicht, also entfernten sie sie. Wir kamen einer nach dem anderen fĂŒr eine Stunde auf einen kleinen Hof, der von keinem Zellenfenster aus eingesehen werden konnte. Wer Sport trieb, nutzte die Zeit fĂŒr LangstreckenlĂ€ufe; die anderen gingen einfach spazieren und entluden so einen Teil des Drucks aus drei ununterbrochenen Monaten in der Zelle. Wir mussten lange gelbe Sporthosen tragen, damit wir, falls wir versuchten, ĂŒber die Mauer zu springen, ein gut auszumachendes Ziel fĂŒr die Guardia Civil abgaben. Das galt wĂ€hrend der Stunde Hofgang, den Rest des Tages verbrachten wir in die Zellen gesperrt und in den Cordjacken. Neuerdings beließ man uns die Matratze und die Decken.

Als Juan und Pedro damit fertig waren, die Fenstergitter anzusĂ€gen, war die Überwachungskamera, die wir den »Inquisitor« getauft hatten, noch nicht angeschlossen. Deshalb beschlossen wir, am selben Nachmittag noch zu handeln. Pedro hatte nicht gut genug gesĂ€gt, und die Gitterstreben gaben nicht nach. Wir verschoben den Ausbruch um eine Stunde, damit Pedro den Fehler korrigieren und weitersĂ€gen konnte. Eine Stunde spĂ€ter zog er an dem Gitter, und die Eisen gaben unter großem LĂ€rm nach. Die Schließer bemerkten es und kamen in die Galerie. Sie sahen durch die Guckfenster in den TĂŒren, was los war. Die einen liefen und holten VerstĂ€rkung, und andere versuchten, Pedro Handschellen anzulegen.

Juan verlor keine Zeit und verließ seine Zelle durch das Fenster. Es war aussichtslos fĂŒr ihn, ihm blieb nichts als auf das Dach zu steigen und sich zu verschanzen. Er stieg bis auf den Hof ab, trat vor mein Fenster und warf mir eine aus Bettdeckenstreifen geflochtene Leine zu. Ich ergriff deren Ende und band es an das Gitter. Er kletterte an der Leine zu meinem Fenster hoch, hĂ€ngte sich von dort aus an einen Mauervorsprung und kletterte aufs Dach. »Ánimo!« sagte ich zu ihm als er an meinem Fenster vorbeikam. Er gab mir zwei Klapse auf die Hand, mit der ich zusĂ€tzlich zum Knoten das Seil festhielt, und verschwand bewaffnet mit einem Eisen hoch auf das Dach. Die Schließer hatten in der Zwischenzeit angefangen, uns alle an die TĂŒrgitter zu schließen. Aus SolidaritĂ€t mit meinem Genossen schlug ich meine Zelle kaputt, bevor sie mich fesselten. Die Schließer waren völlig durchgedreht, ich leistete keinen Widerstand. Juan fing an, mit dem Eisen die Dachziegel kaputtzuschlagen und den Gefangenen zweiten Grades, die auf dem Ă€ußeren Hof herumliefen, zuzurufen: »Zur Hilfe, hier foltert man uns!«

Wir konnten die SchlĂ€ge der Eisenstange gegen die Dachschindeln hören. Die anderen Gefangenen beachteten die Rufe Juans nicht weiter und beschrĂ€nkten sich darauf, den Ablauf dieses kleinen Aufstands mitzuverfolgen. Eine Gruppe Guardias Civiles kam in die Anstalt und man forderte Juan dazu auf, vom Dach herunterzukommen. Es erschien auch der Direktor, ein ĂŒbler Schuft, den wir unter seinem Nachnamen Moreta kannten, und versuchte, mit unserem Genossen zu verhandeln. Er versprach, ihn nicht zu schlagen, und mit der Zeit Hafterleichterungen. Juan hatte keine andere Wahl und stellte sich. Er wurde in die Zelle gebracht und wie wir anderen gefesselt. Dann brachten sie Juanjo und Barrot in Zellen im Untergeschoss und ließen sie dort ungefesselt, wĂ€hrend wir drei, Juan, Pedro und ich, mit den HĂ€nden hinter dem RĂŒcken gefesselt blieben. So wollten sie uns trennen. Juan rief mich:

»José, bist du auch gefesselt?«

»Genau wie du«, antwortete ich.

Wir redeten mit Pedro und trösteten ihn. Er brauchte sich nicht schuldig zu fĂŒhlen. Es war eben so gelaufen, wie es gelaufen war, und wir mussten das akzeptieren und jetzt weitersehen.

Die Nacht war kalt, und Schmerz stellte sich in den Armen ein. Die Folter begann. Wir versuchten hunderte verschiedene Stellungen, ohne Erfolg. Wir konnten nicht aufrecht stehen, uns aber auch nicht richtig hinsetzen, und diese gezwungene Stellung war zusammen mit der KÀlte eine Tortur, die uns zur Verzweiflung brachte. Recht und Gesetz waren in Paragraphen und Artikel gesetzter Terror, das GefÀngnis die mit Blut geschriebene Geschichte von geschundenen und versklavten MÀnnern und Frauen.

Im Morgengrauen kam eine Gruppe Schließer in Begleitung des Direktors in die Zelle, in der Juan sich befand, und schlug ihn zusammen. Ich fĂŒhlte Schmerz und wirkliche Angst in meiner dunklen Zelle, als ich die Schreie meines Freundes hörte und die dumpfen Schlagstockhiebe auf seinen Körper. Juanjo hörte alles von seiner Zelle aus und ging ans Fenster, um die Schließer mit allem Möglichen zu beschimpfen. Sie ließen ab von unserem Freund und öffneten die TĂŒr der Zelle, in der ich saß:

»Na, drĂŒcken dir die Handschellen?«

»Ein Bisschen…«, sagte ich erschrocken.

Dann bĂŒckte sich der Schließer, der gesprochen hatte, und ließ sie noch enger einrasten. Der Stahl presste sich in meine Handgelenke.

»Jetzt ist es besser, bequemer, nicht wahr?« Er machte sich ĂŒber mich lustig.

Den Rest der Nacht verbrachten wir so gut wir konnten. Juan hatten sie an FĂŒĂŸen und HĂ€nden mit ledernen Riemen an das Bett gefesselt. Am Morgen wurde der Schmerz unertrĂ€glich, man nahm uns aber die Fesseln nicht ab und gab uns weder FrĂŒhstĂŒck noch Mittagessen. Am Nachmittag ließen sie mich los, und Juan schlossen sie wieder an das TĂŒrgitter, genau wie Pedro. Indem ich wiederholt krĂ€ftig gegen meine ZellentĂŒr schlug, schaffte ich es, mit dem Dienstleiter zu sprechen. Ich verlangte, dass den anderen wenigstens die Handschellen vor dem Bauch angelegt wurden, und drohte ihnen damit, meine Zelle erneut kaputtzuschlagen. Er ging darauf ein. Juan und Pedro wurden die Fesseln nach vorne gewechselt, was ihnen immerhin die gezwungene Stellung ersparte. Sie bekamen auch belegte Brote zu essen. Zwei Tage spĂ€ter ließen sie uns los und holten Juanjo und Barrot wieder hoch in die Galerie.

Wir nahmen unseren Alltag wieder auf. Über einen Lehrer, der sie uns mitbrachte, hatten wir Zugang zu Zeitungen und BĂŒchern. Ich meldete mich bei ihm zum Nachholen des Hauptschulabschlusses an; ich war nur bis zur siebten Klasse gekommen. Sie gaben mir ohne weiteres die SchulbĂŒcher. Der Schmerz lag schon etwas zurĂŒck, doch die Haltung der Gefangenen von El Dueso angesichts der Schreie Juans ging mir nicht aus dem Kopf. Bald sollte ich den Grund fĂŒr diese PassivitĂ€t erfahren. Siebzig Prozent der Bevölkerung der Anstalt El Dueso waren Vergewaltiger und Drogenschieber, wahrer Abschaum. Niemand von denen interessierte sich dafĂŒr, was hier vorging, obwohl eigentlich alle Bescheid wussten. Unsere Lage war in allen GefĂ€ngnissen des spanischen Staats durchaus bekannt, doch niemand unternahm etwas. Diejenigen, die von Freundschaft, Kameradschaft und Kampf geredet hatten, verschwanden und tauchten in der Masse unter, um nicht weiter aufzufallen. Die Situation verlangte einen Volksaufstand in den GefĂ€ngnissen, um die geforderten Verbesserungen zu erstreiten. Doch niemand wollte mehr etwas von APRE(r) wissen oder von solidarischem Kampf. Die Behörde hatte ihr Ziel erreicht: Uns von den ĂŒbrigen Gefangenen zu trennen und ihnen an unserem Exempel die Angst in die Knochen zu treiben. Und wirklich hatten sie gute GrĂŒnde, sich vor dem hier zu fĂŒrchten. Wer wĂŒrde sich nicht vor der Stunde Ă€ngstigen, zu der er zusammengeschlagen wird, davor, tagelang an ein TĂŒrgitter gefesselt zu sein und Schmerz und KĂ€lte zu ertragen? Uns setzte das auch zu, uns vor allen anderen.

Am 30. freuten wir uns ĂŒber eine Neuigkeit, und wir kamen uns fast gerĂ€cht vor. Wir lasen es in der Zeitung, es war geschehen in der Strafanstalt Huesca: Manuel JesĂșs Castillo Jurado und Carlos Manuel Esteve GarcĂ­a hatten fĂŒnf Schließer, einen Lehrer und einen Dienstleiter in ihre Gewalt gebracht. In den Verhandlungen forderten sie die Bereitstellung eines Autos am GefĂ€ngnistor und freies Geleit. Das wurde abgelehnt, und Carlos M. Esteve verpasste dem Dienstleiter dreißig Messerstiche. Damit er ihn nicht endgĂŒltig umbrachte, versprach man die Bereitstellung des Autos am Tor. Die zwei Gefangenen erlaubten also, dass man den Dienstleiter ins Krankenhaus brachte und nahmen die Verhandlungen wieder auf. Der Anstaltsdirektor Otal Tolosama stellte seinen eigenen Wagen mit vollem Tank zur VerfĂŒgung, ließ das Tor zur Straße öffnen und erlaubte ihnen die Flucht. Mit je zwei Geiseln vor sich kamen sie einer nach dem anderen heraus, setzten sich in das Auto und fuhren davon. Als sie frei von Verfolgern waren, ließen sie ihre Geiseln los, ohne ihnen ein Haar zu krĂŒmmen. Sie hatten es geschafft! Sie hatten die Behörde schön an der Nase herumgefĂŒhrt. Wir gaben der Aktion dieser beiden Mutigen unseren Beifall, feierten ihren Ausbruch und unterhielten uns darĂŒber von Fenster zu Fenster. Juan und ich hatten Carlos Esteve im GefĂ€ngnis kennengelernt. Als der Gefangene der GRAPO Manuel Sevillano im Verlauf seines Hungerstreiks im GefĂ€ngnis gestorben war, waren Juan und Esteve die einzigen gewesen, die mit einem Transparent auf das Dach stiegen und gegen die Folter demonstrierten, die diese politischen Gefangenen damals erlitten.

Die Medien taten die Aktion von Huesca als die eigenstĂ€ndige Tat zweier blutrĂŒnstiger Psychopathen ab. In Wirklichkeit war diese Aktion jedoch weit mehr als ein Ausdruck von Geisteskrankheit gewesen, grausam wie das System, das sie hervorgebracht hatte. Die beiden entflohenen StrĂ€flinge waren AIDS-Kranke, die vor dem sicheren Tod im GefĂ€ngnis flohen. Sie wollten in Freiheit sterben, und das war etwas, das die Verwaltung ihnen niemals zugestehen wĂŒrde.

Im GefĂ€ngnis gab es fast 35.000 Gefangene, die TrĂ€ger des AIDS-Virus waren. Ein Großteil starb in Haft, viel mehr, als es die Behörde eingestand. Man schönte die Statistik und entließ die Kranken zwei Tage vor dem Tod. Oder – es sind FĂ€lle bekannt – man entließ sie aus der Haft, wenn sie schon tot waren, indem man der Leiche die FingerabdrĂŒcke abnahm, damit sie zum amtlichen Todeszeitpunkt nicht mehr als Haftinsasse gefĂŒhrt war. Die Pflegestationen der JustizvollzugskrankenhĂ€user waren voll von Leichen, Haut und Knochen mit eingefallenen Augen, die ziellos auf den Fluren umherirrten und die in Gefangenschaft starben, fern der Liebe der Ihren. Die GefĂ€ngnishöfe waren von Drogen ĂŒberschwemmt, und die HIV-positiven Gefangenen brauchten sich Tag fĂŒr Tag mehr auf, bis sie eines Nachts ins Krankenhaus gefahren wurden und nie wieder zurĂŒckkamen, wenn man sie nicht zum morgendlichen ZĂ€hlappell oder im Trakt auf einem Stuhl sitzend tot fand. Es war furchtbar. Was im GefĂ€ngnis mit den AIDS-Kranken stattfand, ließ einem speiĂŒbel sein.

Im Dezember brachten sie Pedro in die Anstalt Logroño. In El Dueso ging alles weiter wie bisher. Direktor Moreta, dem wir den Spitznamen Mofeta gegeben hatten, und sein Kollege, der leitende Arzt Enrique AcĂ­n, fĂŒhrten weiterhin erzwungene Röntgenbestrahlungen an uns durch. Die Tage verliefen monoton. Die Überwachungskameras wurden fertig installiert, und ĂŒber jedes Fenster malten sie eine Nummer, um uns zweifelsfrei zu identifizieren. Von nun an sandte ein mechanisches Auge, der »Inquisitor«, stĂ€ndig Bilder von allem aus, was sich am Fenster zeigte. Sie schraubten Metallplatten zwischen die Fenster, damit wir uns mittels SchnĂŒren aus Bettlakenstreifen nichts zukommen lassen konnten. Vor die Fenster kamen zusĂ€tzliche mehrfach gekreuzte Gitter. Es war unmöglich sie durchzusĂ€gen, wir konnten kaum die Hand zwischen die Gitter stecken. Immer noch fanden tĂ€glich Durchsuchungen statt, und wir mussten uns zweimal tĂ€glich nackt ausziehen. Wenn wir auf den Hof hinaus kamen, brachten sie uns die gelbe Jogginghose und fĂŒhrten uns in Handschellen mit den HĂ€nden hinter dem RĂŒcken und in Latschen dort hin – jedes Schuhwerk, das uns erlaubt hĂ€tte zu laufen, war verboten. Auf dem Hof nahmen sie uns die Handschellen durch das Torgitter hindurch ab und ĂŒbergaben uns Turnschuhe zum Laufen, die wir dann wieder abgeben mussten, bevor es zurĂŒck in die Zelle ging. Sie erlaubten uns den Betrieb kleiner MittelwellenempfĂ€nger. Ich wiederholte den Stoff der Hauptschule und las Miguel Delibes, Stendhal, Dumas, Homer und andere Autoren, an denen mich ihre packende Art zu schreiben faszinierte. Es war unglaublich, was ein Mensch in totaler Isolation in BĂŒchern finden konnte. Dort lagen neue Welten, in die einen die Kunst des Schriftstellers entfĂŒhrte. Die BĂŒcher waren ohne Zweifel eine hervorragende Methode auszubrechen.

Ich ließ Blutproben nehmen, die bestĂ€tigten, dass ich TrĂ€ger von HIV war. Meine AbwehrkrĂ€fte lagen bei 500 T4, ich konnte also den Quacksalbern zufolge vorerst beruhigt sein: Ich wĂŒrde noch nicht sterben, jedenfalls nicht an AIDS. Die Ärzte kamen regelmĂ€ĂŸig, unser VerhĂ€ltnis zu ihnen war allerdings unterkĂŒhlt und mit einem ĂŒberdeutlichen Hass geladen, der Dialog und menschliches NĂ€herkommen unmöglich machte. Wie konnten wir an die ProfessionalitĂ€t von jemand glauben, der die Folter an uns verschwieg und gegen unseren Willen Röntgenaufnahmen machte? Sie verweigerten uns alles, worum wir baten und machten sich einen Spaß daraus, uns zu verstehen zu geben, dass sie auf der Seite der Behörde standen und diese Haftbedingungen billigten. Sie fĂŒhrten einfach Befehle aus – dieser Gedanke befreite ihre verfaulten Gewissen von allem Zweifel, dies war die Chance auf schnelle Beförderung.

Wir gewöhnten uns an das Zusammenleben mit den Möwen. Zwei von ihnen hatten wir Namen gegeben: »SchwarzfuĂŸÂ« und die »Vermummte«. Juan hatte großen Spaß mit ihnen:

»Juanjo! Sieh mal, die Vermummte, sie will uns wohl ĂŒberfallen…«

»SchwarzfuĂŸÂ« war allerdings die Schlimmste: Sie verbrachte den ganzen Tag damit, sich auf ihre Artgenossen zu stĂŒrzen und mit Schnabelangriffen zu versuchen, den anderen das Fressen zu klauen, den großen silbrigen Möwen, denen wir den Gruppennamen der »Vielfraße« gegeben hatten. Wir hatten Freude daran, ihnen große StĂŒcke Fleisch zuzuwerfen, die sie nicht hinunterbekamen und mit denen sie nicht fliegen konnten, so dass sie auf den harten Betonboden fielen. Dann wĂŒrgten sie das FleischstĂŒck wieder hervor und flogen davon, verstört und erbost darĂŒber, dass sie die Beute nicht hatten mitnehmen können. Sie waren fĂŒr uns ein wichtiger Zeitvertreib.

Ich erhielt einen sonderbaren Brief. Er kam von Ana, einer Sozialarbeiterin, die wir in Teneriffa 2 zur Geisel genommen hatten. Im Brief dankte sie mir fĂŒr meine Menschlichkeit wĂ€hrend der Geiselnahme und dafĂŒr, dass wir niemandem etwas getan hatten, und das nach allem, was man mit uns gemacht hatte. Sie bat mich um Entschuldigung dafĂŒr, was ich im GefĂ€ngnis alles hatte durchmachen mĂŒssen, und teilte mir zum Abschied mit, sie werde diese Arbeit wahrscheinlich aufgeben. Der Brief gefiel mir, denn die Sozialarbeiterin brachte deutliche Kritik am Strafvollzug zum Ausdruck und wĂŒrdigte unseren Kampf, auch wenn sie mit den Methoden nicht einverstanden war. Ich versuchte, ihr eine Antwort zu schreiben, doch schließlich zerriss ich den Brief. Was sollte ich auch antworten? Wir hatten uns ihnen gegenĂŒber human verhalten, wir hatten uns an niemandem vergangen, uns nicht gerĂ€cht, und womit bekamen wir es dagegen zu tun?

Ende des Monats wurden Carlos Esteve und Manuel Castillo, sein Genosse auf der Flucht, in Barcelona verhaftet. Die GEOS stĂŒrmten die Wohnung. Carlos brachten sie zu uns nach El Dueso, Manuel nach Badajoz. Wir wohnten zusammen den letzten röchelnden AtemzĂŒgen des Jahres 1991 bei.

Der Januar begann mit Repression. Sie ließen Carlos nur in Handschellen auf den Hof, wogegen wir Protest einlegten. Ich verweigerte den Hofgang, und Carlos tat dasselbe. Eines Nachmittags verlangte eine Gruppe Schließer von ihm, nackt Kniebeugen zu machen, und er weigerte sich. Da drangen sie in die Zelle und prĂŒgelten auf ihn ein. Wir alle fĂŒhlten uns völlig ohnmĂ€chtig. Ich beschimpfte sie:

»Arschlöcher! Ihr feigen Folterer!«

Ein paar Schließer kamen bis vor meine TĂŒr:

»Hast du ein Problem, du Schwuchtel?«

»Nein, ich habe keins.«

»Ist auch besser so.«

Ich schwieg, um nicht auch geschlagen zu werden. Juan rief mich:

»Was ist passiert, José?«

»Sie haben Carlos geschlagen.«

»Wie geht es dir, Carlos?« fragten wir ihn.

»Gut. Bleibt ruhig, es waren nur ein paar KnĂŒppel. Alles in Ordnung«, er wollte uns beruhigen.

Wir waren vorsichtig, das ist nicht zu leugnen. Wenn wir an die TĂŒr schlugen, wussten wir, dass eine Horde hereinstĂŒrmen und uns, fĂŒr sie folgenlos, verprĂŒgeln wĂŒrde. Dann mussten wir meistens die Nacht ĂŒber, wenn nicht lĂ€nger an das TĂŒrgitter angeschlossen verbringen, was noch schlimmer war. Ihr Methode beruhte darauf, uns zu spalten, uns mit Schmerzen beizubringen, egoistisch zu handeln und Repressalien zu fĂŒrchten. Schwere Zeiten kamen auf uns zu, schwierige Momente, zu denen wir gemeinsam handeln mussten, wenn wir verhindern wollten, dass sie ihr Ziel erreichten und uns kapputtmachten.

Das Essen war wie in allen GefĂ€ngnissen: beschissen. Es bestand aus Reis, Kichererbsen, Speck und TĂŒtensuppen, vor allem aber aus Kartoffeln. Die Essenszulagen und der Zugang zum Economato waren uns verwehrt; wir litten Hunger.

Ich erhielt die Erlaubnis vom Gericht, meine Freundin Ana zu sehen, doch die Behörde mischte sich ein, und die Direktion rief bei ihr zu Hause an. Man sprach mit ihren Eltern und erzĂ€hlte ihnen, ich sei ein gefĂ€hrlicher Krimineller, der ihre Tochter dazu benutzen wollte, einen Ausbruch zu planen, und dergleichen LĂŒgen. Anas Eltern verboten ihr, zu mir zu kommen. Sie schrieb mir einen Eilbrief, in dem sie mir das mitteilte. Sie wĂŒrde nicht kommen und mir nicht mehr schreiben und wĂŒnschte mir alles Gute. Sie hatten es geschafft, unsere Beziehung zu beenden und den Besuch verhindert. Das schmerzte mich sehr, denn ich hatte von dieser Frau mehr CharakterstĂ€rke erwartet. Juan wusste es, denn wir hatten uns vor Monaten in Teneriffa 2 ĂŒber sie unterhalten. Ich erzĂ€hlte es ihm:

»Kopf hoch, JosĂ©. Ich weiß, dass es schwer ist, du mochtest sie.

Eines Tages werden sie dafĂŒr bezahlen.«

»Ja, eines Tages werden sie fĂŒr alles bezahlen. Aber es ist ihre Haltung, die mir weh tut, Juan.«

»Die Leute sind oft nicht, was sie zu sein scheinen…«

»Ja, so ist es wohl.«

Im Radio hörten wir die Nachricht: Zum Verfahren in Sachen Folter an acht FIES-Gefangenen in der Anstalt Sevilla 2 blieb Antoni AsunciĂłn gegen Kaution auf freiem Fuß. Man erkannte die Existenz der Misshandlungen in den spanischen GefĂ€ngnissen nicht an und bezeichnete uns als unverbesserlich und gleichgĂŒltig gegenĂŒber der Strafe. Wir waren extrem gefĂ€hrliche Gefangene, was die Maßnahme unserer Isolation nötig machte, auf Grundlage geltenden Rechts. Es war sonderbar, doch alle gebrauchten wiederholt diese Vokabel: »Recht«. Lebten wir tatsĂ€chlich in einem Rechtsstaat? Ich glaubte nicht daran. Man sprach von persönlicher Meinungsfreiheit, ich aber konnte mich weder mit Anwalt noch Familie austauschen, es sei denn, ich durchlief eine Zensur, die es mir nicht gestattete, ĂŒber die FIES-Bedingungen zu sprechen. Ebenso galt der Grundsatz der Unschuldsvermutung – es gab aber 13.000 Untersuchungsgefangene, 25% der inhaftierten Bevölkerung. Sie verfaulten in ĂŒberfĂŒllten Kerkern und warteten auf ihren Prozess. Es galt das Recht, eine Haftstrafe in der Heimatregion abzusitzen, um die familiĂ€ren Bindungen nicht zu gefĂ€hrden – in Wirklichkeit mussten die Familienangehörigen Unsummen aus Haushaltsmitteln fĂŒr lange Überlandreisen aufbringen, um ihre Lieben in Gefangenschaft sehen zu können. Sterbenskranke (nicht Tote!) hatten das Recht, sich auf Artikel 60 zu berufen, doch sie starben in einer kalten Zelle oder wurden einen Tag vor ihrem Tod entlassen. Man hatte im Strafvollzug feierlich den Begriff der Resozialisierung proklamiert, wĂ€hrend dieser in Wirklichkeit zum Leprosorium des 20. Jahrhunderts geworden war, zum schaurigen AIDS-Ghetto und zu einer ProduktionsstĂ€tte von Hass und gesteigerter KriminalitĂ€t.

