Mai 13, 2022
Von InfoRiot
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Frankfurt (Oder) – In Frankfurt (Oder) demonstrieren geflĂŒchtete und deutsche Aktivisten gegen Europas Grenzregime und rassistische Doppelstandards.

Vier Jah­re Unsi­cher­heit lie­gen schon hin­ter Kameni. Vier Jah­re ohne Zuhau­se, ohne kla­re Per­spek­ti­ve. Der 32-jĂ€h­ri­ge Kame­ru­ner spricht lei­se, macht lan­ge Pau­sen, um die rich­ti­gen Wor­te auf Fran­zö­sisch zu fin­den. 2018 sei er in die TĂŒr­kei geflo­hen, ein Jahr habe er im berĂŒch­tig­ten Lager Moria auf der grie­chi­schen Insel Les­bos ver­bracht, so erzĂ€hlt er es »nd«. Vor zwei Jah­ren dann die Ankun­ft in Ber­lin, Asyl­ver­fah­ren und Unter­brin­gung in ein­er Sam­mel­un­ter­kunft in Hal­ber­stadt, Sach­sen-Anhalt. Es folg­ten mona­te­lan­ge Mas­sen­qua­ran­tÀ­ne, die Ableh­nung des Asyl­an­trags, schließ­lich die Dul­dung und Angst vor Abschie­bung. »Manch­mal willst du ein­fach auf­ge­ben«, sagt Kameni.

Am Sams­tag fĂ€hrt er zusam­men mit einem Fre­und aus der Ber­li­ner Initia­ti­ve »No Bor­der Assem­bly« nach Frank­furt (Oder), um dort gegen die deut­sche und euro­pĂ€i­sche Migra­ti­ons­po­li­tik zu pro­tes­tie­ren. »Fight Fort­ress Euro­pe« heißt die Demons­tra­ti­on, »BekĂ€mp­fe die Fes­tung Euro­pa«, und im Unter­ti­tel: »Soli­da­ri­tĂ€t mit allen GeflĂŒch­te­ten an den EU-Außengrenzen«.

Nad­ja Mar­tin spricht unter Pseud­onym fĂŒr das Demo-BĂŒnd­­nis. Sie erin­nert sich an die ers­ten Tref­fen vor drei Mona­ten. Anti­ras­sis­ti­sche Aktivist*innen von der See­brĂŒÂ­cke Jena und Pots­dam sowie der Grup­pen »No Bor­der Assem­bly« und »Bor­der­line Euro­pe« hĂ€t­ten sich ange­sichts der kata­stro­pha­len Lage an der pol­nisch-bela­rus­si­schen Gren­ze zusam­men­ge­tan, um eine Ver­an­stal­tung gegen das euro­pĂ€i­sche Grenz­re­gime zu pla­nen. »Die Fes­tung Euro­pa zeigt sich seit Okto­ber 2021 sehr offen­sicht­lich: Es wur­de eine Grenz­mau­er durch den BiaƂo­wieĆŒa-Natio­­nal­­park gezo­gen, GeflĂŒch­te­te, unter ande­rem aus dem Irak, Syri­en und Afgha­ni­stan, wur­den völ­ker­rechts­wid­rig vom GrenzÂ­ĂŒber­tritt abge­hal­ten und mit Push­backs zurĂŒck­ge­drĂ€ngt«, sagt sie zu »nd«. Gera­de weil sich die Öffent­lich­keit an mör­de­ri­sche Gren­zen gewöh­nt habe, woll­te das BĂŒnd­nis mit ein­er bun­des­wei­ten Mobi­li­sie­rung aufrĂŒtteln.

Dann kam der 24. Febru­ar, Kriegs­be­ginn in der Ukrai­ne. WĂ€h­rend Men­schen in den SĂŒmp­fen zwi­schen Weiß­russ­land und Polen wei­ter­hin hun­ger­ten und star­ben, ging eine Wel­le der Soli­da­ri­tĂ€t durch Deutsch­land – aller­dings nur fĂŒr die »rich­ti­gen« FlĂŒcht­lin­ge. »Die­se Gleich­zei­tig­keit zeigt noch mal deut­li­cher den Ras­sis­mus und die selek­ti­ve Soli­da­ri­tĂ€t an den EU-Außen­­gren­zen«, sagt Mar­tin. Plötz­lich habe die EU die Mas­sen­zu­strom-Richt­li­nie aus der Tasche gezo­gen – ein Gesetz, das schon seit 2001 die Mög­lich­keit bie­tet, bei gro­ßen Flucht­be­we­gun­gen Auf­­nah­me- und Auf­ent­halts­be­stim­mun­gen zu ent­bĂŒÂ­ro­kra­ti­sie­ren. Die Ein­schrĂ€n­kun­gen, die den Behör­den­lauf durchs Asyl­ver­fah­ren nor­ma­ler­wei­se beglei­ten, fie­len so weg. Eine Erleich­te­rung, die auch schon 2015 mög­lich gewe­sen wĂ€re, hĂ€t­te man die Richt­li­nie ange­wandt. FĂŒr Mar­tin ist die Demo am Sams­tag im neu­en welt­po­li­ti­schen Kon­text des­halb nicht weni­ger rele­vant gewor­den. Mit »Fes­tung Euro­pa« sei­en schließ­lich nicht nur die Außen­gren­zen gemeint, son­dern auch struk­tu­rel­le Gren­zen, die bei­spiels­wei­se das Recht zu gehen und zu blei­ben abhĂ€n­gig von Pass oder Haut­far­be verteilten.