Ich fuhr mit meinen Schulaufgaben fort, die mir nicht schwer fielen. Der medizinische Dienst ĂŒberreichte Juanjo, Juan und mir Brillen, nachdem wir monatelang darum gebeten hatten. Das Lesen und der geschlossene Raum schadeten auf Dauer dem Sehvermögen eines Gefangenen, da waren wir keine Ausnahme. Man verlangte, dass ich Medizin zum Aufbau meiner AbwehrkrĂ€fte schluckte, was ich ablehnte. Wir spielten weiterhin Schach durch die Fenster – die papiernen Spielbretter nahm man uns nicht mehr ab – und unterhielten uns ausgiebig. Wegen des Drucks, der sich in uns aufgebaut hatte, gipfelten diese GesprĂ€che bei Gelegenheit in Diskussionen. Das war logisch, denn wir alle hatten lange Jahre der Isolation auf dem Buckel und das hinterließ seine Spuren. Neurosen und Schizophrenie (keine akuten) waren aufgekommen und bedienten sich dieser gelegentlichen Diskussionen als Druckventil. So konnten wir Adrenalin ablassen und wurden nicht vollends verrĂŒckt.

Sie brachten Pedro aus Logroño zurĂŒck. Wir riefen ihn von unseren Fenstern aus.

»Was hast du erlebt?« fragte ihn Juan.

»Ich habe mich ĂŒber eure Lage beschwert und sie haben mich wieder hierher zurĂŒckgebracht, einfach so.«

»Man sieht, es lĂ€uft gut fĂŒr uns«, mischte ich mich ein. »Und was war dort so los?«

»Das kannst du dir vorstellen, JosĂ©, wie ĂŒberall. Den Leuten ist alles egal, alle wollen nur Drogen und unbedingt eine Besuchserlaubnis. Wer ist noch hier?«

»Dieselben wie vorher, und noch Carlos, der von der Aktion in Huesca, er ist Ende Dezember gekommen.«

»Und wie ist es hier?«

»Wie immer. Jetzt haben wir allerdings eine Matratze, ein Radio und noch ein paar Sachen. Aber jeden Tag gibt es eine Nacktdurchsuchung, außerdem Röntgenstrahlen und sowas…«, klĂ€rte Juan ihn auf.

»Diese Kamera lÀuft jetzt, oder?«

»Ja.«

»Haben sie Röntgenbilder von dir gemacht?« fragte Juan.

»Ja, und sie haben mich geschlagen, als ich mich weigerte.

Schließlich haben sie mich vom Transporter bis in die Krankenstation geschleift, mich an den Tisch gekettet, mich ausgezogen und die Bilder gemacht.«

»Diese Schweine. Waren die Ärzte dabei?« wollte ich wissen.

»Ja, ein Arzt und der medizinische Leiter, dieser Acín.«

»Die alle sollten einen Kopf kĂŒrzer gemacht werden«, sagte Juan.

Dann fragte er Carlos: »Glaubst du, die Möwen fressen die Leiche dieser Sau?«

»Meinst du den medizinischen Leiter?«

»Na klar.«

»In fĂŒnf Minuten haben sie ihn bis auf die Knochen abgenagt.«

»Ha, ha, ha«, wir lachten im Chor.

Die Repression war hart, unsere GesprĂ€che kreisten um den Widerwillen, den wir fĂŒr die Ärzte dieser Anstalt und fĂŒr die Schließer empfanden. Und die wussten das, deshalb machten sie unsere UnterdrĂŒckung zu ihrer persönlichen Angelegenheit. In dieser Lage wurden wir nur brutaler, Tag fĂŒr Tag. Nicht nur wir standen unter großem Druck. Auch die Schließer begannen so zu fĂŒhlen. In unserem hasserfĂŒllten Blick und in unseren erbosten GesprĂ€chen sahen, fĂŒhlten oder wussten sie, dass wir ihnen alles Schlag fĂŒr Schlag zurĂŒckzahlen wĂŒrden, falls sie einmal einen Fehler machten, und sie hatten uns oft geschlagen. Sie hatten trotz der außerordentlichen Sicherheitsvorkehrungen Angst. Was, wenn eines Tages einer dieser VerrĂŒckten die Sicherheitsmaßnahmen umgehen konnte und sie als Geiseln nahm, nach allem, was sie uns angetan hatten? Ihre Furcht ging so weit, dass sie uns das Rasieren nur mit elektrischen Apparaten erlaubten und uns keine Joghurtbecher, GlĂ€ser oder metallene Tabletts ausgaben. Auch dass sie die ZahnbĂŒrsten auf der HĂ€lfte absĂ€gten und uns die Zahnpasta erst bei Abgabe der Essenstabletts herausgaben, sprach eine deutliche Sprache. Selbst wenn Richter oder Gerichtsboten erschienen, um uns Papiere unterschreiben zu lassen oder eine Aussage in irgendeiner Sache abnahmen, holten sie uns nicht aus dem Kerker, sondern ließen den Richter oder Justizangestellten in die Galerie hinaufgehen. Diese befragten uns dann durch die mehrfachen Gitterstreben an den ZellentĂŒren, in Begleitung einer Gruppe Schließer, die uns von der anderen Seite aus verbot, sich dem Gitter zu nĂ€hern. Wir nutzten diese Gelegenheiten, um gegen unsere Haftbedingungen zu protestieren, doch man schenkte dem keine Beachtung:

»Das ist ZustÀndigkeit der Strafvollzugskammer.«

Ich musste an Artikel 24 der spanischen Verfassung denken, der eine wirksame Interessenvertretung vor Gericht garantierte und ausschloss, dass jemand ohne Verteidigung blieb. Wir waren ein Sonderfall. Die StaatsrÀson erforderte, hier alles gelten zu lassen, um uns zu bekÀmpfen. Aber waren nicht eigentlich alle gleich vor dem Gesetz?

Carlos brachten sie schließlich ohne Handschellen auf den Hof, und wir beide beendeten den Hofgangsstreik. Wir sandten Beschwerden an die gerichtlichen Instanzen, ohne Erfolg. Alles wurde entweder sofort eingestellt oder an die Strafvollzugskammer weitergeleitet, was auf dasselbe hinauslief. Die Untersuchungsgerichte, die Provinzialgerichte, die Anwaltskammer, Dekanat und oberster Justizrat, alle, absolut alle beeilten sich, unsere Beschwerden im Archiv verschwinden zu lassen, mit welcher Ausrede auch immer. Niemand wollte etwas von FIES hören, denn es gab Befehle, sich nicht in den schmutzigen Krieg einzumischen, den das Strafvollzugssystem gegen eine Gruppe Vandalen fĂŒhrte, die mit der herrschenden Ordnung gebrochen hatten.

Im Februar gestattete man uns Zugang zum Economato, und ich nahm das Laster des Rauchens wieder auf. Einigen von uns wurde wegen des zerschlagenen Inventars das Hausgeld einbehalten, doch wem sein Hausgeld zur VerfĂŒgung stand, der teilte es gerecht mit den anderen. Wie viel auch immer wir hatten, zu gleichen Teilen verteilten wir es unter uns. In dieser und in manch anderer ĂŒberlebenswichtiger Hinsicht gab es echte SolidaritĂ€t. Der Direktion und den Schließern gefiel das nicht, denn die gegenseitige Hilfe machte uns stark, und sie beschlossen zu verbieten, dass die, die Geld erhielten, es direkt oder in Form von Ware aus dem Economato an diejenigen von uns weitergaben, die nichts hatten. Der Versuch war zu plump: Carlos brachte eine Beschwerde bis vor die Strafvollzugskammer und bekam Recht. Der Richter urteilte, dass man einem Haftinsassen nicht verbieten könne, fĂŒr einen anderen im Economato einzukaufen. Doch bevor dieses Urteil gesprochen wurde, mussten wir uns die Sachen mit Leinen ĂŒber die Fenster zukommen lassen. Wieder einmal erhob sich die Kraft unserer SolidaritĂ€t ĂŒber die Grausamkeit des Strafvollzugs, unter den ungĂŒnstigsten Bedingungen.

Barrot verschloss sich immer mehr in sich selbst und zeigte sich unzugĂ€nglich. Er teilte uns bei Gelegenheit sogar seine Suizidgedanken mit, und auch der Anstaltspsychologin gegenĂŒber machte er entsprechende Kommentare. Die Haftbedingungen mussten Tag fĂŒr Tag ertragen werden, die ZeitrĂ€ume des Schweigens wurden immer lĂ€nger und die Zelle erdrĂŒckte immer mehr. Der Prozess der Brutalisierung war langsam, schritt aber sicher voran.

Mit meiner Gesundheit ging es sichtlich bergab. Trotzdem strengte ich mich an, lief tĂ€glich ein paar Minuten und hielt mich in Bewegung, um dem Abbau entgegenzuwirken. Neue Blutuntersuchungen wurden gemacht, und da die AbwehrkrĂ€fte geschwunden waren, riet man mir zu, Retrovir einzunehmen, was ich ablehnte. Die Medikamente, die es gab, um das Virus aufzuhalten, waren eine Farce, die einzig erreicht hatten, die Gewinne der großen Pharmakonzerne zu erhöhen. Mit Gefangenen wurde auf unerhört brutale Weise herumexperimentiert. Man gab uns eine Medizin, deren Wirkung auf den Organismus eines HIV-Positiven sie nicht wirklich kannten, sie gaben sie dir einfach, als ob es sich um Aspirin handelte. Vor lĂ€ngerer Zeit schon hatte ich beschlossen, keine dieser AIDS-Medikamente einzunehmen. Ich wusste, dass diese Krankheit unheilbar war, und ich wusste, dass der Tod, war es denn erst einmal so weit, unausweichlich war. Ein natĂŒrlicher Vorgang, der Preis, den wir alle eines Tages zu zahlen hatten, um das Fortleben der Spezies zu ermöglichen. Ich stellte mich nicht fĂŒr Experimente von Ärzten zur VerfĂŒgung, die mit der Behörde kollaborierten und die Anwendung von Artikel 60 der Vollzugsordnung auf schwer kranke Gefangene verweigerten.

In diesen Wochen erhielt ich mit mehrmonatiger VerspÀtung eine Mitteilung von der LebensgefÀhrtin meines Freundes Chico. Sie kam mit dem Mittagessen.

Hallo José:

Wie geht es dir? Ich hoffe, dass es jetzt, da dir dieser Brief ausgehĂ€ndigt wurde, gut um deine Gesundheit bestellt ist, und auch um deinen GemĂŒtszustand. Ich bin, wenn ich ehrlich sein soll, am Boden zerstört, versuche aber, wie auch immer weiterzumachen.

Sieh mal, Che: ZunĂ€chst möchte ich dich bitten, mir die VerspĂ€tung dieses Briefes zu verzeihen; du hĂ€ttest ihn schon viel frĂŒher bekommen sollen, aber… glaub mir: Nicht, dass ich es nicht versucht hĂ€tte. Schon nach meiner RĂŒckkehr aus Carabanchel habe ich versucht dir zu schreiben, um dich auf dem Laufenden zu halten. Mir ging es sehr schlecht und ich musste mich bei jemandem ausheulen. Da ich keine geeignete Person fand, griff ich mehr als einmal zum Kugelschreiber und schrieb an dich, schickte die Briefe jedoch nie ab… Ich konnte einfach nicht fassen, was geschehen war. Ich wollte dir auch schreiben, weil ich immer gewusst habe, wie sehr er dich geliebt hat, und weil ich wusste, dass er gewollt hĂ€tte, dass du es von mir erfĂ€hrst, eher als von jemand anderem: Chico ist tot…

Im September, als ich ins GefÀngnis gekommen bin, lag

er einige Tage im Krankenhaus mit einer beginnenden LungenentzĂŒndung. Er bat freiwillig um die Gesundschreibung. Dann verhafteten sie ihn wegen Waffenbesitzes und im Zusammenhang mit einem Überfall auf einen Geldtransport und sperrten ihn ein. Alles ging mehr oder minder gut, doch die LungenentzĂŒndung brach aus, und du weisst, wie die Dinge hier laufen, Grippemittel gegen alles. Zwei Wochen lang lag er mit vierzig Fieber und sie beachteten ihn nicht weiter, bis er einen roten Ausschlag bekam und sie beschlossen, ihn ins Krankenhaus einzuliefern. Zu spĂ€t, es ging ihm schon so schlecht, er ließ sich gehen. Es gab zusĂ€tzliche Komplikationen mit einer Niere, die nicht mehr funktionierte. Einen Monat lag er im Krankenhaus, und dann gestanden sie ihm Artikel 60 zu, doch er war schon halbtot. Seine Mutter nahm in mit nach Hause, und eines Morgens wachte er völlig aufgedunsen auf, sie brachten ihn im Krankenwagen in die Klinik, wo er mit Blut in der Lunge starb…

Was seine Sterbebegleitung angeht: Traurigerweise war niemand dort, außer meiner Familie und seiner, sonst niemand. Das tut mir weh, allein der Gedanke schmerzt mich, denn er hatte das nicht verdient, er nicht. Sie erschienen nicht einmal zur Beisetzung, ließen sich nicht blicken, der Rothaarige nicht, nicht Pris, nicht Barato, nicht Nacho, niemand von denen… Ich wĂŒrde dir gerne mehr erzĂ€hlen, doch es schnĂŒrt mir die Kehle zu. Ich kann nicht mehr, ich hoffe du verstehst das und verzeihst mir.

In Liebe, deine Landsfrau Sandra.

Schon als Junge hatte ich eine Vorstellung von Banditentum und fand es wunderbar. Nach dem Internat, wo ich schon Rebellion an den Tag gelegt hatte, gab es fĂŒr mich nur einen Weg: diesen. Die Vorstellung, ein richtiger Verbrecher zu sein, faszinierte mich. FĂŒr mich war dieser Beruf etwas Bewundernswertes, dem alle Welt ihren Respekt zollen wĂŒrde. Zusammen mit anderen jugendlichen StraftĂ€tern nahm ich meinen Werdegang als Gesetzloser in Angriff, und meine Freunde und ich umgaben uns mit MĂ€dchen. Es machte mir Spaß. Ich war weit davon entfernt zu verstehen, dass wir in einer Phantasiewelt lebten. Eine Zeit lang schien sie uns real, doch bald sollte sich diese Vorstellung auflösen und der kruden RealitĂ€t Platz machen: Es war eine verbotene und verfolgte Lebensform. In dieser Welt hatte ich zusammen mit Eduardo Baptiste Álvarez und mit Isabel richtige HöhenflĂŒge erlebt. Was die anderen Beteiligten anging, so war alles bloßer Schein und Eigeninteresse gewesen. Langsam aber sicher löste sich die romantische Vorstellung, die wir von dieser Welt hatten, in Drogen auf, und ich lernte, wie schĂ€big die Menschheit sein konnte. Deshalb ĂŒberraschte mich dieser Brief nicht, in dem man mir mitteilte, dass mein Freund tagelang in einem Krankenhausbett gelegen und mit dem Tod gerungen hatte, ohne dass seine angeblichen langjĂ€hrigen Freunde sich dazu herabgelassen hĂ€tten, ihn zu besuchen, ihm Gesellschaft zu leisten, sich von ihm zu verabschieden. Ich verstand und teilte den Schmerz seiner LebensgefĂ€hrtin, bei mir allerdings wurde dieser Schmerz zu Hass. Viele dieser Leute, die ich fĂŒr ehrbar und mutig gehalten hatte, stellten sich als simple Geizkragen und schĂ€bige Egoisten heraus. Ihr Verhalten brachte mich auf, und ich wollte mich weigern zu akzeptieren, dass alle so dachten und handelten. FĂŒr mich gab es trotz allem immer noch ein anderes Motiv, das mich dazu bewog, außerhalb des Gesetzes und des verfaulten Systems zu leben: Die WĂŒrde. Die WĂŒrde, aufrecht den Weg zu gehen, den man gewĂ€hlt hat, mit allen Konsequenzen. Die WĂŒrde, sich geirrt zu haben und eigene Fehler einzugestehen. Die WĂŒrde, ein freier Mensch zu sein, der in seinem Herzen noch viel Platz fand fĂŒr Hoffnung und Freundschaft.

In meiner Antwort sprach ich Sandra Mut zu, und als Gruß an den, der mein bester Freund gewesen war, schickte ich mehrere laute Rufe nach draußen; sie sollten meine Blumen bis zu dem Grab dieses Menschen bringen, der gewusst hatte, ein solcher zu sein. Ganz ehrlich, sein Tod raubte ein StĂŒck meiner Seele, und dieser Platz wĂŒrde nun mit der Erinnerung an ihn ausgefĂŒllt sein.

Der MĂ€rz kam mit einer schlechten Nachricht: Juans Vater war gestorben, und man gestattete ihm nicht, in seine Heimat zu reisen, um den letzten Abschied von ihm zu nehmen. In der Zwischenzeit war der Strafvollzugsrichter von Valladolid in den Obersten Justizrat befördert worden; so wollte man seine Kritik an den FIES-Haftbedingungen zum Schweigen bringen, worauf dieser sich einließ. Dasselbe versuchte man bei Manuela Carmena, der Richterin, die die deutlichste Kritik am Strafvollzug geĂ€ußert hatte. Sie wurde zur Vorsitzenden des Gerichtshofs Madrid berufen. Dieser Frau schuldeten wir Gefangenen viel. Sie hatte uns gegenĂŒber Menschlichkeit gezeigt, und genau deshalb hatte man sie aus ihrer Stellung entfernt. Die Behörde rĂ€umte auf, und andere Richter kamen nach, um die freigewordenen Stellen zu besetzen. Entsprechend wurde der Direktor der Anstalt Sevilla 2, Rafael FernĂĄndez Cubero, auf seinem Posten belassen, und dessen Stellvertreter Antonio de DragĂł, direkter Verantwortlicher fĂŒr die Folter in Sevilla 2, wurde zum Leiter der Anstalt Melilla gemacht. Uns bestrahlte man bei immer neuen Röntgenaufnahmen, band uns wieder an die Ketten, die fest an der Liege unter dem Röntgenapparat angebracht waren, nackt. Man gab uns unsere eigene Kleidung und sammelte die StrĂ€flingsanzĂŒge ein. Wenn wir die Zelle verließen, mussten wir uns nach wie vor nackt ausziehen und dann die Plastiklatschen tragen. Wir wurden immer noch auf dem RĂŒcken gefesselt, und die sonstigen Sicherheitsmaßnahmen hielt man ebenfalls aufrecht, außer bei Juanjo, der nun ohne Handschellen auf den Hof hinaus durfte. Man gestand uns TelefongesprĂ€che zu, eines im Monat, wofĂŒr im Flur unserer Galerie neben einem TĂŒrgitter ein Telefon installiert wurde. Wir wurden mit einer Hand an dieses Gitter geschlossen, in der anderen hielten wir den Hörer, den die Schließer uns durch das Gitter entgegenhielten, nachdem sie die Nummer ĂŒberprĂŒft und gewĂ€hlt hatten.

Bei den erniedrigenden Personendurchsuchungen kam es bei Gelegenheit zu heftigen Diskussionen mit den Schließern. Immer noch ließen sie uns zweimal am Tag nackt ausziehen, zum Hofgang und zur Nacht. Auch beim tĂ€glichen Duschen standen wir nackt vor ihnen, ohne jede IntimitĂ€t. Die Post wurde immer noch ewig zurĂŒckgehalten, und die meisten Briefe landeten zerrissen in den Papierkörben der BĂŒros, von denen aus die Anstalt geleitet wurde. Es waren also einige Details der Kleidungsordnung, der HofgĂ€nge und der nach wie vor zensierten Kommunikation geĂ€ndert worden, doch die Grundlage dieser Haftbedingungen war immer noch die Arbeit der erfahrenen Henker – selbst Söhne anderer Henker -, angefĂŒhrt von Antonio Moreta, einem widerwĂ€rtigen feigen Hund. Der typische GefĂ€ngnisdirektor, der sich in seiner Allmacht vor den Gefangenen aufblies und ihnen nicht zugestand, ĂŒber seine Anordnungen hinauszudenken. Der Gefangenenhilfsverein Salhaketa hatte mehrfach seine AnwĂ€lte in unsere Anstalt geschickt, doch man hatte denen nicht erlaubt, mit uns zu sprechen. Tag fĂŒr Tag, Woche fĂŒr Woche, Monat fĂŒr Monat ging das so, und es begann, unter uns seine Wirkung zu entfalten.

Barrot hatte inzwischen ernsthafte psychische und körperliche Probleme. Er zahlte den Preis fĂŒr ein ganzes dem Rauschgift gewidmetes Leben. Seine Leber spielte ihm ĂŒbel mit, was er auf das AIDS-Virus zurĂŒckfĂŒhrte, das er in sich trug. In seiner Lage dachte er stĂ€ndig daran und geriet an den Abgrund der Hoffnungslosigkeit. Er hatte sich mit Juan gestritten, und in sich selbst verschlossen ernĂ€hrte er sein Gehirn und seinen Organismus mit einer Menge Beruhigungsmittel, die ihm die AnstaltsĂ€rzte dreimal tĂ€glich mit dem Essen austeilten. Er wollte aus dieser RealitĂ€t fliehen, die an ihm nagte: Die totale Isolation und der Gedanke an AIDS. Ich wusste aus eigener Erfahrung, was er durchmachte; ĂŒber gewisse ZeitrĂ€ume hatte auch ich auf Beruhigungsmittel zurĂŒckgreifen mĂŒssen, um schlafen zu können, wenn ich an Herzrasen oder außergewöhnlichen AngstzustĂ€nden und Klaustrophobie litt, doch nur zeitweise. Es war ein Fehler, solche Medikation zum Dauerzustand werden zu lassen, denn mit der Zeit bekam diese zu viel Macht ĂŒber einen. Ein Fehler, der Barrot das Leben kosten sollte. Man gab ihm keine NahrungsergĂ€nzung und keine Vitamine oder setzte etwa die mörderischen Röntgenbestrahlungen aus, aber Drogen – Drogen gab man ihm alle, die er verlangte, damit er betĂ€ubt und ruhig blieb. Auf den GefĂ€ngnishöfen lief das genauso: Heroin und alle möglichen anderen Substanzen ließ man frei zirkulieren, damit die inhaftierte Bevölkerung ruhig gestellt war und keine Probleme machte und sie sich um die RealitĂ€t, in der sie lebte, nicht weiter kĂŒmmerte. Wenn es einmal keine Drogen gab, herrschte eine geladene Stimmung und die Gefangenen zeigten sich verstört, deshalb gab es Drogen im GefĂ€ngnis und es wĂŒrde sie immer geben. FIES wurde nicht auf die angewandt, die im GefĂ€ngnis mit Drogen handelten. FIES war fĂŒr diejenigen reserviert, die protestierten.

Mit der Ankunft des April verzog sich die KĂ€lte des Winters und die Stare kamen. Eines Nachmittags las Juanjo in der Zeitung von einem Preis fĂŒr die beste Kurzgeschichte. Wir redeten darĂŒber ĂŒber die Fenster und wollten die ein oder andere ErzĂ€hlung dort einreichen. Doch wir wurden nicht fertig. Juanjo fiel aber ein, ein kleines Buch ĂŒber AusbrĂŒche herauszubringen, er wollte unbedingt etwas schreiben. Er rief uns.

»Was haltet ihr davon, wenn wir uns damit beschĂ€ftigten, ein Buch ĂŒber AusbrĂŒche zu schreiben?« schlug er uns von seinem Fenster aus vor.

»Ich bin einverstanden«, antwortete Carlos.

Ich sprach darĂŒber mit Juan.

»Was sagst du dazu, Juan?« fragte ich ihn.

»Ist mir egal. Schreib ĂŒber unsere Flucht, wenn du willst. Aber erwĂ€hne die Petzerei unter den Gefangenen, damit die Leute auch das mitkriegen und davor gewarnt sind.«

Ich teilte Juanjo mit, dass wir einverstanden waren. Er ĂŒbernahm es, ĂŒber Barrots letzten Ausbruch zu schreiben, und Pedro wĂŒrde seinen eigenen erzĂ€hlen. Wir taten es in erster Linie, um die Zeit herumzukriegen, auch wenn wir schon dachten, dass das Buch eines Tages veröffentlicht werden und uns etwas Geld einbringen könnte. Carlos hatte die Idee, einen der Stare, die sich auf dem Hof gegenĂŒber unserer Fenster ein Nest in einer Mauerecke gebaut hatten, zum ErzĂ€hler zu machen. Wir verbrachten ganze Tage damit, die Kladden fĂŒr das Buch zu schreiben, das einmal AdiĂłs PrisiĂłn heißen und tatsĂ€chlich erscheinen sollte. Ich hĂ€tte damals gerne ein noch ausfĂŒhrlicheres Buch geschrieben. Alles, was sie uns angetan hatten und noch antaten, sollte darin vorkommen, doch das war nicht möglich, denn es hĂ€tte niemals die tĂ€glichen Durchsuchungen unserer Zellen und unserer Habe sowie die Zensur ĂŒberstanden. Eines Tages sollte einer von uns ein vollstĂ€ndigeres Buch herausgeben, in dem SchlĂŒsselsituationen und BeweggrĂŒnde zur Flucht erörtert wĂŒrden.