Hen­ri­ke Koch, Spre­che­rin des FlĂŒcht­lings­ra­tes Bran­den­burg, beob­ach­tet eben­falls eine »gro­ße Ungleich­be­hand­lung« von GeflĂŒch­te­ten aus der Ukrai­ne und ande­ren Men­schen mit Flucht­hin­ter­grund. Da ist das The­ma Woh­nen: Vie­le Asyl­su­chen­de und Per­so­nen mit Dul­dung sei­en manch­mal ĂŒber Jah­re gezwun­gen, in Lagern zu leben. »GeflĂŒch­te­te, die aus der Ukrai­ne ankom­men, wer­den zwar zum Teil auch ver­teilt. Aber wer eine pri­va­te Unter­kunft fin­det, kann da hin­ge­hen«, so Koch zu »nd«. Bran­den­burgs Sozi­al­mi­nis­te­rin Ursu­la Non­ne­ma­cher (GrĂŒÂ­ne) kĂŒn­dig­te Anfang Mai Pau­scha­len von bis zu 7000 Euro an, um pri­va­te Wohn­ge­le­gen­hei­ten zu finan­zie­ren. 82 Pro­zent der ukrai­ni­schen GeflĂŒch­te­ten sei­en laut Minis­te­rin pri­vat untergebracht.

Dass selbst­be­stimm­tes Woh­nen nun bestimm­ten Neu­an­kömm­lin­gen ermög­licht wird, muss fĂŒr poli­ti­sche Ver­bĂ€n­de wie den FlĂŒcht­lings­rat zynisch klin­gen. Seit Jah­ren macht die Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­ti­on auf men­schen­un­wĂŒr­di­ge Lebens­be­din­gun­gen in Sam­mel­un­ter­kĂŒnf­ten auf­merk­sam. »Das sind gewalt­vol­le Orte, die auf Kon­trol­le und Ent­mĂŒn­di­gung aus­ge­legt sind«, sagt Hen­ri­ke Koch. »Es gibt Ein­­gangs- und Zim­mer­kon­trol­len, kei­nen Schutz fĂŒr Frau­en und quee­re Men­schen, Über­grif­fe durch Secu­ri­­ty-Per­­so­­nal und lei­der auch von außen.« In Bran­den­burg kĂ€me hin­zu, dass die vier Erst­auf­nah­me­zen­tren in ehe­ma­li­gen Kaser­nen lĂ€gen, meist schlecht ange­bun­den und ab vom Schuss – eine Iso­la­ti­on, die rĂ€um­lich wie gesell­schaft­lich wirke.

Auch die Fra­ge, wer arbei­ten darf, teilt GeflĂŒch­te­te in zwei Klas­sen: Bun­des­weit sol­len Ukrainer*innen ab Tag eins arbei­ten dĂŒr­fen, wĂ€h­rend Asyl­su­chen­de, die in Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen unter­ge­bracht wer­den, sowie vie­le Men­schen mit Dul­dung zum Teil ĂŒber Jah­re einem BeschĂ€f­ti­gungs­ver­bot unter­lie­gen. Und schließ­lich sei auch das Geld ungle­ich ver­teilt, so Koch: WĂ€h­rend Asylbewerber*innen Leis­tun­gen unter­halb des Exis­tenz­mi­ni­mums erhiel­ten, könn­ten aus der Ukrai­ne geflo­he­ne Men­schen vor­aus­sicht­lich ab Juni regu­lÀ­re Sozi­al­gel­der bezie­hen. Auch hier­bei sieht Koch »eine ganz offen­sicht­li­che Dis­kri­mi­nie­rung«. Und for­dert: »Das Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz muss end­lich fĂŒr alle abge­schafft werden.«

Kameni sieht den dop­pel­ten Stan­dard, und es frus­triert ihn. NatĂŒr­lich fĂ€n­de er es wich­tig, dass Deutsch­land soli­da­risch mit der Ukrai­ne sei, doch: »Wir sind auch Men­schen. Ich brau­che einen Ort zum Schla­fen, wo ich nicht kon­stant gestresst bin. Ich möch­te Leu­te ken­nen­ler­nen, mich inte­grie­ren, eine Aus­bil­dung machen.« Das alles geht nicht, weil er mit dem Sta­tus ein­er Dul­dung wed­er sei­nen Wohn­ort frei wĂ€h­len noch regu­lĂ€r mie­ten oder sich Arbeit suchen kann. »Ich bin hier ange­kom­men mit Hof­fung, aber ich sto­ße nur auf Schwie­rig­kei­ten.« Mitt­ler­wei­le woh­ne er zwar in Ber­lin, die »No Bor­der Assem­bly« hel­fe ihm dabei, eine Unter­mie­te zu bezah­len. Offi­zi­ell sei er aber wei­ter­hin in Hal­ber­stadt gemeldet.

Besu­che von Demons­tra­tio­nen und poli­ti­sche Aktio­nen geben ihm zumin­dest das GefĂŒhl, nicht allein zu sein, erzĂ€hlt Kameni. »Das gibt mir wie­der Kraft und macht mich stolz.« Bei der Demo am Sams­tag in Frank­furt (Oder) möch­te er laut sein, gemein­sam mit den ande­ren GeflĂŒch­te­ten, die aus Ber­lin und aus bran­den­bur­gi­schen, thĂŒÂ­rin­gi­schen und sĂ€ch­si­schen Lagern anrei­sen wol­len: »Unse­re Stim­men sol­len end­lich gehört werden.«




Quelle: Inforiot.de