UnabhĂ€ngig davon schrieb Carlos Gedichte, die ich bei Gelegenheit las. Es war bezeichnend, dass ein Mensch, den die Behörde als unverbesserlichen Bösewicht hinstellte, etwas so feinfĂŒhliges aus seinem Innern zu Papier bringen konnte. Es waren schöne Liebesgedichte oder Verse ĂŒber die Ungerechtigkeit der MĂ€chtigen, die andere unterdrĂŒckten. Ich fuhr mit meinen Studien fort, verarbeitete meine Gedanken und las die BĂŒcher aller möglichen Autoren. Juanjo studierte begeistert Geschichte. Stunden verbrachten wir mit GesprĂ€chen, besonders ĂŒber den spanischen BĂŒrgerkrieg, die Griechen oder meine Lieblingsthemen, die Kelten und die Irmandinhos. Dann machte sich Juanjo wohlmeinend ĂŒber mich lustig und erinnerte mich an die Ideen, die ich mit ihm geteilt hatte, als wir uns in Daroca kennen lernten: Die Befreiung meiner Heimat Galizien.

»Du bist mir ein schöner Irmandinho mit deinem Bauerngesicht«, sagte er.

»Und du ein kastilischer Imperialist aus Valladolid, Hochburg der Faschisten.«

Dann mussten wir lachen. Juan war darin versunken, zu jeder halben und vollen Stunde zu verfolgen, was das Radio an politischen Nachrichten auskotzte. Manchmal stellte er sich dann ans Fenster und informierte uns, kommentierte das ein oder andere oder forderte uns auf, die Radios auf diese oder jene Frequenz einzustellen. Pedro war mit Beschwerden an die Gerichte beschĂ€ftigt, nahm aber an den meisten GesprĂ€chsrunden teil. Er war ein großer Unterhalter und hatte einen besonderen Sinn fĂŒr Humor. Er las nicht viel, studierte aber einige GeschichtsbĂŒcher; das interessierte ihn. Er brachte mir von Fenster zu Fenster schreiend mathematische Gleichungen bei und half mir bei so einigen Problemen, mit denen ich in diesem Fach zu kĂ€mpfen hatte. Was Barrot anging, so war er nach wie vor in seine innere Verfremdung versunken, voller Wahnvorstellungen, Tag und Nacht auf Drogen. Er trieb nicht einmal Sport. Carlos nahm daran Anteil und bekam seine Probleme genau mit. Er versuchte erfolglos, ihm seine Lage bewusst zu machen. Barrot war völlig gedankenverloren und sich selbst entfremdet. Ich bewunderte diesen Zug Carlos’, er war stĂ€ndig um die anderen bekĂŒmmert und wusste genau, wann jemand Hilfe brauchte.

Der Druck der Isolation brachte uns manchmal dazu, in bisweilen sogar hitzige Diskussionen zu verfallen, doch nichtsdestotrotz waren unsere humanen Wertvorstellungen intakt, grundlegende Prinzipien einer Ethik, die trotz alledem nicht zugrunde gehen sollten. APRE(r) war zerschlagen worden, und die Ideen, die frĂŒher viele Gefangene geeint hatten – diejenigen, die jetzt der schĂ€rfsten Repression ausgesetzt waren -, waren verschwunden. Die Mehrheit wollte von nichts mehr etwas wissen, es ging einzig und allein darum, möglichst schnell aus dieser Lage herauszukommen. Unter uns gab es verschiedene Ansichten darĂŒber, doch wir waren immer noch solidarisch miteinander und halfen einander. Alle, die wir dort waren, hatten etwas gemeinsam, das uns unabĂ€nderlich verband: Echte Rebellion. Wir alle sechs waren Ausbrecher, und wir sechs missachteten dieses Strafvollzugssystem, unabhĂ€ngig von unserer Auffassung ĂŒber die anzuwendenden Methoden. Das war unabweisbar und schweißte uns zusammen. Dagegen konnten sie nicht an.

Die Direktion schraubte zwischen unsere Fenster große abstehende Metallplatten, die uns nur noch erlaubten zu sehen, was sich genau gegenĂŒber befand, und die den Blick der Überwachungskamera, des »Inquisitors«, nicht verstellten. Das Klo auf dem Hof hatten sie abmontiert, und wir mussten in ein Siel in der Mitte des Hofs pinkeln. Manchmal streckte mir Juan seine Finger unter dem Hoftor entgegen, das ich von meinem Zellenfenster aus sehen konnte. So grĂŒĂŸte er mich – das war nicht viel, doch immerhin hatte ich Sichtkontakt mit einem Körperteil eines Menschen, der kein Schließer war. Gesten wie diese oder die Gesichter meiner Genossen, wenn sie am glĂ€sernen Guckfenster in meiner ZellentĂŒr vorbeigingen, stets in Begleitung von vier TotschlĂ€gern, waren aller menschlicher Kontakt, den wir dort hatten. Dies und geschriene GesprĂ€che. Und falls wir einen Moment lang vergessen haben sollten, wo wir uns befanden, wurden neue Röntgenaufnahmen gemacht. Wir weigerten uns, doch wir wurden mit Handschellen auf dem RĂŒcken von zehn Schließern auf die Krankenstation gebracht und einmal mehr an die Ketten am Röntgentisch gebunden, dann zog man uns die Hose und UnterwĂ€sche herunter, zog uns das Hemd hoch und machte dann die tödlichen Aufnahmen vom Inneren unserer Eingeweide. So war die Demokratie.

Im Mai wurde ich zu einem Prozess in die Anstalt Bonxe verlegt. Gegen sechs Uhr nachmittags verließ ich El Dueso, und mein Sondertransport erreichte Lugo um Mitternacht. Ich bekam kein Wasser oder etwas zu essen. In Bonxe angekommen, wurde ich vollstĂ€ndig durchsucht und mit Handschellen vor dem Bauch in eine der Aufnahmezellen geschlossen. In der Zelle lagen zwei Decken.

»Hören Sie, was ist los, gibt es keine Bettlaken?« fragte ich den Dienstleiter.

»FĂŒr Sie nicht, die Decken reichen Ihnen aus.«

»Und die Handschellen?« fragte ich nach.

»Sie behalten sie an. Um sechs werden Sie abgeholt und zum Prozess nach Pontevedra gebracht.«

Als sie die TĂŒr schlossen und weg waren, holte ich den SchlĂŒssel aus seinem Versteck und befreite mich von den Handschellen. Ich legte mich angezogen auf die Matratze, deckte mich zu und wartete auf den Transport. Obwohl ich sehr mĂŒde war, konnte ich nicht schlafen. Jede Stunde schaltete ein Schließer das Licht an und sah nach, ob ich noch da war. Diese Typen waren völlig bescheuert und hirnlos, dachte ich fĂŒr mich, sie labten sich daran, die Personen, die unter ihrer Kontrolle standen, unnötig zu schikanieren. Wie konnte man glauben, es sei möglich, dass jemand nur zwei Stunden nach seiner Ankunft aus einem GefĂ€ngnis ausbrechen konnte, das er ĂŒberhaupt nicht kannte? Absurd.

Ich wartete, bis um vier Uhr morgens der Schließer wieder vorbeigekommen war, und stand auf um zu pinkeln. WĂ€hrend ich genĂŒsslich in das Klobecken pinkelte, mit der linken Hand gegen die Wand gestĂŒtzt, fiel mir ein metallenes Wasserrohr auf, das hinauf zum SpĂŒlkasten fĂŒhrte. Nach dem Pinkeln stieg ich auf das Klobecken und prĂŒfte das Rohr: es saß fest. Zwei Stunden hatte ich. Ich drehte den kleinen Wasserhahn zu und sĂ€gte das Metallrohr ab mit einem StĂŒck SĂ€ge, das Juan mir in El Dueso geschenkt und das ich durch alle Kontrollen gebracht hatte. Ohne Zeit zu verlieren, drĂŒckte ich das Rohr platt und sĂ€gte es schrĂ€g ab, so dass es eine Spitze bekam. Dann schleifte ich die Spitze. Ich legte mich wieder ins Bett und wartete auf die nĂ€chste Kontrolle, um diesem improvisierten Messer den letzten Schliff zu verpassen. Als der Schließer weg war, schnitt ich das Messer so kurz ab, dass es mir ohne zu große Schmerzen in den After passte. Ich wickelte es in eine MĂŒlltĂŒte, die es in der Zelle gab, gab dem BĂŒndel eine zylindrische Form und erhitzte die PlastiktĂŒte mit einem Feuerzeug, damit sie nicht aufging und die Falten verlor. Dann schmierte ich das PĂ€ckchen mit Seife ein und fĂŒhrte es mir nicht ohne Schmerzen ein. Jetzt hatte ich eine Waffe, wenngleich rudimentĂ€r, und deshalb auch eine neue Chance, das war besser als nichts. Unter uns Ausbrechern war es gezwungenermaßen normal, sich etwas einzufĂŒhren, eine Überlebensfrage, wichtiger als das Getue darum, »Jungfrau« zu sein.

Um sechs hörte ich die unverwechselbaren Schritte der Schließer sich ĂŒber den Flur meiner Zelle nĂ€hern. Ich legte mir die Handschellen an und versteckte die SĂ€ge und den SchlĂŒssel. Als die TĂŒr aufging, kam eine große Gruppe Schließer und Guardias Civiles hinein und durchsuchte mich. Dann wechselten sie die Handschellen gegen andere und brachten mich in einen Polizeitransporter. Bevor wir das AnstaltsgelĂ€nde verlassen hatten, holte ich das Messer hervor, nahm es aus der PlastiktĂŒte und steckte es ein. Die Scheiße wischte ich mir mit feuchtem Klopapier von den HĂ€nden, das ich eigens zu diesem Zweck mitgenommen hatte. Wir fuhren in die Anstalt Monterroxo, wo wir meinen Freund Izquierdo Trancho abholen mussten. Trancho war ein mutiger Typ, ich konnte fĂŒr das, was ich mir vorgenommen hatte, auf ihn zĂ€hlen. Als wir in Monterroxo ankamen, musste ich einige Minuten warten, bis sie Trancho brachten. Er grinste und setzte sich zu mir. Wir fuhren weiter, mit dem Ziel Strafgerichtshof Nummer 2 in Pontevedra.

»Wie geht’s dir, JosĂ©?«

»Gut, und dir?«

»Auch gut. Mal sehen, ob wir heute etwas ausrichten können, was?«

»Können wir«, sagte ich, holte das Messer hervor und fĂŒgte grinsend hinzu: »Guck mal was ich hier habe.«

»Schick! Wie hast du es herausgeschmuggelt?« fragte er und wog das Messer in seiner Hand.

»Im Arsch, wo sonst. Ich habe das Wasserrohr eines KlospĂŒlkastens plattgedrĂŒckt. Nichts Tolles, aber es wird uns nĂŒtzen, wenn wir uns wĂ€hrend der Verhandlung den Richter greifen. Was denkst du?«

»Von mir aus alles klar, das weißt du. Wir mĂŒssen allerdings unsere Handschellen aufbekommen, sonst kriegen wir gar nichts hin.«

»Gut«, antwortete ich. »Und was ist in Jaén los?«

»Alles Mist, auch wenn es nicht so schlimm ist wie in El Dueso. Ich habe gehört, es ist richtig mies dort, oder?«

»Ja, ziemlich.«

»Bei uns in JaĂ©n gibt es jeden Tag Stress mit den Schließern.«

Wir redeten weiter bis wir in Pontevedra ankamen. Dort schlossen wir uns gegenseitig die Handschellen auf und blockierten deren ZĂ€hne mit PappstĂŒckchen. Wir schlossen sie wieder, doch jetzt verhinderte der Karton, dass sie einrasteten. Mit einem krĂ€ftigen Zug konnten wir sie jederzeit öffnen.

Eine Eskorte brachte uns ins GerichtsgebĂ€ude, zwischen Zeitungsleuten und Fotografen. Wir kamen in einen kleinen Warteraum, der von einer stattlichen Anzahl Guardias Civiles und PolicĂ­as Nacionales bewacht wurde. Die Stunden vor einer Aktion sind die schlimmsten, und wir verbrachten die Zeit rauchend und redend. Die Anwesenheit meines Freundes war mir sehr angenehm, und es beruhigte mich, auf ihn zĂ€hlen zu können. Die Uhrzeit des Gerichtstermins rĂŒckte nĂ€her, und es passierte etwas, mit dem wir nicht gerechnet hatten: Ein Paar Guardias Civiles schloss seine HĂ€nde an die unseren. Wir waren angearscht.

Wir gingen in den Saal, und man machte uns den Prozess wegen Beamtenbeleidigung, aufgrund eines Briefs an einen Richter, in dem wir ihn beschimpft hatten. Wir versuchten, gegen unsere Haftbedingungen zu protestieren, man ging jedoch auf unsere AusfĂŒhrungen nicht ein. Der Richter fragte mich in vĂ€terlichem Ton:

»Wie kommt es, dass Sie sich in ihren jungen Jahren in derartige Schwierigkeiten bringen?«

»Weil die Justiz von Arschlöchern wie dir gemacht wird«, warf ich ihm an den Kopf.

Er lief rot an, denn so eine Antwort hatte er nicht erwartet.

Trancho mischte sich ein:

»Euch«, sagte er an Richter und Staatsanwalt gewandt, »euch tut wirklich eine gehörige Rehabilitation Not, ihr seid völlig verfault. Wie wollt ihr Richter sein, wo ihr es nicht einmal zu WĂŒrmern bringt? Ihr seid es und euer Scheißsystem, was ihr rehabilitieren mĂŒsst, Hornochsen!«

Wir schimpften weiter auf Gesetz und Justiz, man warf uns aus dem Saal und brachte uns wieder in den Transporter.

»Was fĂŒr Arschlöcher!« rief mein Freund, schon drinnen im Transporter.

»Allerdings, sie haben uns die Freude nicht gegönnt«, sagte ich.

Dann lachte ich: »Wenn dieser Dummkopf von Richter wĂŒsste, wie nah er daran war, unsere Geisel zu werden…«

»Wir haben vielleicht ein Pech, Mann.«

Wir entledigten uns des Messers, denn wir wĂŒrden es nicht mehr brauchen, und nutzten die gemeinsam verbrachte RĂŒckfahrt ins GefĂ€ngnis, um uns zu unterhalten, bevor wir wieder in der Isolation landeten. In Monterroxo verabschiedeten wir uns mit einer krĂ€ftigen Umarmung. In Bonxe kam ich in dieselbe Zelle, die ich schon die Nacht davor belegt hatte. Man nahm mir die Handschellen ab und ĂŒbergab mir saubere Laken und Essen. Die Behandlung war besser als bei meiner Ankunft.

Am nĂ€chsten Morgen wurde ich nach El Dueso zurĂŒckgebracht. Ich erfreute mich an dem Anblick der Landschaft meiner Heimat und fĂŒhlte Heimweh. Erinnerungen brachen ĂŒber mich herein. Ohne Zweifel war ich in diesen schönen Flecken Erde verliebt. Ich dachte mit Sympathie an den bewaffneten Kampf, der in dieser Gegend von den Mitgliedern des ExĂ©rcito Guerrilheiro gefĂŒhrt wurde. Die meisten dieser Frauen und MĂ€nner waren verhaftet und in die GefĂ€ngnisse des Staats gesperrt worden, den sie bekĂ€mpften. Sie erinnerten an alte Geschichten von antifaschistischem Widerstand, an Namen von guerrilheiros wie Foucelhas, Piloto oder Reboiras, die der Franquismus ermordet hatte. In dieser Berglandschaft hatte einer der blutigsten WiderstandskĂ€mpfe gegen den Faschismus stattgefunden, im Anschluss an den erfolgreichen Staatsstreich der MilitĂ€rs im BĂŒrgerkrieg; Heroischer Widerstand, der von der Kommunistischen Partei Carrillos und der Pasionaria verraten wurde. Dieses Volk hatte einen der gewaltigsten BauernaufstĂ€nde des feudalen Europa zustande gebracht: die Revolution der Irmandinhos, in der sich tausende Bauern bewaffnet gegen die grausame UnterdrĂŒckung durch die Tyrannen der Epoche gewehrt hatten. Ich bewunderte das ExĂ©rcito Guerrilheiro, und die Folter, die es in Anstalten wie AlcalĂĄ-Meco erlitten hatte, war mir zu Ohren gekommen: Sie hatten sich geweigert, die dortigen Normen zu akzeptieren, wie etwa beim ZĂ€hlappell stillzustehen, wofĂŒr es scheußliche PrĂŒgel setzte. Von Politik wusste ich nicht viel, doch genug, um zu wissen, dass Spanien ein zentralistischer Staat war, der auf Eroberung, Gewalt und Ausbeutung gebaut war und die Freiheit alter Völker beendet hatte. Ich bewunderte diese Leute, denn sie hatten sich offen gegen den Drogenhandel gestellt, gegen die Mafia, die mit den falschen Drogen die Jugend vernichtete – dieselben, die die allermeisten der Freundinnen und Freunde in den Tod gerissen hatten, mit denen ich als Kind gespielt hatte, bevor dieses Land mit Drogen und Misere ĂŒberschwemmt worden war. Auch XosĂ© Vilhar Regueiro und Lola Castro Lama wĂŒrde ich immer in guter Erinnerung behalten; sie waren bei dem Versuch umgekommen, uns von diesem Übel zu befreien, das von der kranken Justiz einer Demokratie geschĂŒtzt wurde, die sich dem Meistbietenden prostituierte.

Am grauen Himmel unseres einfachen Volkes

stehen rote Sterne blau durchkreuzt,

es sind die Seelen der toten Guerrilheiros

leuchtend und frei.

Am Nachmittag kamen wir an. Wie ich erwartet hatte, wurde ich vom Transporter direkt in die Krankenstation gestoßen, wo neue Röntgenaufnahmen gemacht wurden. Nach der sorgfĂ€ltigen ÜberprĂŒfung, dass ich nichts mitfĂŒhrte, was eine Gefahr fĂŒr den ordungsgemĂ€ĂŸen Ablauf des Strafvollzugs hĂ€tte darstellen können, brachte man mich in eine Zelle der FIES-Abteilung. Dort hieß man mich ausziehen und durchsuchte meine Kleidung. Als die Schließer weg waren, trat ich ans Fenster und begrĂŒĂŸte die Genossen. Ich erzĂ€hlte ihnen nur einige Details meiner Reise, denn wir wurden ja stĂ€ndig ĂŒberwacht.

Am 23. wurde ich vierundzwanzig Jahre alt. Mein Alter betrog mich: Ich war noch ein Junge, auch wenn ich erwachsen spielte, und es gab Dinge, die nur Zeit und Erfahrung mir beibringen sollten. Ich hatte einen sturen und aufbrausenden Charakter, vor allem, wenn ich darauf bestand, in einer Angelegenheit im Recht zu sein – manchmal fiel es mir schwer, meine Ignoranz einzugestehen. Doch ich sollte noch lernen. Ich sollte die fĂŒr alle Menschen obligatorische Lektion in Bescheidenheit und Menschlichkeit lernen. Ich wollte, dass meine soziale Entwicklung und Emanzipation mit einer Revolution in meinem Innern einherging, die mich zu einem besseren Menschen machte, toleranter, humaner. Ich rechnete meinen Genossen die Geduld, die sie mit mir hatten, hoch an, wie auch ihr BemĂŒhen, mich so zu akzeptieren, wie ich war: Introvertiert und schwer genießbar, doch dazu fĂ€hig, mich fĂŒr jeden von ihnen herzugeben. Wir gaben uns zĂ€rtliche Spitznamen: Carlos nannten wir »Simpson«, Juanjo den »Doktor«, Pedro blieb auf dem Namen »Schnarchi« sitzen, Juan war »die Seifenblase«, und ich hieß »Norman«. Barrot war immer noch in seinem Paralleluniversum gefangen und ging kaum ans Fenster, außer um Juanjo die fĂŒr die Redaktion des Kapitels ĂŒber seinen Ausbruch erforderlichen Daten mitzuteilen, damit er sie in das Buch AdiĂłs PrisiĂłn aufnehmen konnte.

Im Übrigen waren unsere Haftbedingungen immer noch dieselben, und das Leben war so monoton wie unertrĂ€glich. Wir waren seit Monaten zusammen. Einige von uns kannten sich seit Jahren, und die GesprĂ€che ĂŒber die wenigen ernsthaften Themen, ĂŒber die wir hĂ€tten sprechen können, wurden abgehört. Die meisten unserer Unterhaltungen wurden deshalb fade und inhaltslos, ohne Tiefgang. Das wurde immer belastender. Das Einzige, was die Routine etwas aufbrach, war vom Fenster aus zuzusehen, wie ein Paar Stare sich ein Nest auf der Hofmauer baute, es dabei zu beobachten, wie es mit kleinen Zweigen oder BaumwollstĂŒckchen im Schnabel umherflog oder auf dem Hof herumlief und Obstreste suchte. Es gab auch eine Taube, die irgendeinem Gefangenen gehören musste. Der warfen wir Brotkrumen hin, die sie mit der diesen Vögeln eigenen Ruhe aufpickte. Sogar die Möwen schienen dieser Langeweile ĂŒberdrĂŒssig.

Im Juni kam es in der Anstalt AlcalĂĄ-Meco zu einem Aufstand, wĂ€hrend dessen einer der Gefangenen an den Messerstichen starb, die ihm MoisĂ©s Caamåñez Álvarez zum Ausgleich offener Rechnungen verpasst hatte, ein Junge von zweiundzwanzig Jahren. Wenige Tage nach dem Aufstand brachten sie ihn und steckten ihn in die erste Zelle, neben Juan. Mit ihm waren wir jetzt sieben. Noch am Tag seiner Ankunft fragte ihn Carlos nach dem Grund dafĂŒr, dass wĂ€hrend eines Aufstands wieder einmal ein Gefangener ums Leben gekommen war. Die Antwort war in etwa die folgende Geschichte.

Der Tote war der Verantwortliche fĂŒr das Abrutschen in die Welt der Drogen und der Prostitution einer jĂŒngeren Schwester von MoisĂ©s gewesen. Wenige Monate zuvor war das MĂ€dchen an einer Überdosis gestorben. Als MoisĂ©s mitbekam, dass dieser Gefangene damit zu tun gehabt hatte und in demselben Trakt in AlcalĂĄ-Meco einsaß wie er, entfĂŒhrte er einen Schließer und ging auf ihn los. Er tötete ihn. Bevor er sich sich dem entfĂŒhrten Schließer stellte, verlangte er die Gegenwart des Strafvollzugsrichters und protestierte gegen PrĂŒgel und Misshandlungen der jugendlichen Gefangenen in AlcalĂĄ-Meco. Um dem Nachdruck zu verleihen, zwang er den Richter dazu, einen seiner Mitgefangenen aufzusuchen, der mit einem gebrochenen Arm in Gips und eindeutigen Spuren der Misshandlung durch die Schließer in Isolationshaft saß. Anschließend stellte er sich und kam Tage darauf nach El Dueso. Dies ist die Geschichte, die er erzĂ€hlte, was nicht heißt, dass nicht andere Versionen des Vorfalls kursierten.

An einem dieser Tage hatte Juan einen Wutanfall. Die Nase voll vom Druck der Isolation, riss er das Fenster aus dem Rahmen, tobte in der Zelle und schlug alles kurz und klein. Ein Trupp Schließer erschien, ĂŒberwĂ€ltigte und schloss ihn mit den HĂ€nden hinter dem RĂŒcken an das TĂŒrgitter. Der medizinische Leiter kam dazu. »Wir werden dir jetzt gleich eine Injektion setzen, damit deine Nerven runterkochen, du Arschloch«, drohte er ihm.

Juan rief Carlos und mich: »José, Carlos!«

Ich ging ans Fenster.

»Was ist los, Juan?« fragte ich erschrocken.

Im Trakt war die Spannung nach langer schmerzhafter Stille merklich angewachsen.

»Sie wollen mir eine Spritze verpassen…«, antwortete er aufgeregt.

Eine Spritze Phenothiazin gesetzt zu bekommen, war wahrlich kein Scherz. Es konnte einen Mann zwei Wochen flachlegen, ohne die Kraft, auch nur zu denken. Es war gefĂ€hrlich, denn schon eine dieser Injektionen konnte bei einem gesunden Menschen schwere psychische FolgeschĂ€den hervorrufen. Ich war so erschrocken wie er, doch er war mein Freund, und ich ging an die TĂŒr und schlug krĂ€ftig dagegen. Carlos rief mich:

»Was hast du vor?«

»NatĂŒrlich mit denen reden, damit sie ihm die Spritze nicht setzen.«

Ich hĂ€mmerte also weiter gegen die TĂŒr, und Carlos tat dasselbe, bis der Dienstleiter zu meiner Zelle kam. Sie öffneten die TĂŒr. »Was ist los?« fragte er mich.

»Der medizinische Leiter hat damit gedroht, meinem Genossen zwangsweise eine Spritze zu setzen.« Ich erklĂ€rte ihm ruhig: »Wenn Juan die Zelle kaputtgemacht hat, dann weil diese Bedingungen sehr hart sind, und das wissen Sie. Es ist logisch, dass man irgendwann ausrastet. Es ist noch nicht lange her, dass sein Vater gestorben ist, ich glaube es ist völlig erklĂ€rlich und normal, dass er sich so fĂŒhlt.«

»Das ist Sache des medizinischen Leiters und nicht unsere, Tarrío.«

»Gut, aber sie sollen wissen, dass wenn Sie meinem Freund diese Spritze setzen, ich es bin, der seine Zelle kaputtschlĂ€gt, und danach alle anderen Genossen, und ihr werdet kommen mĂŒssen, um mich zu fesseln, denn ich werde nicht aufhören.«

»Na na, wer wird denn gleich drohen, Tarrío, beruhigen Sie sich. Ich werde mit Don Enrique sprechen, mal sehen, ob wir diesmal von der Spritze absehen können, einverstanden?«

»Einverstanden. Und noch etwas«, fĂŒgte ich hinzu, »nehmen Sie ihm die Fesseln ab.«

»Wir werden sehen.«

Carlos sagte ihm etwas Ähnliches. Ich teilte Juan mit, was wir besprochen hatten, damit er sich beruhigte:

»Bleib ruhig, Juanito, mal sehen, ob sie dir die Fesseln abnehmen und die Geschichte nicht ausufert. Wie geht es dir?«

»Gut. Ich bin ausgeflippt…«

Man gab ihm die Spritze nicht, und ein paar Stunden spĂ€ter nahm man ihm die Fesseln ab und fĂŒhrte ihn in eine andere Zelle. Er war mit dem Schrecken davongekommen.

Pedro bekam in einigen Sachen vor dem Strafvollzugsgericht Recht, und man gestand uns eine zusĂ€tzliche Stunde Hofgang zu. Draußen stellten der Verein Salhaketa und die AsociaciĂłn Pro Derechos Humanos Dossiers ĂŒber unsere Lage zusammen, auf Grundlage eines mĂ€chtigen Stapels Kopien von Anzeigen und Beschwerden, den wir ihnen ĂŒber die AnwĂ€lte hatten zuspielen können.

Ich erhielt einen Brief von Musta aus Puerto de Santa MarĂ­a:

Lieber Xosé:

Wenn ich mal dazu komme, den Kugelschreiber zu schwingen, irre ich in Zeit und Ideen umher und schreibe fast nie zu Ende, was ich angefangen habe… es erscheint mir immer zu kurz gegriffen und unfertig. Ich schaffe es nicht, was ich sagen will auf eine solide Grundlage zu stellen und mich verstĂ€ndlich zu machen. Ein Blatt Papier scheint mir dafĂŒr zu klein, ich bin konfus, und ich will nicht irgendetwas sagen. FĂŒr das, was ich mitteilen will, ist dies ein zu abstraktes Medium.

Amado irman do alma… Verstehst du mich? Genau weiß dieses GefĂŒhl, das Freundschaft heißt, wie sehr ich mich nach dir sehne und wie wenig ich fĂŒr dich tun kann… Genau weiß diese leidenschaftliche Besessenheit, was Du fĂŒr mich bedeutest, und auch, wie die FelswĂ€nde um mich herum diese unbĂ€ndigen Wogen brechen… Wie traurig! Wie grauenhaft!

Manchmal, wenn ich den Gedanken des jeweiligen ErzĂ€hlers folge, entziehe ich mich dieser miserablen Welt so nachhaltig, ich ziehe mich so weit in die ErzĂ€hlung zurĂŒck, dass ich mir, wenn ich von dieser Reise »aufwache«, unbekannt und fremd vorkomme. Ich fĂŒhle mich losgelöst von allem Weltlichen, allem Nichtigen, und meine eigene Nichtigkeit ist dem Reiz der wahren WĂŒrde unterlegen.

Niemals, irman meu, werden sie die Leidenschaft, die ich fĂŒr Gerechtigkeit und ein Leben in WĂŒrde empfinde, einsperren können, wie sie auch niemals zum Schweigen bringen werden, was auf meiner inneren Kanzel gesprochen wird. Mein Körper ist ein loyaler Soldat im Dienst der Menschheit und der libertĂ€ren Ideen meines geliebten Piotr Kropotkin. Ich begreife es als Sinn des Lebens, der Menschheit die Erinnerung an den wĂŒrdigen Einsatz unserer Person in der Aktion zu hinterlassen.

In diesem Leben existieren Millionen Personen, die aus CharakterschwĂ€che nichts sind als Millionen Personen, und nur hunderte einzigartige Frauen und MĂ€nner kennen wir wegen ihrer Hinterlassenschaft, ihrer revolutionĂ€ren Ideen oder Aktionen. Ich bin die Revolutionen dieser singulĂ€ren Sterblichen oberflĂ€chlich durchgegangen, und ich habe unter grĂ¶ĂŸtem Bedauern festgestellt, dass sie sich nie mit den ewigen Sklaven der Gesellschaften aufgehalten haben: den Gefangenen. Nicht die Kommunisten, nicht die Sozialisten, nicht die Republikaner… nichts! Angeblich in Bezug auf die Gleichstellung der gesellschaftlichen Klassen avantgardistische Organisationen haben sich nicht mit der unterdrĂŒcktesten aller Klassen aufgehalten, die sie angeblich reprĂ€sentieren. Es ist traurig, den herzzerreißenden und zu leisen Schlachtruf eines Kollektivs zu hören, das es trotz seiner in gewissem Sinne einheitlichen Lage nicht versteht, seiner gerechten Rebellion eine bestimmte Richtung zu geben, unter anderem aus Ignoranz, Furcht und Feigheit.

Kurzum… Ich wĂŒrde gar zu gerne mit dir sprechen und dich in den Arm nehmen, um zu fĂŒhlen, dass was ich denke und sage Frucht gemeinsamer Ideen ist, um so wenigstens etwas von meinem Verlangen und meiner Traurigkeit auf Deine brĂŒderlichen Schultern zu laden und die Dinge mit der Idee anzugehen, nicht allein dazustehen im Krieg gegen die Ungerechtigkeit.

In libertÀrer Liebe, Dein Gabriel Pombo

Der Brief meines Freundes ließ mich nachdenken. Ich freute mich darĂŒber, dass er sich der Anarchie als Humanphilosophie genĂ€hert hatte, um sich auf deren Grundlage gegen das System zu stellen. Anarchie, libertĂ€re Kultur, war auf lange Sicht die Hoffnung der Gesellschaft, besonders die Hoffnung der am meisten Benachteiligten.

Ich lief weiterhin im Kreis auf dem kleinen Hof und verbesserte deutlich meine körperliche Form. Eine Stunde am Tag widmete ich mich dem Laufen, jetzt, da wir mehr Zeit dazu hatten, und machte DehnĂŒbungen. Das machte mir Mut. Ich nahm mir auch vor, das Rauchen aufzugeben. Vor lĂ€ngerer Zeit schon hatte ich die Drogen hinter mir gelassen, und das einzige Laster, dem ich noch frönte, war der Tabak. Ich war besessen davon, es sein zu lassen, es war mir wichtig. Es wĂŒrde nicht nur helfen, meine Gesundheit zu erhalten, sondern mir auch mehr Geld fĂŒr die ErnĂ€hrung lassen – der Tabak verschlang den Großteil meines Hausgelds. Nach diesen Sportstunden, stets unter der Beobachtung eines Schließers, der sich hinter dem Gitterfenster der anliegenden Wachstube versteckt hielt, brachten sie mich in Handschellen in die DuschrĂ€ume, wo ich mich frisch machte und die Kleidung wechselte. Sie ließen uns keine Kleidung zum Wechseln in der Zelle haben, nur die wir gerade anhatten und das Handtuch, wir mussten uns also in der Dusche umziehen. Man schickte die schmutzige Kleidung dann in die WĂ€scherei und steckte sie anschließend wieder in die SĂ€cke, die unsere Nummer trugen.

Der Juli kam und brachte die Sommerhitze, aber auch den Besuch meiner Mutter und ihres Ehemannes. Sie sah gut aus, war aber sehr traurig darĂŒber, wie sie mich dort hielten – etwas, das eine Mutter immer bemerkt.

»Hallo, Sohn«, grĂŒĂŸte sie mich.

»Hallo, Mutter…«

»Wie gehen sie mit dir um, mein Schatz?«

»Wie ĂŒberall, du weißt schon.«

»Ja. Ich habe hier monatelang angerufen und man hat immer aufgelegt«, erzÀhlte sie mir. »Ich wollte mit dem Arzt sprechen. Er gab mir auf unfreundliche Art und Weise zu verstehen, dass du isoliert bist und dass man nicht mit dir sprechen darf.«

»Ruf hier bitte nicht mehr an«, sagte ich. »Sei unbesorgt, ich passe schon gut auf mich auf.«

»Wir haben dir etwas zum Anziehen und zu essen mitgebracht, das Essen hat man uns aber nicht mit hinein nehmen lassen…«

Wir sprachen zwanzig Minuten lang. Ich freute mich sehr, die beiden zu sehen. Ich liebte meine Mutter sehr und war froh darĂŒber, dass sie einen LebensgefĂ€hrten gefunden hatte, der gut zu ihr war. Sie hatte es verdient. Nach ein paar auf die Glasscheibe gedrĂŒckten KĂŒssen und dem Austausch von ein paar Blicken, bei denen ihre traurigen und feuchten braunen Augen aufblitzten und liebevolle Poesie mit den meinen austauschten, band man mich auf dem RĂŒcken und brachte mich wieder in den Trakt und in die Zelle. Wie konnte ich ihr dies alles erklĂ€ren? Wie konnte ich ihr sagen, dass ich HIV-positiv war, und dass mir allein der Gedanke daran, welchen Schmerz ihr mein Verlust bereiten sollte, unertrĂ€glich war? Wie konnte ich den Schmerz beschreiben, der mich in Momenten wie diesem jede erdenkliche VerrĂŒcktheit begehen lassen konnte? Das System begnĂŒgte sich nicht damit, uns zu ersticken und aus dem Leben auszuschließen; Es gefiel sich dabei, unseren Familien Schmerz zuzufĂŒgen und sie wie uns zu bestrafen, auf grausam rachsĂŒchtige Weise.

Tage nach diesem Besuch rammte sich MoisĂ©s ein StĂŒck Eisen in die Brust, in Höhe der Lungen. Wir gaben den Schließern Bescheid, und sie brauchten eine geschlagene Viertelstunde, um mit dem medizinischen Leiter zusammen im Trakt zu erscheinen. Sie öffneten die ZellentĂŒr des Genossen und fesselten ihn. Von unseren Zellen aus, ĂŒber den Flur, konnten wir alles hören.

»Jetzt spiel hier nicht die Schwuchtel, hörst du? Wenn du dir das Eisen reingerammt hast, bist du selber Schuld«, schrie der Arzt.

Nach einer Reihe Drohungen entfernten sie schließlich das Eisen und versorgten ihn. MoisĂ©s verletzte sich allerdings sofort wieder selbst, als sie ihn allein in der Zelle ließen; diesmal schnitt er sich mit einer Rasierklinge auf, die er bei sich versteckt hatte. Ein Trupp erschien in seiner Zelle, band ihn ans Bett und verpasste ihm ein paar Ohrfeigen. Dann ordnete der medizinische Leiter an, ihm eine Injektion zu setzen, und bevor sie gingen, nebelten sie die Zelle unter den Beschimpfungen Moises’ mit einem Spray ein. Der junge und HIV-positive MoisĂ©s ertrug die Isolation unter diesen Bedingungen nicht und verlor die Hoffnung. So war er. SchwĂ€chlich und nervös wie er war, machte ihn diese Stille verrĂŒckt, diese weißen WĂ€nde, die jeden Tag ein StĂŒck nĂ€her auf einen zuzukommen schienen. Er war bis zu dem Punkt verstört, dass er dem Schmerz mit Selbstverletzung zu entkommen versuchte. Es schien widersprĂŒchlich, doch so war es: Sich unter diesen UmstĂ€nden selbst zu verletzen, stellte fĂŒr ihn eine Lösung dar, es war eine Form »Es reicht!« zu schreien, genug Isolation, genug Einsamkeit, und die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, auf seine Probleme, auf sein Leiden. Einige Tage spĂ€ter brachten sie ihn fort nach Alicante, in etwas weniger schwere Haftbedingungen.

Es war nicht viel Zeit vergangen, als wir hörten, dass er erhĂ€ngt gestorben war, in Villanubla, Valladolid. Das war normal. Das GefĂ€ngnis war eine Sache, das GefĂ€ngnis innerhalb des GefĂ€ngnisses war etwas anderes. Bei jenem JĂŒngling hatten sie sich geirrt, wie bei so vielen. MoisĂ©s war einfach ein drogensĂŒchtiger junger Mann, der unter Wirkung des Rauschgifts einige Straftaten begangen hatte, das alle und jede Strafanstalt des spanischen Staats ĂŒberflutete, jede Stadt und jedes marginale Viertel, von denen es in der Tat viele gab.

Diesen Monat erlaubte uns die Behörde, Fernsehapparate zu besitzen, was uns dabei half, die Langeweile zu bekĂ€mpfen. Wir kauften einen kleinen FĂŒnf-Zoll-Apparat fĂŒr jeden von uns, um die Monotonie, die uns umgab, aufzubrechen. Wie die große Mehrheit der inhaftierten Bevölkerung gingen wir dazu ĂŒber, uns die Programme der diversen KanĂ€le anzutun. Ich war Zeuge der zweiten Tour de France, die von Miguel Indurain souverĂ€n gewonnen wurde. Ich wurde ein Fan dieses Sports, er gefiel mir. Auch knĂŒpfte ich freundschaftliche Bande mit einer Spinne, der ich in der Zelle Fliegen und MĂŒcken fing und anschließend in einer PlastiktĂŒte auf den Hof hinaus brachte. Sie hatte sich in einer Ecke des Hofs eingerichtet, und ich nannte sie »Spinne Thekla« zu Ehren der ruchlosen Spinne aus Biene Maja, einer Zeichentrickserie aus meiner leider vergangenen Kindheit. Ich setzte mich zu ihr und ihrem wunderbaren meisterhaft gesponnenen Spinnennetz und legte die Insekten darauf. Dann kam sie aus ihrem Versteck, stĂŒrzte sich auf sie und wickelte sie in ihren Faden, um sie dann in ihre Höhle mitzunehmen, sie dort wie in einer Speisekammer aufzubewahren. Die Spinne wartete dann, bis die von ihrem Gift durchdrungenen Körper aufweichten und saugte sie aus. Dann warf sie die leeren Kadaver vom Netz auf den Boden und versteckte sich wieder, um auf die Ankunft neuer Opfer zu warten. Nicht, dass die Spinne mein Lieblingstier gewesen wĂ€re, doch wenigstens leistete sie mir Gesellschaft, und ihre Beobachtung lenkte mich ab. Manchmal machte ich auch einen Teil ihres Netzes kaputt, nur um dabei zuzusehen, wie sie es mit der ihr eigenen Meisterschaft wieder flickte. Ich pflegte auch mit den Pillendreher-KĂ€fern zu spielen, die es bis auf unseren Hof geschafft hatten: Wir waren Freunde. Weder sie griffen mich an noch ich sie; wir lebten in Harmonie in dieser Welt aus Beton. Die dort vertretene Fauna wahr unglaublich. Eines Tages, als wir uns gerade ĂŒber die Fenster unterhielten, sahen wir einen Zwergadler den großen Hof ĂŒberfliegen, auf den nie jemand hinausging, und wo die Vögel sich von dem ernĂ€hrten, was wir ihnen hinwarfen. Das Paar Stare hatte sich inzwischen das Nest gebaut und war damit beschĂ€ftigt, die Eier auszubrĂŒten. Die Stare bemerkten die Anwesenheit des Adlers und flohen zum Schutz unter einen Vorsprung; doch nicht so ein kleiner putziger Sperling. Der Raubvogel schnellte hinunter, ĂŒberraschte ihn und nahm den schon leblosen Spatz in seinen mĂ€chtigen, starken Klauen mit sich fort. Sicherlich wĂŒrde der Spatz seinen hungrigen KĂŒken zum FrĂŒhstĂŒck herhalten mĂŒssen. Auch wohnten wir der Paarung eines MöwenpĂ€rchens bei, auf der Mauer, ohne jede Scham mit Frohlocken bis zum Orgasmus, unter unserem komplizenhaften GelĂ€chter.

Der August brachte nichts als die BestĂ€tigung, dass diese Haftbedingungen auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten werden sollten. Mit dem ZugestĂ€ndnis der tĂ€glichen zwei Stunden allein auf dem Hof und der Herausgabe der eigenen Kleidung, mit der begrenzten und zensierten Kommunikation und dem beschrĂ€nkten Zugang zum Economato hatten wir unser Höchstmaß an Rechten erreicht, einschließlich Fernsehen.

JosĂ© Antonio Moreta wurde aufgrund seiner verdienstvollen Arbeit in El Dueso, vor allem mit uns, befördert und nach Carabanchel versetzt, wo er nur zwei Jahre spĂ€ter einer Unterschlagung ĂŒberfĂŒhrt werden und vom Direktorposten wieder abgesetzt werden sollte. Wollte man mit Menschen wie diesem aus uns ehrbare BĂŒrgerinnen und BĂŒrger machen? Als Ersatz kam JosĂ© Ignacio BermĂșdez, ein alter Bekannter aus der Anstalt Orense. Mit diesem Direktor blieb alles beim Alten: Erleichterungen fĂŒr die an die fĂŒnfhundert Vergewaltiger, die in der Anstalt saßen, und fĂŒr die Drogenschieber. FĂŒr uns, die es gewagt hatten, sich gegen die Herrschaft aufzulehnen, Isolation, Sicherheitsmaßnahmen und KnĂŒppel.

Am 11. September, um zwölf Uhr mittags, kam es zu einem Aufstand mit Geiseln im GefĂ€ngnis Daroca. Wir hörten die Nachricht im Radio. Mehrere Genossen: JoaquĂ­n Ángel Zamoro DurĂĄn, Luque TamajĂłn, JosĂ© Romero GonzĂĄlez, Eduardo Camacho ChacĂłn, Juan Manuel GonzĂĄlez FernĂĄndez und Enrique Velasco hatten die Nase voll davon, in Haft vor sich hin zu faulen. In den Trakten eins und zwei nahmen Sie mehrere Geiseln. Sie verhandelten ihre Flucht und verlangten ein Auto vor dem GefĂ€ngnistor und freies Geleit. Sie drohten damit, die Schließer zu exekutieren. Die Generaldirektion des Strafvollzugs schickte Ángel Yuste Castillejo, stellvertretender Direktor der Strafvollzugsbehörden, und den Strafvollzugsrichter Luis PĂ©rez RomĂĄn, einen fĂŒnfundsechzig Jahre alten Franquisten. Sie gingen in die Anstalt, um mit den Gefangenen zu verhandeln, die inzwischen die Gitter zu dem Flur durchgesĂ€gt hatten, von dem aus im Namen der Behörde verhandelt wurde, um deren Vertreter ebenfalls gefangenzunehmen. Und wirklich, sie gingen in die Falle, und beide wurden ebenfalls zu Geiseln. Draußen gab es einen enormen Aufruhr und die UEI-Spezialeinheiten erschienen auf dem GelĂ€nde. Das Fernsehen brachte die Bilder von Zamoro DurĂĄn und Luque TamajĂłn, wie sie von einem der Fenster des Trakts aus ihre Forderungen nach verbesserten Haftbedingungen in Richtung der versammelten Medienvertreter ausriefen.

Einige Stunden spĂ€ter wurde mitgeteilt, dass einer der Schließer schwer verletzt worden war – er hatte von JosĂ© Romero GonzĂĄlez einen tiefen Schnitt in den Hals verpasst bekommen. Von draußen versprach man die Bereitstellung des Wagens, wenn niemandem sonst etwas angetan und der Verletzte freigelassen wurde. Sie ließen ihn frei, und das war ein Fehler. Mit Erhalten der Nachricht ĂŒber den verletzten Schließer traten die UEI in Aktion, postierten ihre MĂ€nner auf den DĂ€chern und bereiteten SprengsĂ€tze vor. Der Sturmangriff war nur eine Frage von Minuten. Die Spezialeinheiten sprengten die nötigen Öffnungen in die WĂ€nde und drangen in das Innere der Anstalt, bewaffnet mit Pistolen und Sturmgewehren, kugelsicheren Westen und allem möglichen KriegsgerĂ€t, um der mit ein paar Messern bewaffneten Gruppe zu begegnen. JoaquĂ­n Zamoro DurĂĄn bekam bei dem Sturm zwei Kugeln ab, eine ins Bein und die andere ins Handgelenk. Einem farbigen Gefangenen, der dort frei herumlief, ohne bei dem Aufstand mitzumachen, wurde in den Bauch geschossen.

Innerhalb von Minuten waren alle ĂŒberwĂ€ltigt und die Geiseln befreit und am Leben. Den anderen Gefangenen, die an dem Aufstand teilgenommen hatten, wurden mit BaseballschlĂ€gern die Arme und Beine gebrochen; dann wurden sie nackt ausgezogen und ins Krankenhaus gebracht. SpĂ€ter sollte man sie in alle Richtungen verstreute GefĂ€ngnisse verlegen. Nach El Dueso kam JosĂ© Romero GonzĂĄlez, alias El Loco, er wurde mein Nachbar. Er kam am Boden zerstört, völlig kaputt von den SchlĂ€gen, die er hatte ĂŒber sich ergehen lassen mĂŒssen, mit einem AbwehrkrĂ€fte-Index von achtzig und bedeckt mit einem Ausschlag, der sich durch seine Haut fraß und sie mit Eiterbeulen bedeckte. Sie hatten alles auf eine Karte gesetzt und verloren. Die Mehrheit der Teilnehmer an der Geiselnahme waren ĂŒbrigens AIDS-Kranke.

Von uns allen wurden neue Röntgenbilder gemacht. Unsere medizinische Versorgung war nach wie vor beschissen. Die einzige Ausnahme war eine neue Arzthelferin. Sie hieß MarĂ­a del Mar, war erst vor Kurzem dazugekommen und zeigte uns gegenĂŒber Sympathie und Freundlichkeit. Ich gab mich trotzdem hĂ€ufig ernst und distanziert, sie aber war bemĂŒht zu erreichen, dass ich sie nicht als Feindin sah. HĂ€ufig traf sie mich studierend an.

»Du schummelst sicher und schreibst alles ab«, sagte sie lÀchelnd zu mir.

»Wenn ich bloß abschriebe, wozu sollte ich dann lernen?« fragte ich.

»Ich bringe eine Waage, möchtest du dich wiegen?«

»Ja, los, lass mal sehen.«

Es war eine gutmĂŒtige Frau, ich misstraute ihr allerdings, denn sie stand ja schließlich auf der anderen Seite des Gitters. Schließlich sollte diese Frau ihre Arbeit bei uns aufgeben und vor dem Defensor del Pueblo die Misshandlungen zur Anzeige bringen, die wir erlitten, was dieser geflissentlich ĂŒbersah, wie alle anderen Behördenmitarbeiter auf leitendem Posten. Nach einiger Zeit sollte sie die LebensgefĂ€hrtin von Juanjo werden – so ĂŒberraschend und turbulent war manchmal die Bestimmung.

Eines Morgens, mir standen die Provokationen einer bestimmten Gruppe Schließer bis oben, wechselte ich zum ZĂ€hlappell einige Worte mit einem von ihnen.

»Du bist ganz schön mutig, da auf der anderen Seite des Gitters«, sagte ich. »Vielleicht kommst du ja nachher mit auf den Hof, du allein, und wir tragen einen Zweikampf aus, du Schwuchtel, und du hörst auf so anzugeben.«

»Du bist nichts als ein verdammter Hundesohn«, antwortete er.

Nach dem FrĂŒhstĂŒck holten sie mich ab zum Hofgang. Der Schließer, mit dem ich wenige Minuten zuvor gestritten hatte, kam in Begleitung zweier anderer Schließer und eines Dienstleiters, der einen Schlagstock dabei hatte. Als ich an das Gitter treten und die Kleider zur Durchsuchung ablegen sollte, behielt ich meinen Rotz im Mund, es war richtig grĂŒner dabei, und spie ihm mitten ins Gesicht.

»Das im Namen meiner Mutter«, sagte ich, und fĂŒhlte mich richtig gut. Ich hatte schon seit lĂ€ngerem Lust dazu gehabt.

Sie drohten mir und holten die SchlĂŒssel. Ich bereitete mich darauf vor, was nun passieren konnte und lud sie zum Hereinkommen ein, indem ich an das Bett zurĂŒck trat. Als sich die TĂŒr öffnete, kam als Erster etwas unschlĂŒssig der Schließer herein, den ich angespuckt hatte, und ich verstrickte mich in einen Faustkampf mit ihm. Wir hatten noch nicht drei Fausthiebe ausgetauscht, als der Dienstleiter merkte, dass ich mich verteidigte, auf das Bett stieg und mir von oben seinen KnĂŒppel ĂŒberbriet. Ich versuchte, den Schlagstock zu ergreifen und ihm wegzunehmen, doch ein Faustschlag ins Gesicht warf mich an die Wand und von dort zu Boden, wo sie sich dann an mir ausließen. Ein Tritt ins Gesicht brach mir die Nase, der KnĂŒppel sauste immer wieder auf meinen SchĂ€del und ich konnte nicht mehr reagieren. Noch ein paar Tritte und Hiebe, und ich wurde an das TĂŒrgitter geschleift – das alles unter der Aufsicht von zwei weiteren Schließern, bereit zum Eingreifen. Sie banden mich mit den HĂ€nden hinter dem RĂŒcken auf das Bett. Ich war nur halb bei Bewusstsein, das Blut lief mir aus Nase und Mund. Sie gingen dazu ĂŒber, mich zu beschimpfen und den Fernseher und das Fenster zu zerschlagen, um spĂ€ter vor Gericht auszusagen, ich hĂ€tte sie damit angegriffen. Bevor sie die Zelle verließen, zog mir der Schließer, den wir »Pudel« nannten, die Handschellen fest und presste sie mir in die Handgelenke.

Stunden spĂ€ter kam der Arzt. Er ordnete an, mir eine Injektion zu setzen. Ich weigerte mich, also mussten sie Gewalt anwenden und mich auf das Bett drĂŒcken. Sie hielten mich an Armen und Beinen und zogen mir an den Haaren, stellten mich so ruhig und setzten mir die Spritze. Nach dieser mutigen Tat brachten sie mich, immer noch auf dem RĂŒcken gefesselt, in einen Transporter der Guardia Civil, mit Ziel Krankenhaus »MarquĂ©s de Valdecilla«, wie ich hörte. Kurz bevor ich im Transporter verschwand, konnte ich den Direktor sehen, der sich im Hintergrund hielt. Unsere Blicke kreuzten sich. Ich kannte ihn nur vom Sehen, doch ich wusste, dass er es war. Ich hasste ihn. Ich kam in die Notaufnahme, und dort im Krankenhaus warteten auf mich mehrere Polizisten in Zivil. Mit einer Polizeieskorte, die angesichts dessen, welche Gefahr ich dort bedeutete, mehr als stattlich war, wurden mir unter großen Schmerzen die Nasenknochen gerichtet und mein halbes Gesicht eingegipst. Als wir wieder nach El Dueso fuhren, banden mich die Schließer wieder an das TĂŒrgitter. Der Dienstleiter kam, um mit mir zu sprechen. Ich war voll mit Blut und mein Gesicht lag in Gips, was offenbar Eindruck auf ihn machte.

»Mensch, Tarrío, Sie lernen wohl nie, was?«

»Was lernen?« fragte ich und sah ihn wĂŒtend an.

»Siehst du nicht, dass du so immer weiter verlieren wirst, Mann? Schreib, lies oder male, aber provoziere uns nicht, du siehst ja, was dabei herauskommt. Ich sag dir das doch nur deshalb, TarrĂ­o, glaub nicht, dass es angenehm fĂŒr mich ist, dich so zu sehen, und dann mit diesem Bild im Kopf nach Hause zu gehen.«

»Na klar…«, ironisierte ich.

»Kann ich dir die Fesseln abnehmen?«

»Das mĂŒssen Sie entscheiden.«

»Wenn du nichts kaputtmachst oder sonstwas veranstaltest, nehme ich sie dir ab, OK?«

»OK.«

Er nahm mir die Handschellen ab und ging. Die Genossen riefen mich.

»Unser José!« rief Carlos.

»Ja?«

»Wo warst du denn? Wir haben dich die ganze Zeit gerufen…«

»Im Krankenhaus.«

»Wieso das?« wollte Juanjo wissen.

»Sie haben mir die Nase eingegipst, die hatten sie mir gebrochen.«

»Mich haben sie geschlagen, als ich vom Hof hinaufkam, und Juanjo auch«, erklĂ€rte mir Juan. Kannste mal sehen, ich hatte ihnen gesagt, dass sie eine feige Bande sind, und als sie mich vom Hof herbrachten, haben sie mich von hinten gefesselt und verprĂŒgelt. Bei Carlos sind sie auch dringewesen.«

»Beruhigt euch.«

Barrot hatten sie vor mehreren Tagen schon nach Villanubla gebracht. Ich hatte ĂŒber eine Woche im Bett gesteckt, ohne auf den Hof zu gehen, also ging ich an diesem Morgen hinaus, um etwas zu laufen. Ich lief ĂŒber den Hof, als durch ein Fenster der Wachstube der Dienstleiter seinen Kopf herausstreckte, mit dem ich diesen Ärger gehabt hatte, der Feigling mit dem KnĂŒppel.

»Du bist ganz schön zÀh, was?« rief er mir zu.

Mit Abscheu sah ich ihn an und lief kommentarlos weiter; doch er redete weiter, mit einem LĂ€cheln auf den Lippen:

»Wusstest du, dass euer Genosse heute morgen gestorben ist?«

»Welcher Genosse?«

»Barrot. Er hat sich letzte Nacht in Valladolid erhÀngt.«

Ich lief weiter. Ich achtete nicht auf die Gegenwart dieses Schweins und dachte an Barrot. Ich fĂŒhlte nichts fĂŒr ihn, denn wir hatten uns nicht gerade gut verstanden; ich fĂŒhlte aber Wut wegen dieses Vorfalls, wegen der Anstiftung zum Selbstmord, die Tag fĂŒr Tag von denen ausging, die sich Staatsbeamte nannten und die nichts waren als folternde Henker.

Wieder in der Zelle, sprach ich mit den anderen ĂŒber der Neuigkeit. Der Gips war Ă€ußerst unbequem, also nahm ich ihn ab und warf ihn in eine Ecke meines Kerkers. Ich zĂŒndete mir eine Zigarette an. Es sollte die letzte sein, die ich rauchte. Ich genoss ihren Geschmack und sah in den Rauch.

Hast du dich nie wie ein verletztes Tier gefĂŒhlt, und am Himmel zeichnen sich die Schatten der Geier ab? Auch wenn die literarische Baukunst nicht meine StĂ€rke war, wĂŒrde ich eines Tages von all dem erzĂ€hlen mĂŒssen; diese GefĂŒhle erklĂ€ren, die uns alle zu Opfern und zu TĂ€tern machte, in der Hölle GefĂ€ngnis.

Epilog

Als ich mich entschloss, Hau ab, Mensch zu schreiben, wollte ich einfach die RealitĂ€t der GefĂ€ngniswelt bekannt geben und mein reichliches Wissen zum Thema aus direkter Erfahrung. Ich wollte eine unwiderlegbare ErzĂ€hlung und mich der Wahrheit annĂ€hern – ich behaupte nĂ€mlich nicht, sie zu besitzen – damit ihr alle eure eigenen Schlussfolgerungen ziehen könnt, gemĂ€ĂŸ eurer Ideologie und Eigenschaft als Menschen. Als ich die Seiten verfasste, die ihr gelesen habt, und die zusammen das Buch Hau ab, Mensch geworden sind, liefen in Gedanken all die Freunde, Genossen und Menschen an mir vorbei, die in Haft und auf der Flucht meine Familie dargestellt haben, die meisten von ihnen an AIDS gestorben. Jeder Satz, jedes Wort und jeder Gedanke sind eine Ehrerbietung an ihr Gedenken: TrĂ€nen, die nicht aus meinen an das Weinen nicht gewöhnten Augen liefen, heute in Worte gegossen. Deshalb erbitte ich von den Leserinnen und Lesern dieses Buches, seien sie gewogen oder kritisch, dass sie verstehen, dass zum Verfassen dieses Buches viel Leid nötig war, Schmerz und Tote. Ich glaube fest daran, dass es zumindest Respekt und Aufmerksamkeit verdient hat, doch vor allem, und das ist auch sein primĂ€rer Zweck, tiefgehende Reflexion. Alle ins GefĂ€ngnis gesperrten Personen sind bereits auf die ein oder andere Weise verurteilt worden, strengt also keine neuen Prozesse gegen diese Frauen und MĂ€nner an, sondern fragt euch selbst: Ist dieses System wĂŒnschenswert, oder sollte man es Ă€ndern und etwas anderes versuchen? Ihr entscheidet: Seht darĂŒber hinweg oder haltet ein und denkt darĂŒber nach. Dies schon, ihr seid direkt fĂŒr alles das verantwortlich, was ihr bezahlt und mit euren SteuerbeitrĂ€gen aufrecht erhaltet, an euch ist es, zu entscheiden, was mit euren Steuern geschieht.

Hau ab, Mensch ist keine außergewöhnliche Geschichte. Sie ist traurig, aber wahr und wiederholt sich andauernd in den spanischen GefĂ€ngnissen. Sie ist auch der bescheidene Versuch eines literarischen AnfĂ€ngers, eine krude RealitĂ€t zu ĂŒbermitteln, auf Papier gebannt mit den Mitteln des Hauptschulabschlusses. Ich denke, in diesem meinem ersten Aufsatz ist in diesem Sinne Ehrlichkeit alles, was ich euch anbieten kann. Im ĂŒbrigen hatte ich nie vor, ein so ernstes Thema mit literarischen Schnörkeln zu verzieren; ich habe versucht, verstĂ€ndlich zu bleiben, roh, hart und kritisch, wie das Thema es verlangt, ohne in eine Opferrolle zu verfallen, aber auch ohne darauf zu verzichten, die Tatsachen so lebensnah wie möglich wiederzugeben, die man in den offiziellen Medien stets versucht war zu verschweigen. Ich trage die Risiken und Konsequenzen dieser ErzĂ€hlung, denn ich schreibe von einer Zelle aus, und hier bin ich den Exzessen derjenigen ausgeliefert, die ich im Buch offen kritisiere. Mehr noch, ich glaube, dass ich einen zweiten Teil schreiben sollte, um Fragen zu erörtern, die im Tintenfass geblieben sind: Scheinbar normale TodesfĂ€lle wie der von JosĂ© Romero GonzĂĄlez durch AIDS im GefĂ€ngnis Picassent (Valencia), der die letzten Tage seines Lebens im Justizvollzugskrankenhaus ans Bett gefesselt dahinsiechen musste. Die Schließer gönnten sich auf diese Weise ihre persönliche Rache fĂŒr die Geiselnahme von Daroca, mit der Kollaboration des Richters Alberola Carbonell. Oder wie der Tod von Juan Luis SĂĄnchez GonzĂĄlez nach wiederholter schwerer PrĂŒgel von Hand der Schließer in JaĂ©n 2, wo er sich am 29. November 1995 erhĂ€ngte – er war dort mein Zellennachbar, und ich musste jeden Tag die PrĂŒgelorgien und Schmerzensschreie mitanhören, bis sie ihn eines Tages tot fortschafften; er war zweiundzwanzig Jahre alt, hatte es gewagt, einen Schließer anzugreifen und bezahlte das mit seinem Leben. Oder wie der Tod von JosĂ© Luis LĂłpez Montero im September 1993 in der Anstalt AlmerĂ­a, oder der Tod durch ErhĂ€ngen von MoisĂ©s Caamañez in Villanubla (Valladolid) im Juli 1994 – die Schließer kamen rechtzeitig, doch aus Furcht vor einer Simulation ließen sie ihn an einem aus Bettlaken geflochtenen Strick hĂ€ngend sterben. Wie auch der Tod von Isabel Soria Camino, gestorben wegen unterlassener Ă€rztlicher Hilfeleistung 1994 in Villanubla, wie so viele andere TodesfĂ€lle im GefĂ€ngnis wegen der beabsichtigten FahrlĂ€ssigkeit der Strafvollzugsbehörden. Wir dĂŒrfen nicht vergessen, dass vier dieser toten Gefangenen von den illegalen Sonderhaftbedingungen FIES betroffen waren, die in keinem geltenden Gesetz vorgesehen sind. Wir dĂŒrfen nicht vergessen, dass heute an die fĂŒnfzig Gefangene unter diesen brutalen Bedingungen leiden, in den Anstalten Badajoz, JaĂ©n, Villanubla, Valdemoro, Picassent, Sotoreal und Villabona. Dort entzieht man ihnen ihre elementarsten Menschenrechte.

Dieses Buch zu schreiben hat sich ĂŒber zwei Jahre hingezogen, denn ich musste das Manuskript nach und nach heimlich und mit bestimmten RechtsanwĂ€lten als Boten hinausschmuggeln, und in dieser Zeit war ich Zeuge von Ereignissen, die Stoff fĂŒr ein weiteres Buch hergeben, ganz ehrlich. Es ist wahr, dass ich im gesamten Buch nur ĂŒber die HĂ€ftlinge im Geschlossenen Vollzug berichte, und das aus zweierlei GrĂŒnden: Einerseits, weil der Geschlossene Vollzug und FIES die einzigen Haftbedingungen sind, die ich kennen gelernt habe, und andererseits, weil die in Isolation Gefangenen zusammen mit den Sterbenskranken es am meisten benötigen, dass ihre Bedingungen und Probleme bekannt werden. SelbstverstĂ€ndlich sind es keine makellosen Personen und ohne Zweifel sind die meisten von ihnen gewalttĂ€tig, doch… warum sind sie es? Den SchlĂŒssel zu dieser Frage bietet das vorliegende Buch. Ich will die BrutalitĂ€t, die in Haft zwischen den Gefangenen leider existiert, nicht verschweigen, und habe deshalb in diesem Sinne erschĂŒtternde Passagen in die ErzĂ€hlung aufgenommen und dabei versucht, nah an der Wirklichkeit zu bleiben, ohne etwas hinzuzufĂŒgen oder wegzulassen.

Nach vielen Jahren in Isolation lernt man so einiges ĂŒber die Menschen, und es ist wahr, dass viel davon nichts als Frucht unserer eigenen BrutalitĂ€t ist; Allerdings tragen diese Persönlichkeiten zweifellos Hingabe, Mut und eine unglaubliche SolidaritĂ€t im Herzen, und das wird vom Verhalten Einiger nicht geschmĂ€lert. Ich kenne MĂ€nner und Frauen, die ihre Haft mit einer WĂŒrde tragen, die einen staunen lĂ€sst; Gefangene mit einem so reinen Gewissen, dass viele von euch es sich fĂŒr sich selbst wĂŒnschten, und ich fĂŒr mich. Die meisten Botschaften in diesem Buch habe ich von ihnen gelernt, aus ihren Briefen und von ihrem LĂ€cheln, von ihren AufstĂ€nden und Rebellionen, von ihrer gewaltigen Menschlichkeit – dem habe ich das Wertvollste zu verdanken.

Ich wollte es nicht in jedem Fall publik machen, um keine PrivatsphĂ€re zu verletzen, aber die ĂŒbergroße Mehrheit der in diesem Buch vorkommenden Personen sind TrĂ€ger von HIV und erwarten einen baldigen Tod. In jedem Fall sind sie beispielhaft wĂŒrdig und solidarisch im Umgang mit den anderen. Ich muss euch auch sagen, dass ich mich bei einigen Datumsangaben geirrt haben kann, und dass einige Dialoge, die im Buch vorkommen, keine wortgetreue Wiedergabe des Originals sein konnten, denn wie auch sollte ich mich an vor Jahren stattgefundene Dialoge wortgetreu erinnern? Aber dies schon: die Inhalte sind dieselben, wie auch mein eigener GesprĂ€chston, der meinem Charakter entspricht.

Was mich selbst angeht, so gibt es wenig zu sagen. Ich habe mich benutzt, um einiges im GefÀngnis Geschehene zu erzÀhlen, das die Strafvollzugspolitik der PSOE im spanischen Statt kennzeichnet, von mir Gehörtes, Miterlebtes oder selbst Getanes. Ich habe die Gelegenheit genutzt, um euch verstÀndlich zu machen, was ich halte von diesem verfaulten, unmenschlichen System bar jeder Intelligenz, das ich aus ganzem Herzen verabscheue.

Jetzt hoffe ich nur, mit diesem Text dazu beitragen zu können, etwas Besseres zu schaffen. Ich habe immer an den freien und unabhĂ€ngigen Menschen geglaubt, nicht an die Institutionen. Ich hoffe, dass diese ErzĂ€hlung dabei helfen kann, wenigstens die Hoffnung zu retten und Utopien zu ernĂ€hren – der Ersatz der GefĂ€ngnisse durch Schulen, beispielsweise. Vielleicht kann sie auch dazu beitragen, die ein oder andere ungerechte Behandlung von MĂ€nnern und Frauen zu vermeiden, irgendwo auf der Welt, in der Zukunft, die danach giert, mich hinter sich zu lassen. Hoffentlich dient diese ErzĂ€hlung dazu zu verhindern, dass irgendein Kind aus einem armen Viertel, dessen Ketten bereits geschmiedet werden, die Zelle belegt, die frei wird, wenn das GefĂ€ngnis einmal meine Leiche auswirft. Wenn es dazu kĂ€me, wĂ€re ich glĂŒcklich und zufrieden. WĂ€hrend die noch nicht geschehener Dinge schwangere Zukunft sich auf uns zubewegt, kratzt mein Kugelschreiber hier zwischen den kalten WĂ€nden dieses kalten Grabes aus Beton, die auf euren teilnahmslosen Gewissen gebaut sind. Er kratzt ĂŒber das Papier und auch ich bekomme eine GĂ€nsehaut. GĂ€nsehaut vor menschlicher und moralischer KĂ€lte… Ich werde nicht zulassen, dass sie meine GefĂŒhle und Gedanken abtöten, ich werde meine Schreie nicht verstummen lassen und nicht mein kindliches GefĂŒhl und nicht die Freiheit, die ich in mir strömen fĂŒhle. Ich werde nicht zulassen, dass sie meine Werte mit LĂŒgen erdrĂŒcken: Sie sind mein Salz des Lebens, meine Nahrung. Ich bin kein Wimmern: Ich bin Kriegsgeschrei aus der unendlichen Dunkelheit und Tiefe des GefĂ€ngnisses.

Xosé Tarrío Gonzålez

GefÀngnis Topas (Salamanca)

18. MĂ€rz 1996

Danksagungen

Der AsociaciĂłn Madres contra la Droga, Señora Manoli Navas (die so gut zu uns war), Salhaketa (das fĂŒr die Rechte der Gefangenen kĂ€mpft), CASCO, der Plataforma und allen Gruppen, die AIDS- kranke Gefangene unterstĂŒtzen,

Javier Ávila Navas und Carlos Esteve GarcĂ­a (die mir dabei geholfen haben, einen Großteil dieses Textes mit der Maschine zu schreiben), Santiago Izquierdo Trancho, Carlos GarcĂ­a Lago und seinem Bruder Óscar, Juan JosĂ© Garfia RodrĂ­guez (der mir den ersten Entwurf korrigiert hat und mir dabei geholfen hat, ihn zu verbessern), JoaquĂ­n Zamoro DurĂĄn (er möge frei und glĂŒcklich sein),

Edmundo Balsa Franco, Patric de San Pedro (der eher als ein Herausgeber ein Genosse war, der die RealitÀt im GefÀngnis gesehen und uns eine Stimme verliehen hat) und den Genossen bei Virus,

Gloria, Marian, Sefa, Karmele und Usune (die Isolationszellen mit einem LĂ€cheln erfĂŒllt haben), Juan GonzĂĄlez FernĂĄndez (der mir seine Hand anbot, als ich es brauchte; hoffentlich bist du bald frei,

mein Freund!), MarĂ­a del Mar Villar (die menschlich mit uns umgegangen ist); der Frau, die mir die echte Liebe geschenkt hat und das GlĂŒck, sie auszuleben,

MarĂ­a Alexandra de QueirĂłs Vaz Pinheiro, allen, die mir auf irgendeine Weise im Knast geholfen haben, die nicht mehr unter uns weilen, die sich vor eine Schreibmaschine setzen, um ein neues Buch in die Welt zu setzen, das all das enthĂ€lt, was ich aus Ignoranz nicht beizusteuern wusste… und vor allem allen, die in Haft kĂ€mpfen, deren Namen unbekannt sind, doch deren Kampf wir so viel zu verdanken haben.

Toni, ein junger Mann mit 21 Jahren, hat mich vergangenen MĂ€rz am sechzehnten Tag seines Hungerstreiks daran erinnert…

Allen eine anarchistische Umarmung

Anhang: Interview mit Julia und Pastora

Aachen, Juni 2005

Wir werden uns ein Bisschen mit zwei MĂŒttern von Gefangenen unterhalten, von denen einer, XosĂ© TarrĂ­o, traurigerweise im Januar diesen Jahres vom spanischen GefĂ€ngnissystem umgebracht worden ist. Seine Mutter Pastora ist hier. Ebenso Julia, die Mutter von Gabriel Pombo da Silva, dem zur Zeit in Aachen der Prozess gemacht wird. Wir werden sehen, was sie beide als MĂŒtter denken und was sie als Personen von der Behandlung halten, die ihre Söhne im GefĂ€ngnis erleben. Wir wollen wissen, was sie ĂŒber das GefĂ€ngnis denken, ĂŒber die spanischen GefĂ€ngnisse im Speziellen, doch im Grunde ĂŒber die GefĂ€ngnisse in aller Welt.

Zu Beginn fragen wir, wie sie sich als MĂŒtter fĂŒhlen, mit ihren Söhnen hinter Gittern, und wir fragen nach den Schwierigkeiten, die so viele Jahre mit sich gebracht haben. Wir glauben, dass es am besten ist, ein offenes Interview zu fĂŒhren, in dem beide darĂŒber sprechen, was sie fĂŒhlen. Wenn ihr beginnen wollt: Was bedeutet fĂŒr Euch das GefĂ€ngnis?

Pastora: Ich will mit dem GefĂ€ngnis beginnen. Das GefĂ€ngnis löst kein einziges Problem, ich meine, das GefĂ€ngnis resozialisiert niemanden und es ist nie eine Lösung. Ich werde als Beispiel den Fall meines Sohnes hernehmen, den kenne ich am besten. Meinem Sohn haben sie im Endeffekt 17 Jahre GefĂ€ngnis aufgedrĂŒckt – er war in Haft gekommen, um zweieinhalb Jahre zu verbĂŒĂŸen. Er hat keine Bluttat begangen – draußen. Er kam in Haft wegen kleiner DiebstĂ€hle, die nicht seinem Lebensunterhalt dienten, denn obwohl wir arm waren, arrangierten wir uns mehr oder weniger, sondern um ein paar Drogen zu konsumieren. Diese zweieinhalb Jahre sind zu 17 Jahren geworden, 17 Jahre, von denen sie ihn 12 unter FIES-Bedingungen hielten. Draußen hat er niemanden umgebracht, doch drinnen tötete er einen Mitgefangenen, aus Notwehr. Das heißt, dass das GefĂ€ngnis nicht etwa dazu fĂŒhrt, jemanden zu resozialisieren. Das einzige, wozu es fĂŒhrt, ist Zerstörung, sie nimmt demjenigen, der drinnen ist, und denen, die draußen sind, jede Lust zu leben. Das GefĂ€ngnis fĂŒhrt nur zur physischen und psychischen Zerstörung. Es macht den Gefangenen und es macht seine Familie fix und fertig.

Bei XosĂ© zum Beispiel fragen viele Leute, warum er 17 Jahre im GefĂ€ngnis verbracht hat, wo er doch nur zweieinhalb hĂ€tte verbĂŒĂŸen sollen. Mein Sohn, und ich sage das nicht, weil er mein Sohn ist, war stets eine saubere Person, rein im Herzen, obwohl viele das nicht glauben mögen, und er war immer jemand, der die Folter, die PrĂŒgel, was sie alles mit ihnen machten, angezeigt hat. Er hat mir, seiner Mutter, erzĂ€hlt, wie sie die HĂ€ftlinge ruhigstellen, wie sie dafĂŒr sorgen, dass ihnen die Gefangenen nicht auf die Nerven gehen. Sie setzen sie unter Drogen, sie geben ihnen Pillen. Eine Person unter Drogen geht nicht auf die Nerven, beschwert sich nicht, macht gar nichts. Er aber war jemand, der mit der Zeit viele ZusammenhĂ€nge verstand und sich weigerte, die Pillen zu sich zu nehmen, und er verweigerte die Zusammenarbeit, das heißt er verweigerte sich dem, was sie mit ihm vorhatten, denn er sah, dass dies nicht gut war; die Dinge stehen drinnen schlechter als draußen auf den Straßen könnte man sagen. Und seine Beschwerden ĂŒber dies alles sollten zu seinem Albtraum werden. Sie steckten ihn in Isolation wegen seiner Forderungen nach Rechten fĂŒr alle HĂ€ftlinge. Sie haben ihn gefoltert, sie haben ihn verprĂŒgelt, sie haben ihn ans Bett gefesselt… Sie haben ihm so viele DemĂŒtigungen und Schikanen angetan…

Können Sie sich 12 Jahre vorstellen? Kannst Du [sich der Interviewerin zuwendend] Dir vorstellen, dass sie Dich oder einen der Deinen zwölf Jahre festhalten, in seinen besten Jahren, im Alter von siebzehn? Ich glaube, wenn ein Mensch Drogen nimmt und sie ihn Dir im Alter von siebzehn wegnehmen, dass es Psychologen geben sollte, ich meine spezialisierte Zentren, in denen man schaut, warum der Junge Drogen nimmt, warum er kleine DiebstĂ€hle begeht. Ich von meinem Standpunkt als Mutter aus und als Person, die ich bin, meine, dass es solche spezialisierten Zentren geben sollte, mit freundlichem und hilfsbereitem Personal, mit dem man normal reden kann, nicht das GefĂ€ngnis! Und warum diese zwölf Jahre Isolationshaft… Wie können sie eine Person zwölf Jahre eingeschlossen halten, allein, denn er hat mir erzĂ€hlt, dass sie ihn nicht einmal zum Hofgang mit den anderen Gefangenen sprechen ließen.

Kannst Du uns erklĂ€ren, was die FIES-Haftbedingungen sind, denen auch Gabriel unterworfen war – auch er ist FIES-Gefangener?

Julia: Ja.

Pastora: Nun, ich rede von meinem Sohn, und genau wie der meine auch er, und heute sitze ich hier mit der Mutter Gabriels, der enger Freund meines Sohnes war. Auch dieser ein Junge, der frĂŒh angefangen hat – sie beide mochten sich sehr und mein Sohn hat mir erzĂ€hlt, dass Gabriel ein guter Junge mit einem guten Herzen ist, und was ich von ihm kenne, bestĂ€tigt es: Er ist ein guter Mensch. Eines Tages sprach ich mit seiner Mutter per Telefon, und sie sagt mir, dass sie ihn als Terroristen eingestuft haben… [lacht, wendet sich Julia zu:] Entschuldige, die Terroristen sind sie selber.

Julia: Genau.

Pastora: Sie sind es, und wir und unsere Söhne werden von diesen Leuten kontrolliert, doch wer kontrolliert sie? Im GefĂ€ngnis wird gefoltert und geprĂŒgelt, und die Vollzugsbeamten machen alles mit den Gefangenen, was sie wollen, ich weiß, dass es wahr ist, denn unabhĂ€ngig von all diesem bin ich Mitglied im Kollektiv Nais en Loita und wir haben viele Anzeigen von jungen Leuten bearbeitet… Wir sind im Besitz vieler von Gefangenen gezeichneten Dokumenten, die Auskunft darĂŒber geben, was sie alles mit ihnen machen. Das GefĂ€ngnis ist nicht gut. Ich meine, innerhalb der GefĂ€ngnisse sind die, die dort arbeiten, schlechter als die, die als die StraftĂ€ter gelten. Viel, viel schlechter.

Meinen Sohn hielten sie also dort gefangen und ich habe immer geglaubt, dass sie ihn mir nicht lebend zurĂŒckgeben, dass mein Sohn das GefĂ€ngnis erst als Toter verlassen wĂŒrde, und so ist es geschehen. Nach 17 Jahren, von denen er ĂŒbrigens anderthalb Jahre verbĂŒĂŸt hat, ohne verurteilt zu sein und ohne Hafturlaub oder irgendetwas zu genießen, lassen sie ihn los. Ich erinnere mich, dass als ich hinfuhr, um meinen Sohn abzuholen, er zu mir sagte: «Mama, fahr vorsichtig mit dem Auto, denn die HĂ€user wanken und wackeln von einer Seite auf die andere.»

Mein Sohn war in der Wohnung seiner Mutter und sah das große Bett… Ich sage das, weil mich beeindruckt hat, wie er fĂŒhlte und wie er sagte: «Aah, endlich ein großes Bett fĂŒr mich». Er wickelte sich die Decke um den Körper, und ich glaubte, genau so machte er es auch im GefĂ€ngnis. Er wickelte sich die Decke um den Körper, ganz eng, als ob ihm kalt wĂ€re, er genoss nicht die ganze Breite des Bettes… er stand oft auf in der Nacht, konnte nicht schlafen. Wenn er schlief, schlief er mit einem geöffneten und einem geschlossenen Auge. Das heißt, im GefĂ€ngnis war er stets auf der Hut vor etwas, was kommen könnte, was ja auch oft genug geschah…

Julia: Er war ja in Isolation…

Pastora: Klar. Und kaum versuchte er zu gehen, stolperte er schon, ich meine, die drei Monate, die mein Sohn außerhalb des GefĂ€ngnisses verbracht hat, konnte er seine Freiheit nicht genießen, sie hatten ihn körperlich und geistig fertiggemacht.

Dein Sohn war bereits einige Zeit krank…

Pastora: Mein Sohn war krank.

Und die Krankheit holte er sich im GefÀngnis.

Pastora: Ja, und was ich auch sagen wollte… [streichelt das Foto ihres Sohnes] Die Kranken sollten im Krankenhaus sein, nicht im GefĂ€ngnis. Mir sollen sie nicht weismachen, es bestehe Gerechtigkeit, denn fĂŒr den Armen gibt es keine Gerechtigkeit, fĂŒr die Armen gab es nie Gerechtigkeit. Denn im GefĂ€ngnis sieht man nur Arme, und das GefĂ€ngnis ist fĂŒr die Armen geschaffen worden. Die Richter sollen mir sagen, ob es auch Reiche im GefĂ€ngnis gibt.

Julia: Es gibt welche, doch die kommen raus.

Pastora: Es gibt sie nicht, sie kommen nicht einmal hinein, sie kommen nicht in die Lage, im GefĂ€ngnis schlafen und dort leben zu mĂŒssen. Die großen DrogenhĂ€ndler, die sich am Leiden so vieler Familien bereichern, die so viele Kinder und Enkel umbringen, die sich große HĂ€user bauen, die ihre eigene Familie wunderbar erhalten… die zahlen eine Kaution und schon sind sie wieder auf der Straße. Und Dein Sohn [wendet sich Julia zu] und der meine rauchen eine kleine Dosis und finden sich drinnen wieder. Und obendrein gibt es im GefĂ€ngnis viel mehr Drogen als draußen.

Julia: Ja, das stimmt.

Pastora: Ich bringe sie ihm nicht, die Familienangehörigen schmuggeln nichts hinein. Im GefÀngnis selbst wird mit Drogen gehandelt.

Julia: Ja.

Pastora: Die Beamten selbst, die Leute, die dort arbeiten. Und niemand sonst, denn als ich hineinging, um meinen Sohn zu besuchen, haben sie mich von oben bis unten durchsucht. Und schlimmer, denn in JaĂ©n, als er in JaĂ©n einsaß, fuhr ich mit meinen zwei Töchtern hin… Es war verboten, die Leute nackt auszuziehen, doch als wir meinen Sohn sehen wollten, musste ich mit ansehen, wie sie meine Töchter nackt auszogen, falls nicht, dĂŒrften wir ihn nicht sehen. NatĂŒrlich! Ich musste es zulassen, denn wir kamen von einem Schweizer Flughafen und hatten die Tickets bezahlt, und schlussendlich waren wir daran interessiert, unseren Sohn zu sehen, denn deswegen waren wir ja angereist. Doch es ist erniedrigend fĂŒr eine Mutter mit anzusehen, wie sie ihre Töchter betatschen, und wie sie… es ist beleidigend. Es ist beleidigend, und dann die Behandlung, die sie uns als Familie angedeihen ließen… Ich rede schon gar nicht mehr davon, was sie ihm alles angetan haben, sondern uns… Jedes Mal schickten sie die Gefangenen in fernere Haftanstalten.

Julia: Ja…

Pastora: Wir sind eine emigrierte Familie, wie es auch die Familie der Mutter von Gabriel ist. Um zu essen, muss den ganzen Tag gearbeitet werden, so ich, so meine Töchter. Und jetzt arbeite ich nicht mehr, weil ich mir eine Krankheit geholt habe, die nicht zulĂ€sst, dass ich weiter arbeite. Und wie oft haben wir die Banken um Kredit bitten mĂŒssen, um reisen und unsere Söhne besuchen zu können, denn sie schicken sie bald hierhin, bald dorthin, sie schicken sie in die entferntesten Ecken. Wir… wir konnten wenigstens noch hinreisen, um sie zu sehen, doch die MĂŒtter, die keinen Cent besitzen…

Julia: …keinen Cent, um sie besuchen zu können…

Pastora: …um ein Taxi zu bezahlen, eine Bahnfahrt…

Oder sie bekommen keinen Urlaub…

Pastora: Das meine ich, viele bekommen keinen. Ich kenne eine Mutter eines anderen Gefangenen, die es sich nicht leisten kann…

Julia: Du reist 2000 Kilometer weit und sie lassen Dich ihn nur durch dicke Glasscheiben hindurch sehen…

Pastora: Wie viele Male, bis vor 5 oder 6 Jahren, durfte ich nur 20 Minuten hinein, nach einem Jahr ohne Besuch nur 20 Minuten und durch die Glasscheiben…

Das Schlimmste an allem ist, dass mein Sohn nach 17 Jahren im Alter von 36 am GefĂ€ngnis verstarb, nicht an seiner Krankheit, er verstarb am GefĂ€ngnis… sie haben ihn umgebracht, sie waren es!

Denn als Kranker hĂ€tte er nicht unter FIES-Bedingungen sein dĂŒrfen, nicht einmal im GefĂ€ngnis.

Einmal sprach ich mit einem Direktor und man sagte mir, mein Sohn sei ein RĂ€delsfĂŒhrer im GefĂ€ngnis.

Ein RĂ€delsfĂŒhrer?

Pastora: Ein AnfĂŒhrer fĂŒr seine Genossen. Was TarrĂ­o ĂŒber die GefĂ€ngnisse sagte, fand tatsĂ€chlich statt. Es war, weil er Forderungen stellte… TarrĂ­o war an zwei AufstĂ€nden beteiligt, weshalb sie ihn als gemeingefĂ€hrlich eingestuft haben, und bei der Revolte auf Teneriffa wurden Geiseln genommen [Julia stellt das Foto von XosĂ©, welches Pastora gestreichelt hatte, vor die Kamera], um mit Christina Almeida zu sprechen, das ist eine Politikerin, um Verbesserungen der Haftbedingungen zu fordern fĂŒr ihn und seine Mitgefangenen. Weil sie keine BĂŒcher in der Bibliothek hatten. In Valladolid löste er einen anderen Aufstand aus, doch er verprĂŒgelte niemanden, tötete niemanden, er ließ alle frei. Was nennen sie dann gemeingefĂ€hrlich? Die Forderung nach SportplĂ€tzen und BĂŒchern?

Die Einforderung seiner Rechte?

Pastora: Genau, die Einforderung seiner Rechte, wie er es mir sagte: »Mama, wenn ich etwas getan habe muss ich dafĂŒr bezahlen. Doch sie haben kein Recht dazu, uns dies anzutun.« Er sagte: »Mich haben sie ins GefĂ€ngnis wegen Diebstahl gesteckt, weil ich einen mickrigen Diebstahl begangen habe, doch wer macht ihnen den Prozess dafĂŒr, dass sie mir mein ganzes Leben rauben?«

Julia: Ja.

Pastora: Weil sie ihm das Leben und die Lust daran geraubt haben. Es war furchtbar, und einen Moment spÀter geben sie ihn mir, tot.

[Das Foto herzeigend:] Dies ist mein Sohn XosĂ© TarrĂ­o, ein guter Sohn und ein noch besserer Mensch, und sie haben ihn mir tot geschickt, sie haben ihn mir geschickt, mausetot, als ihn schon halb-tot vom GefĂ€ngnis der Gehirnschlag traf… Ich will, dass alle Welt dieses Foto sieht [hĂ€lt das Foto in die Kamera], als ihn der Gehirnschlag traf, konnte er weder Arm noch Bein bewegen, die Ärztin sprach mit mir: Der Gehirnschlag könne sich wiederholen… [streichelt das Foto]

Doch bevor sie sagten, es sei ein Gehirnschlag, sprachen sie von einer Grippe…

Pastora: Nein, im GefĂ€ngnis, siehst Du… Ich ĂŒberschlage mich schon, es geht mir schlecht bei all der Erinnerung. Es war so: Als ich hinfuhr, um meinen Sohn zu besuchen, sah ich, dass es ihm schlecht ging, von Mal zu Mal war er dĂŒnner und sah schlechter aus. Einmal wĂ€hrend des Essens sagte ich ihm etwas… er hielt sich den Arm mit der anderen Hand und ich fragte: »Was hast du am Arm?« und er sagte: »Ich weiß nicht, was es ist, ich fĂŒhle den Arm kaum.« Ich glaubte, es sei ein bisschen Rheuma und sagte dies zu ihm, und wir schenkten dem nicht viel Beachtung. Einen Monat spĂ€ter – denn ich fuhr jetzt einmal im Monat hin, er wollte seine Mutter nicht durch Scheiben hindurch sehen, so fuhr ich nur zu den Vis-a-vis-Terminen, vis-a-vis heißt wie ihr wisst, im selben Zimmer zu sein – da also sah ich ihn wieder sich den Arm halten und fragte: »XosĂ©, was hast du am Arm? Du musst zum Arzt, geh hin, damit sie dich untersuchen.« Ich sah den Arm abgestorben, herunterhĂ€ngend, und ich sah, dass ihm der Speichel aus dem Mund lief und der Mund schief war, ich fragte ihn: »Geht es Dir gut, merkst Du, dass Dir der Speichel aus dem Mund lĂ€uft?« Er stand auf und ging zum Fenster, und ich sah, dass er wankte. Ich sagte: »XosĂ©, Dir geht es nicht gut«, und er: »Ich weiß nicht, was mit mir los ist«. Ich sagte ihm, er solle rasch zum Arzt gehen und sich untersuchen lassen, denn es konnte etwas Schlimmes sein. Er ging hin und sagte spĂ€ter, sie hĂ€tten ihm Grippe diagnostiziert und eine Aspirin verschrieben, so wie sie es mit allen Gefangenen im Knast machen, denn die Gefangenen sind ihnen allen egal. Als ich das nĂ€chste Mal hinging, es waren 3 Monate vergangen, sah ich, dass mein Sohn seinen Arm festhalten musste. Ich fragte ihn danach und er sagte: »Ich fĂŒhle ihn nicht, Mama.« Und natĂŒrlich ging ich hinaus und bat darum, dass sie seinen Arm untersuchten, und fragte, ob sie denn nicht bemerkt hĂ€tten, dass er ein Bein beim Gehen hinter sich her zieht. Sie sagten mir nichts, antworteten mir nicht, und ich sagte ihm: »XosĂ©, geh zum Arzt!« Er ging noch einmal zur Ärztin, er hat es mir erzĂ€hlt, er begab sich auf die Krankenstation, die alles ist, was sie dort haben, und sie gaben ihm eine Aspirin. Es verstrichen noch einmal drei Monate, und statt einer Aspirin war es jetzt… – Im Juni, ungefĂ€hr am 28. Juni rief er mich an und sagte »Mama!«, und seine Stimme hörte sich seltsam an, und ich sagte »ChechĂ©, was ist los?« und er sagte »Mama, ich weiß nicht, ich fĂŒhle mich nicht sehr gut«, ich fragte ihn, was er habe, und dass seine Stimme so seltsam sei und er sagte: »Schau, ich komme gerade aus dem Krankenhaus.« – »Was ist los? Geht es Dir schlecht? Was hast Du?« – »Sie haben mir gesagt, es ist eine Thrombose.« Und ich fragte: »Und was machst Du jetzt, wo bist Du, was machst Du noch im GefĂ€ngnis, warum lassen sie Dich nicht im Krankenhaus?« – »Ich habe mich freiwillig gesund gemeldet, weil ich Deine Telefonnummer vergessen hatte. Ich wollte Dich anrufen.« Mein Sohn, wie musste es ihm gehen, dass er die Telefonnummer seiner Mutter vergisst. Ich sagte ihm, er solle rasch ins Krankenhaus zurĂŒckkehren, seine Mutter wĂŒrde dort sein, er solle sich beeilen. Also ging er noch einmal ins Krankenhaus, und seine Mutter war dort, er war dort, ich sah, wie sie ihn im Rollstuhl herum schoben, ich wollte hingehen, um ihn zu sehen, doch die Polizei verbot mir logischerweise den Zugang. Sie verboten mir, ihn zu sehen, weil er sich immer noch in der Notaufnahme befand. Sie sagten mir, ich könne ihn sehen, sobald er die Notaufnahme verlĂ€sst, sobald sie ihm ein Zimmer zuwiesen.

Er kam heraus. Ich ging hin, um ihn zu sehen. Ich durfte nicht. Ich sagte: »Aber ich bin doch seine Mutter, ich habe ein Recht, ihn zu sehen, denn außerdem bin ich angemeldet.« Der Polizist sagte »Ja.« Dieser Polizist! Er ließ mich nicht durch und sagte: »Hier habe ich Ihre Anmeldung.« Er nannte mir meinen Namen, den meiner Kinder Emilia, Óscar und den seines »Stiefbruders«. Und ich sagte ihm: »Sehen sie, ich weiß nicht, ob in Ihrer Familie das Wort ‘Stiefbruder’ existiert, in der meinen nicht, in der meinen sind alle Geschwister, also haben Sie ein wenig Respekt vor der meinen.« Er antwortete mir, dass dieses Wort im spanischen Lexikon existiere, und ich sagte ihm, na ja, ich wollte ihm etwas sagen, doch ich tat es nicht, denn ich wollte ihm ein böses Wort sagen. Ich sagte: »Na ja«.

Ich durfte ihn nicht sehen, er hielt mir den Anmeldeschein vor die Nase und sagte mir, er habe keine Lust, mich durchzulassen. Ich sagte ihm: »Sie haben mir eine ErklĂ€rung dazu abzugeben, wieso sie mich meinen Sohn nicht sehen lassen«, und er sagte, es sei, weil er keine Lust habe. Ich verlangte die Nummer seiner Dienstmarke. Er sagte mir, dass ich falls ich ihn anzeigen wollte, mich auf den Wachhabenden der Schicht ab acht beziehen solle. Mit absoluter Schadenfreude. Mein Sohn… als er mitbekam, dass ich dort war und sie mich nicht durchließen, fing er an zu schreien: »Lasst meine Mutter durch, lasst sie herein!« Ich rief ihm zu, er solle ruhig bleiben, sie wĂŒrden mich schon noch durchlassen.

Ich ging fort, am nĂ€chsten Tag versuchte ich es noch einmal, es war wieder dieser Herr vor Ort und verbot mir den Eintritt…

Derselbe Beamte?

Pastora: Derselbe Beamte. Und ich weiß nicht, warum, denn das Benehmen meines Sohnes und das meine waren stets korrekt gewesen. Und abermals und nochmals nein. Bis ich um acht Uhr abends wiederkam, ging ich spazieren, weinte, ging weiter herum. Mein Sohn war aufgeregt, ich bat ihn, sich zu beruhigen, weil ihm die Aufregung schadete: »Bleib ruhig, deine Mutter kommt schon noch durch.« Als ich nach Hause kam, griff ich zum Telefon und bat Leute um Hilfe, doch warum bloß muss ich erst Leute um Hilfe bitten, wo ich doch Rechte besitze und mein Sohn auch. Wo er doch im Krankenhaus ein Kranker mehr ist, und kein Gefangener, ein einfacher Kranker. Und als Mutter darf ich ihn die drei oder vier Stunden, die das Hospital vorsieht, sehen, und das alles hat das Krankenhaus »Juan Canalejo« bestĂ€tigt. Als ich am nĂ€chsten Tag hinging, nein, es war noch derselbe Tag, sagte ich zu dem Polizisten: »Mein Herr, wollen Sie sehen, wie ich hineingehe, um meinen Sohn zu besuchen?« – Er: »Das wollen wir doch mal sehen!« – Ich: »Sie werden es sehen!« Ich rufe ĂŒber Telefon gewisse Leute an, die es mir nicht gefĂ€llt, um Hilfe zu bitten, denn es gibt gewisse Rechte, und diese Rechte sind die, die gelten sollten, und nicht, dass du gewisse Leute kennst, das gefĂ€llt mir nicht. Doch natĂŒrlich wollte ich meinen Sohn sehen.

Also riefen sie mich auf und teilten mir mit, dass ich meinen Sohn sehen könne, man hatte nÀmlich mit dem Vorgesetzten gesprochen. Ich ging hinein, um meinen Sohn zu sehen, und er hatte keine andere Möglichkeit, als mich durchzulassen. Ich ging also hinein, um meinen Sohn zu sehen. Ich bemerkte zunÀchst nicht, dass er gefesselt war. Sie gaben mir 10 Minuten, und 10 Minuten war ich bei ihm. Ich gab ihm einen Kuss und verabschiedete mich bis zum nÀchsten Mal.

Als ich das nĂ€chste Mal dorthin ging, ich weiß nicht ob einen oder zwei Tage spĂ€ter, fand ich dort wieder diesen Herrn vor, und als ich hineinging und meinen Sohn sah, mit einer gelĂ€hmten Hand, mit nur einer Handschelle, und statt ihn an das Kopfende des Bettes zu fesseln, hatten sie ihn an das Lattenrost geschnallt, stell dir das vor [sich der Interviewerin zuwendend], ja genau so fand ich meinen Sohn vor [das Foto herzeigend], mit nur einer Handschelle an das Lattenrost gefesselt. Stell Dir vor, er konnte sich nicht einmal umdrehen, er konnte gar nichts machen.

Als ich den Arm noch dazu ganz rot angelaufen sah, ohne Blutkreislauf, denn die Schelle war ganz fest zugedrĂŒckt, schon ganz geschwollen, und ich dort, ich sagte ihm… und dieser Herr, jedes Mal wenn ich kam, regte er sich auf… Mein Sohn lag in einem Zweibettzimmer. Eins war von ihm belegt, das andere war leer. Wenn er drin war, blieben die anderen Polizisten im Flur, und wenn ich hereinkam, stellte sich dieser Polizist hierhin, ans Kopfende des leeren Bettes, um zu provozieren. Er tat es, um zu provozieren, um das ganze GesprĂ€ch mit anzuhören – wenn du deinen Sohn im GefĂ€ngnis besuchst, ist das nicht so. Und ich sagte zu dem: »Sehen Sie, wenn ich meinen Sohn so sehe, passiert etwas mit mir…«, ich sagte: »Hören Sie, ich spreche nicht als Mutter zu ihnen, sondern als Person, wenn ich Sie frage: Sind Sie Vater?« und er sagte »Ja, ich habe drei Kinder, doch die sind nicht wie die Ihren.«

Das hat er gesagt?

Pastora: Ja, genau das. Ich sagte: »Hören Sie, ich habe fĂŒnf Kinder, und auf alle fĂŒnf bin ich ĂŒber alle Maßen stolz, wissen Sie, warum? Weil meine Kinder die Liebe kennengelernt haben. Ich habe meinen Kindern die Liebe gezeigt, sie haben die Liebe kennengelernt und haben GefĂŒhle. Doch Sie tun mir furchtbar Leid, denn Sie haben weder die Liebe kennengelernt noch haben Sie GefĂŒhle, und ihre Kinder tun mir ebenfalls Leid. Ich wĂ€hle meine Worte vorsichtig: Mit einem Vater wie Ihnen weiß ich nicht, was aus diesen Kindern werden wird«, woraufhin er wutentbrannt den Raum verlĂ€sst, zurĂŒckkommt mit einem Schreibblock voll mit Notizen, er setzt sich wieder dort hin und sagt zu meinem Sohn: »Können Sie lesen und schreiben?« NatĂŒrlich ist das eine Provokation und TarrĂ­o sagt zu ihm. »Besser als du, Ignorant! Denn ich kann Dir den Artikel der Spanischen Verfassung nennen«, Artikel sowieso, Seite sowieso (ich kann mich jetzt nicht erinnern), »in dem steht, dass ein Gefangener nicht unter diesen Bedingungen gehalten werden darf, unter denen Du ihn hĂ€ltst«. Und der andere sagt: »Es gibt keinen Artikel, der mir sagt, dass ich es nicht darf«. Die totale Provokation also.

Julia: Was fĂŒr ein Arschloch!

Pastora: Und gut, so ging es weiter, mit diesem Herrn, immer wenn ich hinging: Zehn Minuten. Die anderen beiden machten mit mir Zeiten aus. Wenn er mit der anderen Wache dran war, sagte er zu seinen Kollegen: »Ist die immer noch da?« Ich hörte das, er sagte: »Ihr wisst schon, nur zehn Minuten und keine Minute lĂ€nger!«, woraufhin seine Kollegen Angst bekamen, denn der andere war der Vorgesetzte… Und sie hielten ihn gefesselt im Juan Canalejo, ĂŒber sehr lange Zeit, bis irgendwann andere kamen, ich will nicht sagen, dass die besser waren, sie haben einfach ihren Dienst nach Vorschrift getan. Diese anderen Polizisten taten ihren Dienst nach Vorschrift.

Vom Krankenhaus unternahm niemand etwas, wÀhrend dies alles geschah?

Pastora: Vom Krankenhaus niemand. Was sie mit meinem Sohn gemacht haben, ich versuche, es zu verarbeiten, es ist ein Horrorfilm. Ich habe es ihm nicht gesagt, weil ich es vermied, doch ich kam dort weinend heraus, und es gibt Zeugen, ich lĂŒge nicht. Ich habe vier nahestehende Leute, die mich dorthin begleitet haben und die Zeugen all dessen sind, was ich dort erlebt habe. Ich habe einen Schaden davongetragen, es ist die Schuld dieses Herrn. Und ich will es erzĂ€hlen, es ist eigenartig… denn außerdem fingen sie an, ihn stĂ€ndig zu verlegen, vom vierten in den sechsten Stock… Ich fragte die Ärzte, und er war niemandes Patient. TarrĂ­o war niemandes Patient: »Nein, zu mir gehört er nicht, denn er ist nur hier, weil im neunten Stock gerade kein Platz ist.« Am nĂ€chsten Tag ist er im sechsten Stock. Dort dasselbe: »Zu mir gehört er nicht, er gehört zu der Doktorin, die im Urlaub ist.« Über anderthalb Monate wurde TarrĂ­o nicht untersucht. Sie mussten eine Ultraschalluntersuchung machen, denn einer hatte gesagt, es sei eine Thrombose, ein anderer hatte Gehirnschlag diagnostiziert. Ein anderer, dass es FolgeschĂ€den einer alten Verletzung seien. Mein Sohn hat mir sogar gesagt, dass sie ihn mit einem Eisen auf den Kopf geschlagen haben, als er in Santoña war, ein Vollzugsbeamter hatte ihn mit einem Eisen auf den Kopf geschlagen und seit damals, seit Dueso, hatte er starke Kopfschmerzen.

Wie auch immer, es ist eine schwerwiegende Sache, doch die Schalluntersuchung wird nicht gemacht. Das Gehirn steuert den ganzen Körper, bei Gehirnschlag sollten die Untersuchungen schnell gemacht werden. Niemand fĂŒhrte die Untersuchung durch, bis diese Ärztin kam, Frau Dr. Castro, aus dem Urlaub, oder ich weiß nicht woher. Vorher waren fĂŒnf Ärzte dran gewesen, und jeder sagte etwas anderes. Sie kam, und was sie mit meinem Sohn machte, war, ihm Medikamente zu verschreiben. Er tat ihr wohl Leid. Ich hatte ihr auch gesagt, dass sie mir Rechenschaft schulden wĂŒrde. Sie gab ihm Trankimazin, fĂŒr den Hirnschlag, Trankimazin fĂŒr die Nacht und eine Injektion fĂŒr die Durchblutung und fertig. Wenn Du zum Beispiel eine QuerschnittslĂ€hmung hast, schicken sie dich in die Rehabilitation… es war seine Mutter, die ihm das geben musste, denn sie haben niemanden geschickt, wo ich doch die ganze Zeit gefordert habe, dass jemand kommt, dass ein Arzt zu ihm komme, weil er nicht gehen konnte.

Die Ärztin hat mir gesagt, wir mĂŒssten das Krankenhaus wechseln. Doch in das andere Krankenhaus konnte sie ihn nicht schicken, denn mein Sohn gehörte nicht zu seiner Mutter, sondern er gehörte dem GefĂ€ngnis. Ich sagte zu ihr: »Sehen sie nicht, dass er so nicht ins GefĂ€ngnis zurĂŒck kann?« Sie schreibt ihn gesund, und ich sage ihr: »Mein Sohn ist nicht gesund. Mein Sohn kann von Tag zu Tag schlechter gehen. Als er ins Krankenhaus kam, war er schon Invalide, aber er konnte noch die Finger bewegen, doch hier von den Handschellen die ganze Zeit, hört er auf, sich ĂŒberhaupt zu bewegen, nichts mehr, das Bein nicht, ĂŒberhaupt nichts.«

Er ist in seiner Zeit im Krankenhaus mehrfach zusammengebrochen. Einmal im Krankenhaus fand ich ihn ganz schwarz vor, und er sagte mir, es sei, weil er in der Dusche hingefallen war. »Helfen Sie Dir nicht?« – »Nein, Mama, ich habe sogar gegen die TĂŒr getreten, weil ich nicht aufstehen konnte, denn in der Dusche war alles nass und rutschig, ich hatte keine Kraft und fiel wieder hin.« Und dieser Herr, als er die Tritte hörte, immer derselbe Beamte, kam bis dorthin… »Warum trittst Du gegen die TĂŒr?« fragt er. – TarrĂ­o antwortet »Weil ich hingefallen bin, ich kann nicht aufstehen« – und der andere sagt: »Mir ist egal, ob Du aufstehen kannst oder nicht, das ist Dein Problem.« Er schließt die TĂŒr, bis TarrĂ­o sich schleppend aufrichten kann. Das heißt, dieser Herr macht so etwas und, na ja, noch viele andere Sachen. Ein anderes Mal kamen meine Kinder, um meinen Sohn zu sehen und er durchsucht sie mitten auf dem Flur. Einfach weil er der Bruder von XosĂ© TarrĂ­o ist, durchsucht er Óscar, und fordert sein FĂŒhrungszeugnis an, ob er wohl Vorstrafen habe.

Das alles ist schrecklich. So ging das jeden Tag, viel Wut staute sich an, das GefĂŒhl der Ohnmacht. SpĂ€ter waren wir bestĂŒrzt darĂŒber, dass diese Ärztin ihn gesund schrieb. Ich bat sie, das nicht zu tun. (…) Es war ein schwerer Gehirnschlag und obendrein hatte sie sich in der Diagnose vertan, gab ihm nicht die richtigen Medikamente, gab ihm ĂŒberhaupt keine, obwohl er und ich doch darum baten. Und sie schickt ihn zurĂŒck ins GefĂ€ngnis und gibt ihm ein Papier, wonach er zur Rehabilitation ins Sanatorium von Oza soll. Und ich sage zu ihr: »Sehen Sie nicht, dass das GefĂ€ngnis ihn dort nicht hinschicken wird?« Und sie sagt: »Das ist nicht mein Problem.«

Ich hatte mit den Ärzten gesprochen, mit allen, die ihn gesehen hatten – wie konnte ein Doktor, der sich dem Heilen verschrieben hat, zulassen, was sie mit ihm, einem Kranken, unter diesen Bedingungen anstellten, und sie haben mir geantwortet… Ich habe nur einen etwas humanen kennengelernt. Sie haben mir geantwortet, ich mĂŒsse mich darauf beschrĂ€nken, nach der Diagnose zu fragen. Man sagte mir, dies sei das Einzige, was sie mir sagen könnten, fĂŒr alles Weitere seien sie nicht zustĂ€ndig.

Viele Dinge sind passiert – als mein Sohn zum zweiten Mal ins Krankenhaus kam, als dieser Beamte ihn provozierte, es war, als er fragte, ob er lesen und schreiben könne, die Kommentare ĂŒber die Kinder, da bittet mein Sohn, ihn gesund zu schreiben, denn Respektlosigkeit gegenĂŒber seiner Mutter konnte er nicht dulden, er sagte: »Sieh zu, dass Du gut mit meiner Mutter umgehst, denn falls ich eines Tages aufstehe, sehen wir uns von Angesicht zu Angesicht wieder.« Und der Beamte provozierte ihn weiter. Mich schmiss er raus, ohne Kommentar. Er schmiss mich raus, weil er Lust dazu hatte, und mein Sohn sagte: »Ich will gesund geschrieben werden, ich halte es mit diesem Mann nicht aus.« Ihm tat der Kopf weh, und als er das Krankenhaus verließ, ging es ihm schlechter. Dass klar ist, dass er die Gesundschreibung selbst verlangt hat, in Wirklichkeit ging es ihm sehr schlecht, er bat um die Gesundschreibung wegen dieses Herrn, der ihm schon in der Notaufnahme gesagt hatte, dass er, wenn es nach ihm ginge, ihm HĂ€nde und FĂŒĂŸe ans Bett fesseln wĂŒrde und ihm einen Kopfschuss verpassen.

Das hat er gesagt?

Pastora: Ja, ja, das hat er zu meinem Sohn gesagt. FlĂŒsternd, damit es seine Kollegen nicht hören. Und er redete auf alle Krankenschwestern ein, sie sollten seine Mutter nicht beachten. Das haben die Krankenschwestern erzĂ€hlt, und der Ehemann einer Freundin von mir, der im Krankenhaus lag, las das Buch meines Sohnes, und als die Krankenschwester ihn sah, sagte sie: »Oh, XosĂ© TarrĂ­o, wir hatten einen Patienten dieses Namens auf unserer Station, hat der etwa ein Buch geschrieben?« Und er sagte: »Ja, und ich bin mit der Mutter befreundet.« Die Krankenschwester sagte: »Aber der ist sehr gefĂ€hrlich!« – Mein Freund: »Ach was, was wird der gefĂ€hrlich sein, er ist ein guter Junge!« – »Was erzĂ€hlen Sie mir da, der wachhabende Offizier hat uns doch gesagt, er sei ein gefĂ€hrlicher Mörder…« – Alles Mögliche hatte der den Schwestern erzĂ€hlt. Die Krankenschwester bemerkte, ihr sei das ganze schon eigenartig vorgekommen, denn er sei ein so gut erzogener Mensch.

Sie brachten ihn also zurĂŒck ins GefĂ€ngnis, ich hatte die Ärztin gefragt, zu welcher Uhrzeit, damit ich mich von ihm verabschieden konnte. Man versprach mir, bis zwei Uhr nachmittags zu warten, damit ich Zeit fĂŒr ihn hatte. Ich ging um zwölf hin, denn ich kenne das schon, und sie hatten ihn schon fortgebracht. Ich: »Wieso haben sie meinen Sohn schon weggebracht? Hatten Sie mir nicht versprochen, auf mich zu warten?« Und man sagte mir: »Ja, schon, doch der wachhabende Offizier hat angeordnet, dass aus…

Julia: …aus SicherheitsgrĂŒnden…

Pastora: …aus SicherheitsgrĂŒnden die Verlegung um elf stattfinden mĂŒsse.« Mir haben die anwesenden Patienten erzĂ€hlt, dass mein Sohn einen Monat dort verbracht hat, mich haben die Patienten angesprochen, die im Krankenhaus sein Buch gekauft haben, viele Patienten haben das getan… Er bat um einen Rollstuhl, weil er nicht mehr gehen konnte… ein Kollege dieses Offiziers brachte den Rollstuhl, der Offizier ordnete an, der Rollstuhl mĂŒsse wieder weg… Sie machten meinem Sohn alle BĂŒcher kaputt, die er in einer TĂŒte bei sich hatte, mit den HĂ€nden auf dem RĂŒcken gefesselt ließen sie ihn durch das Krankenhaus gehen, mit der vollen BĂŒchertĂŒte in der einen Hand, denn die andere funktionierte nicht mehr, mein Sohn fiel alle paar Meter hin wie Jesus Christus und stand auf, fiel hin und stand auf – und keine helfende Hand. Ich habe gefragt, wie man das zulassen könne, und man sagte mir: »Nicht mein Problem!«

Das ist es, was sie mit meinem Sohn gemacht haben. Sie haben ihn ins GefĂ€ngnis gesteckt, und ich habe zusammen mit Guillermo Presas, dem Anwalt meines Sohnes, alles versucht, und zwei Wochen spĂ€ter haben wir ihn aus dem GefĂ€ngnis herausbekommen. Es ging ihm sehr schlecht! Er rief mich von der Krankenstation aus an und sagte: »Mama, hol mich hier raus, ich sterbe, Du glaubst nicht, wie sie uns hier auf der Krankenstation behandeln.« Es war das erste Mal, dass er dort eingewiesen war. Er sagte: »Mama, meine AIDS-kranken Mitgefangenen in Windeln mĂŒssen sich gegenseitig waschen, niemand hilft uns beim Duschen, sie fallen beim Duschen hin. Es ist schrecklich, Mama, hol mich hier raus denn ich sterbe.« Und ich bekam mit, dass mein Sohn bereits eine schwere Depression hatte, zusĂ€tzlich zu allem, woran er sonst litt. Und als ich ihn aus dem GefĂ€ngnis abholen ging, packten sie eine TĂŒte mit seiner nassen WĂ€sche auf ihn drauf im Rollstuhl und schoben ihn raus, sie ließen ihn zum Sterben raus, er hatte schon seine Stimme verloren, konnte nicht mehr…

Konnte nicht mehr sprechen, nicht wahr?

Pastora: Er konnte nicht mehr sprechen. Er teilte mir in Zeichensprache mit: »Mama, ich möchte schreiben«, doch er konnte nicht schreiben, er konnte nicht mehr, er kriegte es nicht mehr fertig. Es war schrecklich, bis er ins Koma fiel. Immer noch nicht zufrieden, schickte dieses Krankenhaus ihn in ein anderes, nach »Veinte Lago«, ein anderes Krankenhaus zu einer anderen Ärztin, die keine Ahnung von seiner Krankheit hatte, er lag ja schon im Koma… die schickte ihn zurĂŒck ins »Juan Canalejo«.

Kurzum, was sie mit TarrĂ­o gemacht haben, findet Gottes Vergebung nicht. Wie ein StĂŒck Schrott haben sie ihn behandelt. Von »Veinte Lago« nach »Juan Canalejo«, obwohl wir ja Oza beantragt hatten. Ja, als er aus dem GefĂ€ngnis kam, bat ich darum, ihn in Rehabilitation zu schicken, und sagte zu ihm: »Sei unbesorgt, Du wirst wieder gesund«, denn er wollte es. Es stellte sich heraus, dass in Oza kein Platz war und wir einen Monat warten mussten.

Er konnte keinen Monat warten, er konnte nicht warten. Wir zahlten ihm eine Rehabilitation, meine Töchter schickten das Geld, in einer Privatklinik, seine Geschwister zahlten, denn ich konnte nicht, wir zahlten alles, doch die Krankheit war schon sehr weit fortgeschritten. Es kam der Tag seiner zugesagten Rehabilitation, der 13. September, sie untersuchten ihn, um ihn mitzunehmen, sie sagten ab, denn er war fĂŒr eine Untersuchung nicht mehr ansprechbar, er konnte nicht mehr. Sie schickten ihn nach »Veinte Lago«, und von dort aus, wo die Ärztin ja keine Ahnung von seiner Krankheit hatte, wieder nach »Juan Canalejo«, wo sie uns schließlich anboten, ihn zu betĂ€uben.

Damit er in Frieden stirbt?

Pastora: Und wir wollten nicht, denn ich glaubte daran, dass mein Sohn dies ĂŒberstehen wĂŒrde. Noch immer fĂŒhle ich, dass ich den Tod meines Sohnes nicht akzeptiert habe. Ich war die einzige, die glaubte, mein Sohn werde nicht sterben, und die Ärzte sagten mir, er werde. Bis seine Schwester und ich anfingen zu schreien, weil sie sich nicht um ihn kĂŒmmerten, und sie ihn auf die Intensivstation brachten, wo er dann blieb. Vorher schon lag er im Koma, sie machten ihm einen Luftröhrenschnitt, ich glaubte immer noch, mein Sohn wĂŒrde leben, man wies mir eine Psychiaterin zu, von der ich nichts wissen wollte, die Psychiaterin sollte mich auf den Tod meines Sohnes vorbereiten, doch ich ließ das nicht zu, ich sagte ihr, das Leben schulde meinem Sohn noch etwas, und ich glaube das immer noch.

Das ist es, was sie mit TarrĂ­o gemacht haben, sie haben ihn umgebracht. TarrĂ­o starb an keiner Krankheit, am Ende schon, doch… TarrĂ­o starb am GefĂ€ngnis. Denn nein und nochmals nein, TarrĂ­o gehörte nicht ins GefĂ€ngnis und allzu viele andere junge Leute ebensowenig. Sie haben das mit ihm gemacht, einfach weil er ein Buch geschrieben und das System angegriffen hat, und weil er alles zur Anzeige gebracht hat, was sie ihm angetan haben.

Und als seine Mutter fĂ€llt es mir heute schwer, von meinen Sohn zu sprechen. Ich muss es tun, verstehst du…? Und sie haben nicht meinen Sohn umgebracht, sie haben meine Familie getötet, mich und meinen Sohn, denn ich war immer eine positive Person gewesen, die an das Gute geglaubt hat, jetzt glaube ich gar nichts mehr. Ich glaube nichts, denn was ich erlebt und gesehen habe, was sie mit meinem Sohn gemacht haben, Leute, die sich fĂŒr gerecht halten, die die Justiz vertreten, sind nicht gerecht, denn fĂŒr die Armen gibt es keine Gerechtigkeit.

Das GefĂ€ngnis ist einzig fĂŒr die Armen geschaffen, und in der Tat gibt es im GefĂ€ngnis ausschließlich Arme, und nicht einmal, wenn du krank bist… es ging ihm sehr dreckig und bei mir zu Hause taucht die Geheimpolizei auf, die bis dato nie gekommen war. Nie in meinem Leben hatte die Polizei vor der TĂŒr gestanden. Sie kommen herein und ich frage sie: »Wer sind Sie?« – »Die Polizei.« – »Was wollen Sie?« Er sagt: »Ist TarrĂ­o zu Hause?« – »Was um alles in der Welt wollen sie jetzt noch von meinem Sohn? Ist Ihnen nicht klar, wie es ihm geht, was Sie ihm angetan haben?« Da sagt der eine zum anderen: »Lass uns gehen«, und ich sage: »Lassen Sie meinen Sohn in Ruhe, wenn Sie irgendein Problem haben, wenden Sie sich an den Anwalt, doch nicht an meinen Sohn«, und sie gingen durch die TĂŒr hinaus. Ich ließ sie meinen Sohn nicht sehen.

Und dieser Herr, der allen gesagt hat, sie sollten die Mutter nicht beachten… mein Sohn ist jetzt tot. Das ist XosĂ© TarrĂ­o GonzĂĄlez. Mein Sohn ist tot, und bevor er ins Koma fiel, war er verzweifelt, es ging ihm sehr schlecht, er sagte zu mir: »Mama, ich habe dieses Buch geschrieben, um FIES und alles, was sie mit uns machen, publik zu machen«, und ich glaubte, das Buch wĂŒrde eine stĂ€rkere Wirkung haben, als die, die es im Endeffekt haben sollte. Dass die Leute wahrnehmen wĂŒrden, was alles geschieht, und dass es in die HĂ€nde einer…

Julia: …einer höheren AutoritĂ€t, einer…

Pastora: …und dass Maßnahmen ergriffen wĂŒrden. Doch ich sah, dass alles gleich blieb… Ich war sehr enttĂ€uscht deswegen. Ich bedankte mich bei den Leuten in meinem Umfeld, die Leute, die er kennengelernt hatte, waren sehr nette Leute, und fĂŒr diese Leute war es wert gewesen, diesen Kampf gefĂŒhrt zu haben… Ich hatte geglaubt, die Wirkung wĂŒrde stĂ€rker sein.

TarrĂ­o, wie viele andere Gefangene, ist nicht fĂŒr etwas Schwerwiegendes bestraft worden, sondern dafĂŒr, arm geboren zu sein, und das ist die traurige Wahrheit. Und so wie er, viele andere junge Leute seines Alters, wegen einer Dummheit, verstehst du… Obendrein trifft es immer die SchwĂ€chsten.

Julia: Wegen einer jugendlichen Straftat verlieren sie das Leben.

Pastora: FIES, FIES. Ich wollte eine Tochter, eine Enkelin oder am besten gleich die Richter selbst und all die, die FIES erfunden haben, dort drinnen sehen, und ich rede nicht von zwölf Jahren, drei Jahre reichen. Ich wollte, sie wĂŒrden sie alle dort hineinstecken und ausprobieren, was die Einsamkeit anrichtet und was FIES bedeutet, unter denselben Bedingungen natĂŒrlich, die sie den Gefangenen antun. Ich wollte, sie probierten das aus, ich wollte nur einige von ihnen dort drinnen sehen, mal sehen, was sie hinterher ĂŒber FIES denken.

Doch das wird nicht geschehen…

Pastora: …denn FIES, wie dieser Psychologe von der Gerichtsmedizin sagt, der an TarrĂ­os Prozess teilgenommen hat, der der StaatsanwĂ€ltin und der Richterin erklĂ€rt hat, welche massiven SchĂ€den FIES im menschlichen Geist anrichtet, dass er den Geist komplett ausschaltet, wie schrecklich dies ist. FIES ruft Beklemmungen, Ängste und geistigen Verfall hervor. Das alles hat er erklĂ€rt, und sie haben ihm keinerlei Beachtung geschenkt. Die StaatsanwĂ€ltin nahm sich diesen Herrn vor und sagte ihm: »Sind Sie Doktor der Psychologie?« – »Nein, aber ich bin Psychologe der Gerichtsmedizin, ich habe meinen Titel und ich habe den menschlichen Geist studiert, und ich darf zu Hause nicht ein Wort darĂŒber verlieren.«

[Sich der Interviewerin zuwendend:] Das ist, was ich Dir erzĂ€hlen wollte, das GefĂ€ngnis ist keine Lösung. Ich fordere Gerechtigkeit. Gerechtigkeit! Ich werde dies alles publik machen. Ich weiß, ich werde nicht gewinnen.

Julia: Gerechtigkeit fĂŒr die legalen Mörder, nicht wahr?

Pastora: Ich weiß, ich werde nicht gewinnen, doch ich als Mutter, vor allem als Mutter XosĂ© TarrĂ­os, ich fĂŒhle mich als freie Person in der Pflicht, dies alles publik zu machen. Zuerst als Mutter und danach als Person. Denn ich will nicht, dass sie das, was sie mit meinem Sohn gemacht haben, mit anderen Kindern machen. Und man ist mir Rechenschaft darĂŒber schuldig, was sie mit meinem Sohn gemacht haben und mit meiner Familie, denn dies alles haben meine anderen Kinder und ich durchleben mĂŒssen. Es war schrecklich, dies zu erleben. Es war schrecklich.

Und Du bist nach Aachen gekommen, um Gabriel zu unterstĂŒtzen.

Pastora: Ja! Und jede Person, die mich braucht. Wenn wir Armen uns nicht gegenseitig unterstĂŒtzen, weiß ich nicht, was uns bleibt, ich will die Wahrheit herausschreien, wo auch immer. Solange ich lebe, werde ich die Wahrheit herausschreien. Die Wahrheit, ich komme nicht mit LĂŒgen daher, noch habe ich vor, mittels LĂŒgen irgendetwas zu erreichen. Ich fordere Gerechtigkeit, echte Gerechtigkeit, fĂŒr die einen wie fĂŒr die anderen, und dass sie sich nicht weiter an den Jungs auslassen… Der Junge dieser Dame zum Beispiel, ich kenne sein Leben, mein Sohn hat mir von ihm erzĂ€hlt. Ich weiß, dass er niemals Terrorist gewesen ist, dass er außerdem ein Junge mit einem Herzen so groß wie ein Haus ist, dass er fĂŒr seine Rechte kĂ€mpft, wie auch mein Sohn es tat. Was also soll die Scheiße mit dem Terrorismus? Die Terroristen sind sie selbst. Sie tun verschanzt hinter dem Gesetz alles, was sie wollen, und das Volk weiß das nicht. Das Volk weiß es nicht, und das Schlimmste ist, dass wir mit unserem Geld mithelfen, dass dies alles existiert, dass GefĂ€ngnisse gebaut werden. Dass das keine Lösung ist und FIES auch nicht, denn FIES… – Als der Direktor des GefĂ€ngnisses von Teixeiro einen Vortrag hielt, seinen ersten Vortrag, der arme Mann… ich sage der arme Mann, denn die Mutter von TarrĂ­o war bei dem Vortrag anwesend, und er erzĂ€hlte, die GefĂ€ngnisse von Coruña und ganz Spanien seien vorbildlich, es gĂ€be WerkstĂ€tten, SchwimmbĂ€der, kurzum, sie seien regelrechte FĂŒnf-Sterne-Hotels.

Julia: Ein Schwimmbecken ohne Wasser…

Pastora: Das einzige Wasser, was sie hatten, kam vom Regen.

Nur fĂŒr das Foto…

Julia: Keine WerkstÀtten, so etwas gab es nicht.

Pastora: Und als dieser Herr seinen Vortrag gehalten hatte, bat ich um das Wort, und ich sagte: »Zuerst möchte ich mich vorstellen, doch ich werde keine persönliche Sache hieraus machen, ich komme als ReprĂ€sentantin des Kollektivs Nais en Loita, und als solche will ich sprechen. Sie, Herr Carmelo, prĂ€sentieren uns die spanischen GefĂ€ngnisse als FĂŒnf-Sterne-Hotels, in erster Linie das von Teixeiro. In Wirklichkeit sind sie weit entfernt davon, FĂŒnf-Sterne-Hotels zu sein. Sie sagen, es gebe WerkstĂ€tten, WerkstĂ€tten, die nicht geöffnet sind, Schwimmbecken ohne einen Tropfen Wasser…« So habe ich es ihm gesagt: »Wer dort badet, sind wohl Sie selbst, denn kein Gefangener hat mir so etwas berichtet…«

Julia: Mein Sohn war dort…

Pastora: Ich sagte ihm: »ErklĂ€ren Sie uns doch, dass in spanischen GefĂ€ngnissen FIES existiert.« Klar, es war ein Vortrag, Iñaki Rivera und alle nahmen teil, Studenten. Ich sagte: »Sie fragen sich, was FIES ist? FIES, Sonderakte ĂŒber HĂ€ftlinge in Spezialbehandlung, das GefĂ€ngnis innerhalb des GefĂ€ngnisses, ist durch die spanische Verfassung verboten, doch trotzdem hat man es geschaffen, und sie haben FIES geschaffen, ohne dass das Volk, die Gesellschaft, es weiß. Wer sind die StraftĂ€ter, die die drinnen sind oder Sie die so etwas im Geheimen tun?« So fing ich an, ich fing an zu erzĂ€hlen, dass in spanischen GefĂ€ngnissen, vor allem in dem seinen, gefoltert wird, die Gefangenen nackt ausgezogen werden, sie an HĂ€nden und FĂŒĂŸen ans Bett gefesselt werden, sie ihre Notdurft so verrichten mĂŒssen und das dreizehn, vierzehn Tage lang. NatĂŒrlich nahm man mir das Mikrofon weg.

Man nahm es Dir weg?

Pastora: NatĂŒrlich, sie kamen schnell angerannt und nahmen mir das Mikrofon weg. Ich sagte ihnen: »Es ist mir egal, ob Ihr mir das Mikrofon wegnehmt, denn Dank Gottes habe ich eine starke Stimme, man wird mich genauso hören«, und man hörte mich. Sie schmissen mich nicht raus! Und natĂŒrlich, die Studenten… Eine Studentin sagte, sie studiere Jura, aber sie wisse nichts von alldem.

NatĂŒrlich nicht, denn FIES kommt im Gesetz nicht vor.

Pastora: Die Leute wissen es nicht, die Leute haben keine Ahnung, was FIES ist, und dass gefoltert wird und dass all das illegal ist. Und ich sagte: »Ja, all das existiert, und dies sagt euch nicht die Mutter eines Gefangenen, denn wir haben Briefe vieler Gefangener, die unterschrieben sind und die Ihr euch ansehen könnt…«

Und viele Tote.

Pastora: Und viele Tote, klar…

Dein Sohn ist der Letzte auf einer langen Liste…

Pastora: Klar, ich rede von meinem Sohn. Ich bin hier, doch meinen Sohn werden sie mir nicht zurĂŒckgeben, und was ich mache, vertieft meinen Schmerz noch, der Schmerz ist stark, ich komme nicht zur Ruhe…

Julia: Ich habe immer Angst, dass mir dasselbe passiert.

Pastora: Ich komme nicht zur Ruhe, denn wenn ich schlafen gehe, sehe ich immer meinen Sohn vor mir. Das einzige, was ich jetzt von meinem Sohn sehen kann. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn nicht glĂŒcklich, ich sehe ihn nicht wie seine Geschwister, ich sehe ihn eingesperrt, immerzu leidend, und gefesselt, krank und gefesselt, und ich sehe diesen Herrn ihn quĂ€len, ihn immerzu quĂ€len… Es ist schrecklich, ein totales Trauma habe ich… ein Trauma. Ich bin in einen Horrorfilm geraten und noch nicht herausgekommen.

[Julia und Pastora umarmen sich]

Nun bin ich hier, um die Mutter von Gabriel Pombo da Silva zu unterstĂŒtzen, jetzt, denn ich komme aus der Schweiz, wo ich meine Kinder besucht habe, und ich weiß, dass auch sie eine Mutter ist, die kĂ€mpft, und als Mutter muss es ihr sehr schlecht damit gehen, sehr schlecht. Und ich komme, um von FIES zu sprechen, davon, was in den GefĂ€ngnissen passiert, denn das GefĂ€ngnis ist keine Lösung fĂŒr die Probleme. Ich will sie und alle MĂŒtter unterstĂŒtzen. Mein Sohn ist gestorben, doch ich bin hier, und solange ich noch kann und ich noch am Leben bin, werde ich weiter anklagen, reden und VortrĂ€ge halten in dem Rahmen, in dem ich kann. Ich weiß, dass das meinem Sohn gefallen wĂŒrde. Ich habe ihm gesagt: »Du stirbst…« Er starb in meinen Armen, gewaschen und rasiert, von mir, denn seine Mutter ließen sie im Sanatorium von Oza bei ihm, in einem Bett neben ihm. In Bezug auf das Sanatorium von Oza will ich sagen, Eva LĂłpez, die zustĂ€ndige Ärztin, ist eine hervorragende Person, sie kam jeden Tag und sah nach ihm mit viel ZĂ€rtlichkeit, auch mich haben sie gut behandelt, sie waren so nett, mir das Bett aufzustellen, so konnte ich meinen Sohn waschen, rasieren, duschen so gut ich konnte, denn ich wusste, dass ihm gefĂ€llt, dass seine Mutter es tut, also tat ich es, und ihm wĂŒrde gefallen, dass ich mit diesem Kampf weitermache und den anderen helfe.

Bevor er starb, sagte er zu mir: »Weißt Du, Mama…« – ich war emigriert, um meine anderen Kinder voranzubringen, er war zurĂŒckgeblieben und hatte mich aus seiner frĂŒheren Kindheit in Erinnerung, er sagte: »Weißt Du, Mama, ich kannte diese starke Seite von dir nicht.« Ich sagte ihm: »Du hast deine Mutter noch nicht kennengelernt, du weißt noch nicht, wie weit sie gehen kann.« Scherze dieser Art leisteten wir uns.

Und hier bin ich, doch der Kampf… Hier sind seine Mutter und seine Geschwister zurĂŒckgeblieben, um weiter zu kĂ€mpfen und den anderen so gut es geht zu helfen. [Sie kĂŒsst das Foto ihres Sohnes, Julia greift sie am Arm und Pastora wendet sich ihr zu:] Dir viel Kraft! Worum ich bitte ist, wenn jemand dieses Video sieht, die Leute sollen verstehen und dies alles publik machen, denn mein Sohn war dran, der Sohn dieser Dame ist jetzt dran, leider, und er ist sehr stark, doch die GefĂ€ngnisse sind sehr groß, es sind nicht nur unsere Söhne, es gibt sehr viele Söhne, viele Söhne vieler MĂŒtter, und diese MĂŒtter, diese Geschwister, Onkels und Tanten, sie sollen auf die Straße gehen und anklagen, und die Leute draußen ebenso. Heute ist es fĂŒr uns, morgen fĂŒr sie.

Wir sollten solidarisch sein, und als Arme mĂŒssen wir in erster Linie den Armen helfen, denn engagierte Reiche sehe ich sehr wenige, ich behaupte nicht, dass es ĂŒberhaupt keine gebe, doch das ist, was uns bleibt. Und du kommst schnell dorthin! Ins GefĂ€ngnis kann jeder kommen, bis hin zu Unschuldigen.

Und das wĂ€r’s…

[Sich Julia zuwendend:] Und willst Du etwas ĂŒber Deinen Sohn sagen?

Julia: Nein. Ich habe nur Angst, dass ich alles das durchmachen muss, was diese Frau durchgemacht hat. Alles, was ich weiß ist, dass ich soundso viele tausend Kilometer gereist bin, um dort anzukommen und dann 20 Minuten vor einer Glasscheibe zu sitzen. Meistens mit diesen Telefonhörern zum Sprechen, durch die man kaum etwas hört, dafĂŒr also bin ich 2000 oder 2500 Kilometer hin und 2000 Kilometer zurĂŒck gereist, fĂŒr nichts. Manchmal haben sie mich nicht einmal vorgelassen – Dinge in diesem Stil.

Gabriel ist seit 20 Jahren im GefÀngnis?

Julia: Ja. Mit 17 kam er hinein, er war zu 5 Jahren verurteilt und wĂ€hrend dieser 5 Jahre in Teruel konnte ich ihn keinmal umarmen, alles nur durch Glasscheiben. Er schrieb mir Briefe: »Mama, wenn ich einmal als Toter auftauche, so werde nicht ich es gewesen sein, der sich umgebracht hat. Ich werde mich nicht umgebracht haben, sie werden es sein, die mich umbringen.« Du kannst Dir also die Misshandlungen vorstellen, die sie erlitten, er wollte darĂŒber nicht sprechen, er hat nichts gesagt. Ich hatte immer große Angst vor dem, was passieren wĂŒrde, und immer denke ich daran, dass ich von meinem Sohn als Mutter kaum etwas hatte, denn er war noch ein Kind mit 17 Jahren… und die Misshandlungen… Es ist nicht, dass wir einverstanden wĂ€ren mit den Straftaten und all dem, doch Misshandlungen, nein! Es gibt keinen Grund, sie zu misshandeln. Sie verbĂŒĂŸen ihre Strafe oder was auch immer vor der Justiz und fertig. Es gibt keinen Grund, sie zu verprĂŒgeln, zu misshandeln.

Oder zu töten…

Julia: Oder zu töten, dies noch weniger – niemand hat das Recht, jemandem das Leben zu nehmen, also…

Pastora: Und die Straftat? Was fĂŒr eine Straftat?

Julia: Dummheiten, nichts als kindische Dummheiten, die sie vielleicht in ein Heim bringen sollten…

Pastora: Das ist auch keine Lösung.

Julia: Auch das ist keine Lösung. Es gibt Psychologen, man könnte sie auf andere Art und Weise umerziehen, man könnte sie zum Beispiel ein Handwerk lehren, was man ja nicht macht. Es gibt vieles, was sie tun könnten, aber nicht machen. Und in Spanien werden neue GefĂ€ngnisse gebaut, wofĂŒr? Warum bauen sie keine Orte, wo sie jungen Leuten etwas beibringen könnten, sie halten eine Menge junger Leute im GefĂ€ngnis, wozu? Das GefĂ€ngnis lehrt doch niemandem etwas.

Pastora: Ins GefÀngnis stecken sie alles, was stört, das ist klar.

Um es zu verstecken?

Pastora: Na klar, alles was stört, stecken sie dort hinein. So war es schon immer.

Julia: Alle MĂŒtter, nicht nur ich, können seit Jahren nicht schlafen, weil wir Kinder haben, die dort drinnen gefangen sind. Was jetzt und hier passiert ist, war ein Schreck, denn sie hatten falsche Papiere…

Du sprichst von der Festnahme von Gabriel, José, Bart und Begoña?

Julia: Sie bauen hier in Aachen ein TheaterstĂŒck auf, wonach es aussieht, als hĂ€tten sie eine Menge Leute umgebracht.

Was denkst du darĂŒber, wie sie deinen Sohn vorfĂŒhren?

Julia: Nun ja, in Spanien sind es Misshandlungen, hier ist es eher psychisch. Mein Sohn erscheint vor Gericht in Unterhosen, weil sie ihn festbinden, sie ihm den Kopf verdecken, damit er nichts sehen kann, er protestiert gegen die Bedingungen seiner VorfĂŒhrungen vor Gericht. Heute habe ich die Autos gesehen, man könnte meinen, ein PrĂ€sident kĂ€me dort vorgefahren. Die ganze Straße gesperrt, damit man nicht… ich habe ihn nicht gesehen. Sie sperren den ganzen Verkehr ab, damit zwei Autos fĂŒr die Gefangenen vorfahren können, wo hat man das gesehen? Einer in Unterhosen, wo hat man Vergleichbares gesehen? Ich jedenfalls kann das nicht sehen, mir geht es schlecht dabei… Ich mache das so, ich behalte alles fĂŒr mich, weißt Du? Und diese Frau [sich auf Pastora beziehend] hat viel durchgemacht, denn…

Pastora: Nein, ich habe mehr oder weniger erlebt, was du erlebst, denn die Geschichte deines Sohnes ist dieselbe. VĂ€ter, die versagt haben, MĂŒtter, die arbeiten gehen mussten, um das Brot zu verdienen. Das Schlimmste ist, dass statt der VĂ€ter die Söhne im GefĂ€ngnis sitzen, das ist das Traurigste an der Geschichte. Denn einen Vater sollte man zwingen, fĂŒr seinen Sohn aufzukommen, verstehst du?

Julia: Genau das ist es. Das ist die Geschichte, wir mussten aus unserem Land auswandern, damit es unseren Kindern an nichts fehlt.

Pastora: Und Folter in Spanien. Es geht auch um psychische Folter. FIES ist schrecklich. Psychisch. Aber es geht um mehr als FIES… Die Leute mĂŒssen mitbekommen, dass FIES existiert und was FIES ist. Sie machen es heimlich, ohne gesetzliche Erlaubnis. FIES muss verschwinden.

Julia: Ja, die guten Sachen schauen sie sich nie ab. Sie haben es sich von den Deutschen abgeguckt, ich meine, die schlechten Sachen ĂŒbernehmen sie, die guten nicht. Wenn sie schon alles imitieren wollen, sollen sie doch die guten Sachen aus Deutschland nehmen. Die Spanier haben es ĂŒbernommen und so sieht’s aus.

Pastora: Das sind hinterhÀltige Leute, mit verdrehtem Charakter. Dass wir diese Leute gewÀhlt haben, ist das Traurigste im Leben.

Julia: Ja, du sagst irgendwann: Ich gehe nicht mehr wÀhlen, denn sonst tun sie meinem Sohn noch mehr an. Das ist, was du denkst: Nein, ich gehe nicht wÀhlen.

Pastora: Ich gebe ihnen die Schuld, ich gebe den Medien die Schuld…

Julia: …auch denen.

Pastora: Sie helfen nicht, das Einzige, was sie machen, ist alles noch zu verschlimmern. Statt sich an das Wort einiger Freunde zu halten, die die betreffende Person kennen, halten sie sich an das Wort von denen… Was ich ihnen versuche zu sagen: Glauben Sie auch nicht mir, fragen Sie die Leute, die ihn gut kennen und die er kennt, fragen sie seine Freunde.

Julia: Ja, ich sehe, dass Gabriel ein goldenes Herz hat, er ist ein sehr zĂ€rtlicher Junge, er sorgt sich viel um die Familie, um die Leute, seine Freunde, also… Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

Pastora: Mein Sohn litt viel, er sagte: »Warum haben einige alles und andere nichts?« Doch es ging ihm nicht um sich selbst, er hat mir vieles erzĂ€hlt und ihr könnt es in seinem Buch nachlesen, das er viel mit mir besprochen hat. Es waren die GesprĂ€che, die wir hatten, wenn ich ihn besuchen ging, und er sagte: »Mama, merkst Du, dass sie uns hier reinstecken und als Gute auftreten, wĂ€hrend sie doch die Waffen erfinden, um Menschen zu töten, dass sie die großen Mörder sind? Wenn sie zulassen, dass Kinder vor Hunger sterben und nichts investieren…« Mein Sohn litt an all diesen Dingen. Ich habe es in unseren GesprĂ€chen gehört, wir haben es millionenfach besprochen. Mein Sohn litt viel unter diesen Dingen, das ist nicht normal. Und die anderen stellen sich als die Guten dar. Er also klagte an, was sie alles mit ihnen machten, und warum: Einfach weil sie arm waren, wurden sie bestraft, und so ist es, auch ich habe es erkannt.

Und als mein Sohn im Krankenhaus lag, ging ich zum Strafvollstreckungsrichter, damit man mir Einlass gewĂ€hrt, und man sagte mir, der Richter befinde sich im Urlaub, und ich sagte: »Aber es muss doch einen Vertreter geben«, und man sagte mir: Nein, es sei nur der fĂŒr MinderjĂ€hrige da und der sei nicht zustĂ€ndig. Wo hat man gesehen, dass es keinen Strafvollstreckungsrichter fĂŒr Erwachsene gibt? Du fĂŒhlst Dich ohnmĂ€chtig, denn du hast keinen verdammten Cent um dir einen…

Julia: …einen guten Anwalt zu leisten… einen guten Anwalt, der die Dinge in Bewegung setzen kann…

Pastora: Verstehst Du? Sie werden dafĂŒr bestraft, arm zu sein und ihre Familien auch, die Familien genau so, denn wenn du deine Kinder besuchen willst, musst du Vieles ertragen. Wenn du eine PlastiktĂŒte mit hineinnehmen willst, bringst du die PlastiktĂŒte mit, und sie gilt nicht, denn es muss eine Tasche mit Reißverschluss sein. Du kaufst dir eine Tasche mit Reißverschluss, das, nachdem du das Taxi bezahlt hast, gehst mit der Tasche mit Reißverschluss das nĂ€chste Mal hin und die Tasche mit Reißverschluss gilt nicht mehr, sie wollen eine PlastiktĂŒte. So ging das jahrelang. Sie haben meinen Sohn nach Teneriffa geschafft, nach Salamanca, in alle Ecken Spaniens. Ich erinnere mich, einmal ging ich ihn besuchen nach Villanubla, nein, Villanubla nicht… es heißt anders, ich kann mich nie…

Villabona?

Pastora: Villabona. Dieses GefĂ€ngnis hat mich schwer beeindruckt. Ein Vater, weinend in der Cafeteria. Wir sprachen ihn an, die Dame, die in der Cafeteria bediente, fragte ihn, was mit ihm los sei. Er sagte: »Was soll schon los sein. Ich bin Seemann, habe fĂŒnf Kinder, bin zwei Tage an Land, verdiene 600 Euro, habe 180 fĂŒr das Taxi ausgegeben, um meinem Sohn ein paar Turnschuhe und ein Hemd zu bringen. Sie haben mich weder meinen Sohn sehen lassen noch das Paket angenommen.« Und jener Vater weinte. Die Dame sagte zu ihm: »Oh Mann, das haben sie Ihnen angetan? Geben Sie her, lassen Sie wenigstens das Paket hier, es kommen zwei Schließer hierher, mal sehen, ob ich es denen geben kann und ob sie es hineinbringen können.« Das habe ich auch erlebt: Sie spielen sogar mit den GefĂŒhlen der Familien, mit den GefĂŒhlen der Familien. Was meinen Sohn angeht, ich will klarstellen, dass er am GefĂ€ngnis gestorben ist und sie ihn umgebracht haben. FĂŒr mich sind sie alle schuldig. [KĂŒsst das Foto von XosĂ©.] Entschuldige, Julia, ich habe Dich unterbrochen.

Julia: Ist egal… ich kann nichts mehr sagen, es geht mir schlecht.

Ich weiß nicht, wie ich dieses Interview beenden soll, ich glaube es ist Zeit, es abzubrechen, denn wir drei stehen kurz davor, zu weinen. Ich glaube, es ist besser, wir lassen es.

[1] J.J. Garfia: AdiĂłs PrisiĂłn. El relato de las fugas mĂĄs espectaculares, Txalaparta 1995- 2004, ISBN 8481360066

[2] P. Zamoro DurĂĄn: A ambos lados del muro, Txalaparta 2005, ISBN 8481363073, dt. Fassg. i. Vorb.

[3] A. Valera Hidalgo: Volando a la cĂĄrcel, TĂ ndem 2005, ISBN 8481315389

[4] 1. Grad: Sonderbedingungen im geschlossenen Vollzug, 2. Grad: geschlossener Normalvollzug, 3. Grad: Offener Vollzug

[5] Grupos de Resistencia Antifascista Primero de Octubre. Seit 1975 aktive, maoistisch inspirierte mit dem PCE(r) zusammenhÀngende bewaffnete Organisation

[6] Reformatorio Especial de Tratamiento y OrientaciĂłn, staatliches Erziehungsheim

[7] Grupo especial de operaciones (SondereinsatzkrÀfte der Guardia Civil)

[8] Versch. Haftbedingungen im geschlossenen Vollzug (régimen cerrado, primer grado). Erleichterungen werden zugestanden, indem der Gefangene in die nÀchste sog. Phase aufsteigt, vgl. S. 24.

[9] vis-a-vis-Besuchstermine finden in einem gesonderten Raum ohne Trennung durch eine Scheibe statt.

[10] Besonders geschĂŒtzte Gefangene

[11] Einkaufsladen fĂŒr Gefangene auf AnstaltsgelĂ€nde

[12] Unidades Especiales de IntervenciĂłn (Sondereinsatzkommando) der Guardia Civil

[13] Staatliche Ansprechperson fĂŒr BĂŒrger, sog. Ombudsperson

[14] 5.000 Peseten ≈ 30 €.

[15] Asociación de Presos en Régimen Especial (Verein der Gefangenen unter Sonderbedingungen)

[16] Euskadi ta Askatasuna: Baskenland und Freiheit

[17] Im Spanischen wird von presos políticos bzw. comunes oder sociales (»allgemeine«, soziale) gesprochen.

[18] T4-Helferzellen des Immunsystems (Anm.i.Orig.)

[19] Spezialeinheiten der PolicĂ­a Nacional

[20] 100 Pts ≈ 0,6 €

[21] Wortspiel mit apologĂ­a del terrorismo (wörtl. ‘Lobrede auf den Terrorismus’, unter Freiheitsstrafe gestelltes Delikt)

[22] Galego, Galizisch

[23] Tradition: PĂŒnktlich zum Jahreswechsel werden zwölf Trauben gegessen

[24] Ley OrgĂĄnica General Penitenciaria, Strafvollzugsgesetz

[25] Real Decreto Régimen Penitenciario, Strafvollzugsverordnung

[26] Wörtl. ‘Behandlungsteams’

[27] Am 23. Februar 1981 unternahmen Teile von MilitÀr und Guardia Civil unter dem Kommando von Oberstleutnant Antonio Tejero einen Staatsstreich.

[28] Grupos Antiterroristas de LiberaciĂłn. Verdeckt handelnde Todesschwadron, die in den 80er Jahren 27 Morde an mutmaßlichen Mitgliedern von ETA verĂŒbte. Innenminister Barrionuevo, ein PSOE-ParteisekretĂ€r und hohe Beamte und MilitĂ€rs wurden schließlich wegen ihrer Verstrickung in die Angelegenheit verurteilt.

[29] 1990 wurden drei Polizisten vor Gericht fĂŒr schuldig befunden, den Juwelendieb Santiago Corella alias El Nani im Jahr 1984 verschwinden lassen zu haben (»desapariciĂłn forzada«). Zeugen wollen die Leiche unter Kalk begraben gesehen haben.

[30] GrĂŒnder der stoischen Philosophenschule, Athen 3. Jhd. v.u.Z.

[31] Sozialdemokratische Regierungspartei unter MinisterprÀsident Felipe Gonzålez

[32] 3 Mio. Peseten≈18.000 €

[33] Baskische linksnationalistische Tageszeitung, 1998 verboten.

[34] Coordinadora de Presos en Lucha (Arbeitsgemeinschaft kÀmpfender Gefangener)

[35] A. Rekalde Goikoetxea: Herrera, PrisiĂłn de Guerra, Txalaparta 1990, ISBN 848659720X

[36] Mehrheitlich postkommunistisches ParteienbĂŒndnis

[37] 1990 im Dorf Puerto Hurraco (Badajoz) stattgefundener mehrfacher Mord der BrĂŒder Izquierdo an einem verhassten Familienclan.

[38] Unter diesem Namen ist der Fall dreier in Kantabrien ansĂ€ssiger MĂ€nner bekannt, die 1981 von der Guardia Civil auf ihrer Autofahrt zu einer Erstkommunionsfeier in AlmerĂ­a festgenommen und zu Tode gefoltert wurden. Man hatte sie irrtĂŒmlicherweise fĂŒr Mitglieder von ETA gehalten.

[39] S. Anm. 26

[40] S. Anm. 25

[41] orig. prisiĂłn bzw. centro penitenciario

[42] orig. carcelero bzw. funcionario

[43] ca. 120.000 €

[44] Anspielung auf die »fondos reservados«: In den 90er Jahren nach und nach aufgedeckte illegale Finanzierung staatsterroristischer Seilschaften wie GAL. Prominentester fĂŒr schuldig Befundener wurde Luis RoldĂĄn, erster ziviler Oberkommandeur der Guardia Civil und PSOE- FunktionĂ€r, der 1995 in Bangkok verhaftet wurde und in Spanien eine Haftstrafe antrat.

[45] In dem SchriftstĂŒck, das im Anhang zur 1.-3. Auflage der spanischsprachigen Version des vorliegenden Buches (Barcelona: Virus 1997-2002) vollstĂ€ndig dokumentiert ist, sind alle der Staatsanwaltschaft vorliegenden Aussagen und Indizien aufgelistet.

[46] dt. ‘Stinktier’

[47] Revueltas Irmandiñas: BauernaufstÀnde gegen die feudale Oligarchie im Galizien des 15. Jhdt.

[48] Exército Guerrilheiro do Povo Galego Ceive (EGPGC, Guerrilla des freien galizischen Volkes), von 1986 bis 1993 aktive bewaffnete Organisation zur Errichtung einer Sowjetrepublik Galizien.

[49] Dolores IbĂĄrruri GĂłmez, genannt La Pasionaria, und Santiago Carrillo Solares

[50] Blau: Farbe des Franquismus (‘Blauhemden’)

[51] Gesellschaft fĂŒr Menschenrechte

[52] Vgl. Anm. 10

[53] Professor fĂŒr Strafvollzugsrecht, Barcelona




Quelle: Anarchistischebibliothek.org